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4 Monate, 60 Porträts: Eine Zürcherin zeigt, welche Menschen Rom ausmachen

Auch ohne Kulturschock fielen Lea Romana Fischlin überraschend grosse Unterschiede zwischen der Schweiz und Italien auf.
Alle Fotos von Lea Romana Fischlin

Für die meisten von uns ist es nichts Aussergewöhnliches, ein paar Tage in eine Grossstadt zu reisen. Wir wohnen im Hotel und müssen uns um nichts kümmern, ausser darum, wie wir unsere frischen Banknoten ausgeben: Sightseeing, Restaurantbesuche, überfüllte Einkaufsstrassen. Ganz anders sieht es aus, wenn man sich dazu entscheidet, mehrere Monate in eine neue Stadt zu ziehen. Befindet sich diese Stadt zusätzlich im fremdsprachigen Ausland, wird der Alltag schnell zu einer Herausforderung. Das hat auch die Zürcher Grafikerin Lea Romana Fischlin erlebt, als sie zwischen Frühjahr und Sommer 2017 in Rom lebte.

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Nach Rom ist Lea aber nicht etwa wegen des Kolosseum oder der Sehnsucht nach richtiger Pizza gegangen. Sie hat sich in dieses Abenteuer geschmissen, um mit Menschen zu sprechen, Fotos zu machen und Italien ein wenig besser zu verstehen. In die Schweiz zurückgebracht hat sie neben Bildern auch eine Menge an Erfahrungen. Beides zusammen hat sie in eine Fotoarbeit verpackt, die sich mit Identitätsfragen, Generationenunterschieden und dem Glauben in der Hauptstadt des Christentums auseinandersetzt.

Wir haben mit Lea über ihre Zeit in Rom gesprochen – und auch darüber, was sie in dieser über die Schweiz gelernt hat.

Mara, 18 Jahre alt, Studentin. Fünf Monate in Rom

VICE: Also Lea, warum gerade ein Projekt über Rom?
Lea Romana Fischlin: Ich habe eine persönliche Verbindung zu Rom und schon immer eine grosse Faszination für diese Stadt empfunden. Meine Tante ist mit einem Römer verheiratet und lebt seit mehr als 40 Jahren dort. In zahlreichen vergangenen Aufenthalten habe ich deshalb die Neugier und das Interesse entwickelt, für ein Projekt nach Rom zu ziehen. Im März 2017 habe ich daher meinen Job gekündigt und bin Richtung Süden aufgebrochen.

Was arbeitest du in der Schweiz?
Ich bin Grafikerin. Ich habe in Zürich Visuelle Kommunikation studiert. Fotografie war dabei schon immer ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit.

Mit welcher Vorstellung bist du nach Rom gereist?
Mit der Vorstellung, dass zwischen Italien und der Schweiz eine tiefe Verbundenheit vorherrscht. Die italienischen Migranten und Secondos sind ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft, bilden mit über 300.000 Personen die grösste ausländische Gemeinschaft und haben unsere Kultur massgeblich geprägt. Ich bin dementsprechend mit der Erwartung nach Rom gegangen, dass ich keinen grösseren Kulturschock erleben würde. Je mehr ich mich aber mit der Stadt auseinandergesetzt habe und in die Kultur eingetaucht bin, umso deutlicher wurden mir die frappanten Unterschiede.

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Raphael, 27, studiert Informatik. Für vier Tage in Rom

Kannst du diese Unterschiede ausführen?
Als ich zum Beispiel das erste Mal auf Italienisch meinen familiären Hintergrund erklären wollte, habe ich gemerkt, dass es im Italienischen keinen sprachlichen Unterschied zwischen Stief- und Halbbruder gibt. Der Begriff "Fratelastro" umfasst beides und ist nach wie vor negativ, sogar skandalös behaftet. Und der Begriff "Fidanziato", der wortwörtlich "verlobt" bedeutet, kann auch eine langjährige Partnerschaft bezeichnen – ohne dass die Partner tatsächlich verlobt sind. Die anstehende Verlobung wird im Vorfeld bereits angenommen. In solchen Situationen ist mir bewusst geworden, wie tief die Religion in den Werten des Landes verankert ist. Auch heute noch.

Hast du solche Unterschiede auch im Alltag gespürt? Und wie hast du deine Generation in Rom wahrgenommen?
Man spürt eine bedrückende Perspektivlosigkeit bei den jungen Italienern. Ein Fakt, über den ich schon regelmässig gelesen habe, dessen Ausmass mich aber vor Ort sehr überraschte. So handelt es sich nicht um einzelne Schicksale, sondern ist vielmehr die Regel. Stichwörter hierbei sind: unbezahlte Praktika, hohe Jugendarbeitslosigkeit und explodierende Mietpreise. Nicht ganz so ungewöhnlich ist es also, wenn junge Italiener bis Anfang oder Mitte 30 zuhause wohnen. Nicht weil sie das wollen, wie es das Klischee des italienischen Muttersöhnchen besagt, sondern weil sie sich schlichtweg nichts Anderes leisten können. Fangen sie ein Studium ausserhalb der Stadt der Eltern an, teilen sich Studenten oftmals ein Zimmer. Nur so können sie es sich leisten, in einer Stadt wie Rom zu leben. Für einen Durchschnittsschweizer ist das ein völlig abwegiger Gedanke. Mir ist bewusst geworden, wie privilegiert wir sind, in einem Land wie der Schweiz aufwachsen zu können.

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Ileana, 26 Jahre alt, studiert Jura. Seit sieben Jahren in Rom

Deine Porträts zeigen die verschiedensten Menschen. Wie hast du die Personen ausgewählt, die du fotografieren wolltest?
Ich habe mich von der Stadt und den Menschen, denen ich begegnet bin, inspirieren und leiten lassen. Anfangs habe ich nur Personen angefragt, die ich bereits kannte. Mit der Zeit habe ich mich aber auch gewagt, wildfremde Menschen auf der Strasse anzusprechen. Den Mut habe ich dabei aus den ausschliesslich positiven Reaktionen der Menschen gezogen. Nicht eine einzige Person ist mir in der ganzen Zeit misstrauisch begegnet. Manche haben sich sogar bedankt, dass ich ein Foto von Ihnen gemacht habe. Ein Projekt in dieser Form wäre so in der Schweiz wohl nicht möglich gewesen.

Zum Projekt muss ich vielleicht auch noch erwähnen, dass ich pro Person nur ein Foto geschossen habe – und das analog. Es ging mir also in erster Linie nicht darum, perfekt inszenierte und ausgeleuchtete Bilder zu produzieren, sondern einen echten und spontanen Moment einzufangen. In den knapp vier Monaten sind dabei über 60 Portraits entstanden.

Francesco, 29 Jahre alt, Polizist. Geboren in Rom

Zusammenfassend: Was ist die Quintessenz deines Projektes?
Ich habe lange nach einem gemeinsamen Nenner gesucht, um meine Notizen und die Portraitserie zusammenbringen zu können. Mit folgender These konnte ich für mich das Projekt als Ganzes vereinen: Viele Grossstädte dieser Welt widerspiegeln nicht das jeweilige Land. So ist zum Beispiel Berlin nicht Deutschland oder London nicht Grossbritannien. Im Gegensatz dazu ist Rom die Essenz von Italien. Das Land hat sich trotz der Globalisierung und der Homogenisierung in seiner Kultur nur minimal verändert und angeglichen. Dem entgegen steht ein grosser Reichtum an Kulturen, die sich in der Stadt tummeln. Meine Fotoarbeit sollte also genau diese zwei Themen aufgreifen: das Klischee und die Vielfalt. Vermeintliche Touristen entpuppen sich plötzlich als langjährige Anwohner. Italiener, die von aussen betrachtet in Rom zuhause wirken, sind nur für ein paar Schnappschüsse vom Kolosseum auf Besuch.

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Rom war eine extrem spannende Reise. Eine Stadt voller Widersprüche und Klischees, angereichert mit unglaublich viel Geschichte. Ein Besuch lohnt sich also allemal – das muss ich jetzt ja fast sagen (lacht).

Schau dir unten weitere Fotos von Lea an. Das ganze Projekt findest du auf ihrer Website.

Haya, 19, studiert Volkswirtschaftslehre. Seit vier Jahren in Rom

Alberto, 36 Jahre alt, Seminarist. Seit fünf Jahren in Rom

Valeria, 27 Jahre alt, studiert Medizin. Geboren in Rom

Giulio, 79 Jahre alt, Reiseführer. Geboren in Rom

Gabriela, 69, ehemalige Kindergärtnerin. Seit über 40 Jahren in Rom

Mustafa, 54 Jahre alt, Kellner. Seit elf Jahren in Rom

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