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Die Rührung über die Gully-Ratte zeigt, wie moralisch verwirrt unsere Welt ist

Acht Männer retten einen Nager. Aber warum kümmert uns das Schicksal einer Ratte, wenn wir täglich 2 Millionen Tiere schlachten?
Die Ratte, um die es geht, klemmt sehr rührend in einem Kanaldeckel fest
Foto: Berufstierrettung Rhein Neckar

Folgendes ist passiert: Im hessischen Bensheim hat jemand am Sonntag eine Ratte entdeckt, die in einem Gullydeckel feststeckte.

Sieben Feuerwehrmänner und ein Tierretter haben sich daraufhin daran gemacht, das Tier zu befreien, was auch nach wenigen Minuten geklappt hat. Die ausgiebig gefilmte und fotografierte Rettungsaktion geriet schnell in die Medien und sorgte deshalb am Montag dafür, dass Hunderttausende Menschen in ganz Deutschland vom Schicksal dieser Ratte erfuhren, daran reichlich Anteil nahmen, hitzige Diskussionen über die Rettungsaktion führten und generell mehr Aufmerksamkeit über dieser Ratte ausschütteten, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben abbekommen.

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Was auf der einen Seite natürlich sehr einfach zu erklären ist. Und uns auf der anderen Seite vollkommen wahnsinnig machen sollte, weil es genau zeigt, wie zutiefst moralisch orientierungslos, wie vollkommen zähneklappernd verloren in der dunklen Nacht unsere gesamte Zivilisation mittlerweile dasteht.

Aber gut, von Anfang an. Warum es sehr leicht zu erklären ist:

  • Obwohl sie eine Ratte ist, ist die Ratte sehr süß, wie sie da so verzweifelt in dem Loch hängt und quiekt, weil sie den Durchmesser ihres putzigen kleinen Rattenarsches unterschätzt hat. Wer kennt das nicht? Wer war nicht schonmal in so einer Situation? Genau: Es ist sehr leicht, sich mit dieser Ratte zu identifizieren.


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  • Selbst wenn wir noch nie mit dem Hintern in einem Gullydeckel festhingen: Die Ratte, vor der wir uns sonst außerordentlich ekeln würden – in dieser Situation aktiviert sie einfach sämtliche Beschützer-Instinkte, die wir Menschen in uns tragen.
  • Außerdem ist die Geschichte so herrlich einfach: Tier hängt fest, gutmütige Menschen befreien Tier, Tier ist frei. Ausnahmsweise gibt es hier mal keine Bösen (außer dem Gullydeckel), man muss zum Beispiel nicht angestrengt darüber nachdenken, wie viele Flüchtlinge Deutschland aufnehmen kann, bevor der Sozialstaat zusammenbricht und was eine Obergrenze für unser Selbstverständnis als Demokratie bedeuten würde, und dazu hat das ganze – anders als die Geschichte von dem Kind, das in Spanien in einen Brunnen stürzte – sogar noch ein Happy End. Wer soll das nicht liken?

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Und warum es uns wahnsinnig machen sollte:

  • Gibt es ein krasseres Beispiel dafür, was für ein irrationaler Haufen Glibber unser kollektives Bewusstsein ist? Also wirklich: eine Ratte! Ein Tier, das fast in jeder anderen Situation auch in uns modernen Menschen noch instinktiv Erinnerungen an Kloaken, Krankheiten und angefressene Kleinkinder auslöst! Aber sobald so ein Tier in einem Gullydeckel hängenbleibt, schmilzt unser Kortex dahin, als wären die Viecher über all die Jahrhunderte nichts als missverstandene Hamster gewesen. Erbärmlich!
  • Und gleichzeitig: Es ist ja vollkommen richtig, mit dem Tier Mitleid zu haben und sein Leid schnellstmöglich beendet sehen zu wollen. Denn dass das Tier leidet, verstehen wir natürlich genauso instinktiv.
  • Aber warum dieses Tier? Warum interessiert uns das Leid dieser einen Kreatur, wo uns das Leid so unzähliger anderer Lebewesen jeden Tag so vollkommen egal ist?
  • Wie unrealistisch ist die Annahme, dass mindestens 5.000 Menschen mit Rührung das Schicksal dieser Ratte verfolgt haben – und dabei auf dem Fleisch (= Leichenstücken) eines anderen Tieres herumkauten, das unter grauenhaften Bedingungen aufgezogen, mit Drogen vollgepumpt und schließlich getötet und zerhackt wurde? Ein Tier, das vielleicht ein ähnlich ausgeprägtes oder noch viel ausgeprägteres Empfindungsvermögen hatte als eine Ratte – wie zum Beispiel ein Schwein? Nicht besonders unrealistisch, würde ich behaupten. Im Durchschnitt isst jeder Deutsche im Jahr 60 Kilo Fleisch (in Indien und Bangladesh sind es nur vier Kilo im Jahr).
  • Wie geht das zusammen?

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Wir sehen nur, was wir sehen wollen

Es geht nicht darum, Fleischessern ein schlechtes Gewissen einzureden. Erstens bin ich selbst einer – und zweitens haben sie das sowieso schon. Doch, doch, ihr könnt es ruhig zugeben. Egal, wie gerne man Fleisch isst, niemand hat Bock, sich Videos aus Schlachthöfen anzuschauen, weil jeder weiß, dass das reine Horrorfilme sind.

Und deshalb sind wir gut darin geworden, diese Wahrheit – dass Millionen Tiere leiden und wir den Planeten verpesten, nur weil wir den Geschmack von Fleisch mögen – zu verdrängen. Wir schaffen es sogar, uns einzureden, unser Handeln wäre moralisch, obwohl die Logik-Kapazitäten des Kundenservice-Chatbots einer Sparkasse ausreichen würden, um unsere Verteidigung zu zerstören. Wie sollen wir irgendjemandem erklären, dass wir in diesem Land acht Männer bemühen können, um eine Ratte aus einem Gully zu retten, und gleichzeitig jeden Tag zwei Millionen Tiere schlachten, nur um sie aufzuessen?

Und? Was willst du uns jetzt sagen?

Das ist der Punkt: Ich weiß es nicht. Auf der einen Seite ist es völlig schizophren, gleichzeitig um einzelne Ratten oder Kampfhunde zu trauern, während wir riesige Tier-Folterfabriken unterhalten. Auf der anderen Seite kann ich sehr gut verstehen, wie dieser mentale Spagat funktioniert, weil ich ihn ja selber ständig mache.

Eine Frau zündet eine Kerze vor einem Bild des Kampfhundes Chico an

Eine Frau bei der Mahnwache für den Staffordshire-Terrier Chico | Foto: Hanko Ye

Vielleicht läuft es am Ende darauf hinaus, dass wir uns als Spezies immer noch vor der Entscheidung drücken, ob uns das Leben an sich eigentlich etwas wert ist oder nicht. Und deshalb immer noch den zynischsten aller Mittelwege nehmen und sagen, dass uns das Leben anderer Lebewesen eben genau dann etwas wert ist, wenn es uns aktuell ins Konzept passt – und wir nicht gerade Hunger auf Burger haben.

"Wenn alles egal ist, dann gibt es auch nichts zu retten", schreibt Jonathan Safran Foer in seinem sehr nervigen, weil sehr kompromisslosen Buch Tiere essen. Aber natürlich ist uns nicht alles egal. Uns ist ja nicht mal diese eine dämliche Wanderratte (Lebenserwartung: 2 Jahre) egal, wenn wir sie nur lange genug anschauen. Welchen Schluss sollten wir daraus ziehen?

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