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Nach der Amokfahrt: Was die Tat mit uns Menschen in Münster machte

Wir lieben unsere Stadt. Und plötzlich löst der Ort, mit dem ich nur Positives verbunden habe, eine Unsicherheit aus, die ich nie zuvor verspürt habe.
Foto: imago | Chris Emil Janßen

Münster ist eine idyllische Universitätsstadt, Ort des Westfälischen Friedens und Heimat von Tausenden Fahrradfahrern. Alles hat hier seinen eigenen Flow. Vergangene Woche Samstag, zwei Tage vor Beginn des Sommersemesters, hat man als Student in Münster kaum etwas anderes zu tun gehabt als folgende drei Dinge: die Sonne genießen, am Aasee grillen und in der Altstadt Eis essen. Doch leider, und das dürfte mittlerweile allen Leuten bewusst sein, verlief der Samstagnachmittag nicht so ganz wie geplant.

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Mich erreichte die Nachricht von dem Unglück am Kiepenkerl, einer Gaststätte in der Innenstadt unterhalb des Prinzipalmarktes, gegen viertel vor fünf. "Fahrzeug fährt in Menschenmenge – Tote und Verletzte", lese ich auf dem Handy. Meine Freundin schreibt mir: "Die gehen alle von einem Anschlag aus. Aber über den Täter ist noch nichts bekannt." In der WhatsApp-Gruppe mit meinen Arbeitskollegen heißt es: "Ich bin sicher zu Hause – und ihr?" Innerhalb einer halben Stunde schreiben mir mehrere Leute: "Geht es dir gut?", "Bist du in Sicherheit?", "Alles in Ordnung?" Ich wohne zehn Fahrradminuten von dem Ort entfernt, an dem das Unglück passiert ist. Ich sitze in meiner Wohnung, bin zwar in Sicherheit – aber in Ordnung ist irgendwie nichts mehr.

Münster, das ist für mich ein Ort voller Lebensfreude. Eine Facebook-Seite mit knapp 65.000 Abonnenten nennt sich Münster for life – MS4L. Das ist das Motto aller Einwohner und vor allem der Studenten – Münster ist nicht nur die Stadt, in der wir wohnen, Münster ist ein Gefühl, eine Einstellung, ein Lifestyle. Ich denke daran, dass ich vor einer Woche die Straße am Kiepenkerl entlangspaziert bin. Ich denke daran, wie oft ich dort mit dem Fahrrad vorbeigefahren bin.

Was macht so ein Geschehen mit den Menschen? Wir hören täglich von Anschlägen in anderen Ländern. Aber erst diese Tat, dieses Unglück, hat in mir eine Angst ausgelöst, nicht mehr sicher zu sein. Der Ort, der für mich nur mit Positivem verbunden ist, löst in mir eine Unsicherheit aus, die ich noch nie verspürt habe. Und so geht es vielen in meinem Umfeld beim Anblick der Bilder von Samstag.

Ich lese all die Kommentare im Internet – eigentlich lassen mich solche Dinge relativ unberührt, doch ich fühle mich verletzt. Die Leute spekulieren über das Geschehen, als würde es sie nicht tangieren – mich aber trifft es mitten ins Herz.

Und doch wäre Münster nicht der Ort, den ich zu Beginn angepriesen habe, wenn es nicht auch anders ginge. Abends sehe ich bei Jodel Bilder von Kerzen, die die Leute am Aasee angezündet haben. Dort, wo sich einige Stunden vorher noch fröhliche Menschen gesonnt haben, ist nun ein Ort der Trauer und des Mitgefühls für die Opfer. Aber es ist eine Geste, die uns als Stadt irgendwie Hoffnung spendet. Wir sind geschockt, aber wir nutzen die Handlungsmöglichkeiten, die uns bleiben. Das Uniklinikum ruft zu Blutspenden auf und über 300 Spender folgen der Nachricht. Am Unglücksort selbst gibt es zahlreiche Helfer, nicht nur Rettungssanitäter und Polizisten, sondern auch Menschen, die Wasser für die Anwesenden vorbeibringen. Die Opfer werden nicht allein gelassen. Und auch wenn es von inner- und außerhalb Münsters zahlreiche Spekulationen und Vermutungen über den Tathergang gibt, dominiert in diese Stunden, diesen Tagen in der Stadt selbst ein anderes Gefühl: Wir helfen uns, versuchen, positiv zu denken, so gut das in so einer Situation eben geht. Jemand schreibt auf Jodel: "Wir sollten uns nicht unterkriegen lassen. Morgen sieht die Welt wieder anders aus." Und das stimmt. Am Sonntag finden sich noch viel mehr Menschen am Aasee zusammen und sitzen gemeinsam auf der Wiese. Überall stehen Fahrräder – typisch für Münster eben.

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