Illustration eines spielsüchtigen Jugendlichen
Illustration: Russlan
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Ich habe meine Jugend verzockt

Manche Psychologen warnen vor Computerspielen als wären sie Heroin. War ich krank – oder war es doch nur ein intensives Hobby?
Russlan
illustriert von Russlan

Ich renne auf die Verteidigungstürme zu, stoße dem Gegner mein Katana-Schwert in den Leib – niedergestreckt! Die Sekunden ticken runter, bis der Gegner wieder aufersteht. Keine Zeit zu verlieren, "Push middle!", rufe ich in mein Headset. Die gegnerische Kaserne zerfällt, ich kann den grünen Rauch fast sehen: "RADIANT VICTORY!", nur noch ein Hieb – da friert mein Bildschirm ein.

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"Ich habe das Kabel rausgezogen", höre ich eine Stimme vor der Tür. Mama. "Und ich schwöre dir: Wenn du wieder spielst, dann schneide ich es ganz durch!" Ich drehe mich nicht um. Seit fünf Stunden sitze ich hier und spiele Dota 2. Neben mir Schulbücher, Fach: Geschichte. Morgen ist die Abiprüfung.

So war es damals: Ich war 18 und ich zockte. Ich zockte, wenn mir langweilig war, wenn ich kurz vor einer Klausur stand, wenn ich eigentlich lernen sollte. Wenn ich glücklich war oder traurig; um mich für ein gutes Zeugnis zu belohnen oder von einem schlechten abzulenken. Ich spielte selbst dann, wenn ich das Spiel gerade hasste, weil ich fünf Runden am Stück verloren hatte.

Heute, acht Jahre später, frage ich mich: War ich süchtig?

Wenn es nach der Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht: ja. Süchtig ist demnach, wer seine Freunde und Familie wegen Videospielen vernachlässigt, wer in der Ausbildung oder im Job immer mehr abfällt, sich deswegen schlecht ernährt oder Schlafprobleme hat und all das länger als ein Jahr durchzieht. Bereits 2018 erkennt die WHO Onlinespielsucht als Krankheit an, im Mai 2019 wurde der neue Krankheitskatalog (ICD 11) verabschiedet, in dem nun auch Spielsucht aufgelistet ist.

Während andere Teenager auf Hauspartys Erdbeerbowle tranken und rumknutschten, ballerten wir uns erst durch 'Call of Duty 4', dann durch 'Counter-Strike', immer wieder von vorne.

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Seit ich davon erfahren habe, denke ich darüber nach, wie viel ich eigentlich gezockt habe. War ich krank? Wieso habe ich nichts davon bemerkt? Wie sahen meine Eltern das? Es war doch nur ein intensives Hobby. Fast jeder meiner Kumpels hat gezockt. Eine Leidenschaft. Ich war halt Gamer. Oder?

Ich war zehn Jahre alt, als ich meinen ersten Rechner bekam, einen gebrauchten Windows-Klotz, der mir beim Hochfahren oft einen Stromschlag verpasste. Ich sollte mich eigentlich auf eine Prüfung an einer Musikakademie vorbereiten. Doch statt Klavier zu üben, kommandierte ich Ritterarmeen durch das Mittelalter von Age of Empires II, kämpfte mich durch den heldenschwangeren Epos von Warcraft III, manchmal tagelang. Sobald ich die schleppenden Schritte meines Vaters im Treppenhaus hörte, stürzte ich vom Schreibtisch an den Klavierhocker im Nebenzimmer. Oft ging er direkt an den Computer, legte seine Hand ans Gehäuse, um zu checken, ob es noch warm war. Meistens war es das.

Ich war 15 Jahre alt und bettelte meine Eltern an Wochenenden an, mich zu den LAN-Partys meiner Freunde zu fahren. Zur gleichen Zeit etwa erschoss der Amokläufer von Winnenden 15 Menschen. Eine Debatte um "Killerspiele" entbrannte, von der ich aber nichts mitbekam. Während andere Teenager auf Hauspartys Erdbeerbowle tranken und rumknutschten, ballerten wir uns erst durch Call of Duty 4, dann durch Counter-Strike, immer wieder von vorne. Wir bildeten Teams, überlegten uns Strategien: Wer stürmt vor, wer spielt den Sniper, wer fängt den Rest ab? Die Zeit verging nicht in Stunden, sondern in Runden. Wer hungrig war, bestellte Döner, wer müde war, legte sich auf eine Isomatte. Meistens spielten wir uns aber durch die Nacht, und merkten nicht, dass sie längst Tag geworden war.

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Meine Mutter weinte, weil ich so oft am PC spielte

"Prokrastinieren ist eigentlich normal", sagt Jakob Florack, Kinder- und Jugendpsychiater am Vivantes-Klinikum in Berlin-Friedrichshain. Seit 2015 bietet er eine Sprechstunde für videospielsüchtige Jugendliche an. Problematisch werde es aber, wenn man regelmäßig schlechte Gefühle durch Spielen regulieren wolle. "Das heißt: Ich streite mich oder habe schulische Verpflichtungen", sagt Florack. "Und um die Angst oder die Gedanken daran zu umgehen, spiele ich."

Hatte ich das Spiel im Griff oder das Spiel mich?

Damals habe ich darüber nicht nachgedacht. Vielleicht, weil ich mich nie wirklich abhängig fühlte. Nie ein schlechtes Gewissen oder Zweifel hatte, dass es zu viel war. Ich war ganz OK in der Schule, dachte ich, meine Eltern würden mich schon verstehen, hoffte ich. Zocken machte mich glücklich. Das wusste ich.

"Dein Gesicht war ganz rot, du sahst verkrampft aus. Als hättest du Drogen genommen", erinnert sich meine Mutter. Und dann: "Ich habe oft Angst gehabt, dass du mich hasst"."

Meine Mutter sah das nicht so. Sie hat sich Sorgen um mich gemacht, sogar um mich geweint, während ich vor dem Bildschirm hing. Doch als ich sie anrufe und ihr erzähle, dass ich über meine Zeit als Zocker schreiben will, lacht sie: "Wird auch Zeit!". Ihre gute Laune überrascht mich.

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Am schlimmsten wäre mein Blick gewesen, sagt sie. "Du hast nicht vom Bildschirm hoch gesehen, nicht mal gezwinkert." Einmal, ich war etwa 16, stellte sie mir einen Teller mit Orangenschnitzen auf den Schreibtisch. Zwei Stunden später wollte sie den Teller wieder mitnehmen. Ich hatte kein Stück angerührt. "Ich habe dich angesprochen, aber du hast einfach weitergespielt", sagt sie. "Dein Gesicht war ganz rot, du sahst verkrampft aus. Als hättest du Drogen genommen."

Für meine Mutter sei das eine zwiespältige Zeit gewesen, sagt sie. Sie wog ab: den Freiraum, die verdiente Pause, die sie mir nach der Schule geben wollte, gegen die Angst um meine Gesundheit und meine Zukunft. Zwar hat mir meine Mutter nie verboten, auf eine LAN-Party zu gehen – "Ich wollte nicht, dass du der einzige deiner Freunde bist, der nicht hin durfte", sagt sie – trotzdem riss sie manchmal den Router aus der Steckdose und sperrte ihn weg, wenn es ihr zu viel wurde. Einmal warf sie aus Wut einen Schlüsselbund nach mir. Sie hat mich extra weit verfehlt. Ich schrie sie an, bis ich heiser war.

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"Ich habe oft Angst gehabt, dass du mich hasst", sagt sie am Telefon.

"Hast du mich denn in dieser Zeit gehasst?", frage ich.

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"Nein. Egal, wie schlimm du wärst, das könnte ich niemals."

Es ist das erste Mal, dass wir über diese Zeit reden. Es fühlt sich unangenehm an, aber befreiend. Bei manchen Szenen kommt es mir vor, als würde meine Mutter von jemand anderem erzählen. "Ich wollte dich nie verletzen", sagt sie. Nur: Wie oft habe ich sie damit verletzt? Ich war ein pubertierender Jugendlicher. Vielleicht war das einfach mein Weg, um Problemen aus dem Weg zu gehen.

Ob sie glaubt, dass ich süchtig war, will ich wissen.

"Es war durchaus ernst", sagt sie. Eigentlich habe sie schon an Abhängigkeit gedacht, aber nie daran, einen Therapeuten einzuschalten. "Irgendwie haben ja alle gespielt", sagt sie.

Hat doch jeder gemacht. Das ist das Problem. Mehr als jeder dritte Deutsche, immerhin rund 34 Millionen, soll laut einer Umfrage Videospiele spielen, allerdings nur ein Bruchteil von ihnen exzessiv. Nur: Wo verläuft die Grenze zwischen intensivem Hobby-Gaming und Sucht?

Experten warnen vor Panikmache bei Computerspielsucht

Ich kontaktiere meine alten Schulfreunde. Es ist das erste Mal, dass wir über die Zeit sprechen, als wir 15 waren und eine Jungsgang. Nach der Schule loggten wir uns bei Teamspeak ein, ein Programm mit dem wir uns über unsere Headsets unterhalten konnten, erledigten gemeinsam unsere Hausaufgaben und spielten dann bis zum Abend World of Warcraft. Einer meiner Kumpels erzählt, er sei früher manchmal mitten in der Nacht aufgestanden, um an WoW-Raids teilzunehmen, also mit anderen Spielern loszuziehen und Endbosse zu besiegen. Ein anderer sagt, er fühlte sich manchmal von uns ausgeschlossen, weil er keine Computerspiele zockte und auch kein Teamspeak hatte. Heute sagt fast jeder, dass er wohl ein Problem hatte. An Sucht oder Therapie dachte damals aber noch keiner.

Als Gamer muss ich mich oft rechtfertigen. Wieso jagst du lieber virtuelle Drachen, als dich auf Hauspartys zu besaufen? Wieso quatschst du lieber mit fremden Zockern über Headsets, als mit Freunden in der Sonne zu brutzeln? Die Fragenden machen oft keinen Unterschied zwischen Hobby-Gamer und jemandem, der exzessiv spielt. Viele Gamerinnen und Gamer sind deshalb genervt, wenn es um Computerspielsucht geht. Sie befürchten, wieder stigmatisiert zu werden.

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Nachdem Gamer bereits als Gefährder mit einer Vorliebe für Killerspiele abgestempelt wurden, vergleichen nun Psychologen Videospiele wie Fortnite mit Heroin. Vom Kellerkind zum Junkie also.

Es gibt auch Experten, die in einem offenen Brief vor Panikmache und unnötigen Therapien warnen. Jakob Florack gehört nicht zu den Unterzeichnern, hat aber eine ähnliche Meinung. "Computerspiele sind ein wertvolles Kulturgut", sagt er. "Wir wollen nur die pathologisieren, die pathologisiert werden wollen." Also die Gamer behandeln, die einsehen, dass in ihrem Leben etwas schief läuft, diejenigen, die etwas verändern wollen.

Meine Mutter sagt heute, dass ich früher nur gezockt habe, um sie zu ärgern. Vielleicht hat sie recht. Ich würde gerne einiges von früher rückgängig machen. Bemerkungen, die ich ihr an den Kopf geworfen habe. Gemeinsame Abendessen, die ich ausschlug.

Für Kinder- und Jugendpsychiater Florack sei der Leidensdruck entscheidend, um intensives Hobby von Sucht zu trennen: "Die Frage ist, wie zufrieden du mit deinem Leben bist. Willst du etwas ändern?" Wenn das Spiel Spaß mache und es sich gut anfühle, Gegner zu besiegen, dann sei das positiv. Kritisch werde es, wenn schlechte Gefühle kompensiert werden. Wenn die Kills nicht mehr so wichtig sind, ein Sieg sich nicht mehr gut anfühlt. Wenn man Stress mit den Eltern hat und nur zockt, um dem Streit auszuweichen. Dabei komme es nicht auf die gespielte Zeit an. Jemand, der nur zwei Stunden täglich zockt, aber permanent ans Spiel denkt, sei krankheitswertiger als jemand, der fünf Stunden spielt, aber noch zum Fußballtraining geht. "Wichtig ist, dass du deinen Konsum mit deinem Selbstbild vereinbaren kannst", sagt Florack.

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Die Grenze zwischen Hobby-Gaming und Exzess bleibt damit schwammig und das ist ein Problem. Moderne Videospiele überspringen diese Grenze geschickt, indem sie den Ehrgeiz der Spieler provozieren. Mit Highscores, die geknackt, und Ranglisten, die erklimmt werden wollen, oder mit Glücksspielelementen oder saisonalen Events, in denen Spieler nur in einem bestimmten Zeitraum Spezialbelohnungen erhalten können. Diese Elemente nennt Florack "spielbindende Faktoren". Sie sind gefährlich, weil sie Zeitdruck erzeugen und so eine Abhängigkeit fördern.

Wann und wieso ich als Teenager aufgehört habe, intensiv zu zocken, weiß ich nicht genau. Es gab keinen Erleuchtungsmoment: Ich habe weder mein Abi verhauen noch haben meine Eltern meinen Computer verbrannt. Mein Konsum lief einfach langsam aus.

Die meisten Sachen aus meiner jugendlichen Zockerzeit habe ich noch. Ich schreibe mit meiner Razer-Tastatur, scrolle mit meiner Gaming-Maus von Logitech. Nur spiele ich nicht mehr so exzessiv wie früher. Nur manchmal, zuletzt im vergangenen Dezember, kurz nach der Abschlussprüfung meines Studiums. Einen Monat lang fläze ich vor dem Fernseher und renne als weißhaariger Monstertöter durch die Welt von The Witcher 3. Ich weine sogar ein bisschen als mein Mentor Vesemir stirbt.

Meine Mutter sagt heute, dass ich früher nur gezockt habe, um sie zu ärgern. Vielleicht hat sie recht. Ich würde gerne einiges von früher rückgängig machen. Bemerkungen, die ich ihr an den Kopf geworfen habe. Gemeinsame Abendessen, die ich ausschlug. Ein Resetknopf, das wäre schön. Vielleicht zocken wir ja mal gemeinsam und simulieren unser Leben in The Sims nach. Und wenn sie sauer wird, kann sie mich in eine Toilette sperren. Zumindest virtuell.

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