Ein ehemaliger Heroin-Nutzer
Andreas | Alle Fotos von Shirin Siebert
Drogen

Andreas hat Freunde an Heroin verloren und trotzdem weiter gedrückt

"In der Szene wird erstaunlich kalt mit den Toten umgegangen", sagt er, der sich selbst als Drogennutzer beschreibt.

Mit 27 Jahren hat sich Andreas, so drückt er es selbst aus, in Heroin verliebt. Damals ließ er sich in Berlin seinen ersten Schuss setzen. Mittlerweile ist er Mitte 50, aber die Beziehung hält noch immer.

"Vielleicht bin ich zu abgeklärt oder asozial, ich weiß es nicht", eröffnet Andreas das Gespräch, "aber ich hab keine Geschichte zu erzählen, die mich emotional noch berührt." Er setzt sich an den Tisch im Außenbereich eines Cafés im Berliner Stadtteil Kreuzberg, lacht und kramt sein Nikotinspray aus der Tasche. Vor dem Treffen habe er versucht, mal zu überschlagen, wie viele seiner Bekannten in den letzten 30 Jahren gestorben sind. Ohne Ergebnis: "Es sind zu viele." Und dennoch hat Andreas jahrzehntelang selbst konsumiert. Seit drei Jahren nimmt er allerdings kein Heroin mehr, sondern substituiert.

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Andreas trägt die langen, dunklen Haare, von denen ein paar ergraut sind, zu einem Zopf zusammengebunden. Seine Kleidung ist schwarz, er trägt ein verwaschenes Shirt der Dark-Wave-Band Bauhaus. Seine Erscheinung mag dunkel sein, seine Aussage makaber – düster wirkt Andreas trotzdem nicht. Sondern fröhlich, fast amüsiert. Er scherzt mit der Kellnerin, lacht über seine Geschichten.


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Andreas ist Teil von JES, einem Verband, der die Interessen von Drogenkonsumierenden vertritt. Die Abkürzung steht für "Junkies, Ehemalige, Substituierte". Zusammen mit der Deutschen Aidshilfe (DAH) und dem Bundesverband der Eltern und Angehörigen für akzeptierende Drogenarbeit veranstaltet JES seit 1998 einen Gedenktag für verstorbene Drogengebrauchende. Drogentode mögen für die Popkultur ein Faszinosum sein, ein immer wiederkehrendes Motiv in Filmen und Büchern. Stars aus dem sogenannten Club 27 etwa umweht der mystische Hauch von Selbstzerstörung und Coolness. Doch für Menschen, die nicht regelmäßig von Paparazzi beim Koksen abgelichtet werden, gibt es kaum öffentliche Wahrnehmung. Dabei ist die nötig. Das zeigen nicht nur die hohe Zahl von Opioidtoten – 629 waren es in Deutschland im Jahr 2018 –, sondern auch die Erfahrungen von Andreas.

"Heroin war einfach die Droge der Leute, an denen ich mich orientiert habe."

Kontakt mit Heroin hatte Andreas schon einige Jahre vor dem ersten Schuss. Damals lebte er noch in Gelsenkirchen und rauchte das Opioid. Und schon zu jener Zeit sah er Menschen daran sterben. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit seien Menschen einfach verschwunden, erzählt er. "Viele Leute haben angefangen und waren innerhalb von Monaten tot. Die waren unerfahren, leichtsinnig und auch so ein bisschen 'scheiß egal' unterwegs."

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Abgeschreckt hat ihn das nicht. "Das war einfach die Droge der Leute, an denen ich mich orientiert habe", sagt er heute. 1987 zog er nach Berlin. Da ließ er sich den Stoff auch das erste Mal drücken. Damals arbeitete er viel, in einer leitenden Position sogar, und nutzte die Droge zum Runterkommen. Um einiges, was man mit Heroin-Abhängigkeit verbindet, kam Andreas herum. Er hatte keine Probleme mit der Polizei, musste nie ins Gefängnis, lebte nicht auf der Straße. Glücklicherweise, denn Andreas ist sich sicher: Auch sein Leben wäre anders verlaufen, wenn er im Knast oder auf der Straße gelandet wäre. "Vielleicht würden wir dieses Gespräch dann heute nicht führen." Aber Arbeit hatte er immer und das Geld reichte für seinen Stoff und die Miete.

Mit der Drogenszene wollte Andreas eigentlich nichts zu tun haben. Zu viel Betrügerei, zu wenig echte Freundschaften. Doch ohne sie ging es nicht. Denn damals, als es weder Darknet noch Telegram-Gruppen gab, in denen man Stoff kaufen konnte, musste Andreas zu den einschlägigen Orten in Berlin gehen, um sein Heroin zu besorgen. Meist war das der Kotti, das Kottbusser Tor, bis heute berühmt für seine Drogenszene. Beim langen Warten auf die Dealer traf er unweigerlich auf andere Konsumierende. Auch ein paar wenige Freunde fand er. Von denen lebt heute keiner mehr.

Einer dieser wenigen Szenefreunde hieß Anton. Sie waren eng befreundet. Eine Zeit lang haben sie sich fast jeden Tag gesehen, gingen mit Andreas’ Hund spazieren. Einmal reisten sie zusammen in den Harz. Irgendwann ist Anton verschwunden. Aus Szene-Berichten erfährt Andreas später: Anton hatte "Knastdruck". Er war straffällig geworden und das Gericht hatte angeordnet, dass er entweder eine Therapie machen oder ins Gefängnis gehen muss. Eine Therapie war auf die Schnelle nicht zu organisieren, also ging er zu einer Selbsthilfeorganisation, bei der die Aufnahme jederzeit möglich ist. Die Therapie gilt dort als besonders streng. Alle Betäubungsmittel, Alkohol und Tabak sind absolut verboten und die Menschen müssen schwer arbeiten. Anton begann dort eine Therapie, kam einige Zeit später wieder raus – und setzte sich kurz darauf eine Überdosis. "Das war einer von denen, wo ich mir dachte: 'Was eine Scheiße'", sagt Andreas dazu. Er, der beim Reden eigentlich viel gestikuliert, klopft bei diesen Worten bloß leicht mit den Fingern auf den Tisch. "Es passiert nach einem Entzug zwar schnell, dass man sich überdosiert, weil man ja keine Toleranzen mehr hat. Aber Anton war ein so erfahrener Konsument – der hätte das wissen müssen." Dass der Körper eine Substanz schnell toleriert, weiß wohl jeder Konsument. Denn er braucht immer mehr von dem Stoff, um eine Wirkung zu erzielen. Nach ein paar Wochen Abstinenz baut der Körper die aber auch wieder ab, entsprechend hoch ist die Gefahr, sich versehentlich eine Überdosis zu setzen.

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Der Verdacht liegt also nahe, dass Anton diesen letzten Schuss absichtlich so hoch dosiert hat. Für Andreas wäre das plausibel. Er hat oft erlebt, dass Menschen, die aus der Therapie kamen, es nicht schafften, clean zu bleiben und dann Suizid begingen. Das war vor allem bis in die 90er so. Damals kannte die Suchtmedizin nur das Clean-Werden als striktes Ziel. "Die Frustration darüber, die Abstinenz nicht zu schaffen, ist immens. Und eine Strategie, was ist, wenn es mit der Abstinenz nicht klappt, gab es nicht."

Heute gibt es zwar immer noch Suchthilfen, bei der die Abstinenz das erklärte Ziel ist. Viele Abhängige wollen ja auch clean werden. Aber parallel dazu hat sich ein alternativer Ansatz ausgebreitet. Der richtet sich an jene, die nicht ohne Drogenkonsum leben können oder wollen. In Suchthilfeeinrichtungen, die diesen akzeptierenden Ausgangspunkt haben, sollen Konsumierende dabei unterstützt werden, ihren Drogenkonsum zu kontrollieren. Ziel ist, dass sie mit der Substanz ein möglichst angenehmes Leben führen können – wie auch immer sie selbst das definieren.

Hand mit Insekt

"Ich hatte nie Angst, dass ich sterbe, wenn ich weitermache."

Andreas kannte diesen Ansatz noch nicht, als er selbst in Therapie ging. Die machte er vor 20 Jahren mit seiner damaligen Freundin. Die einzige Frau, mit der er zusammen war, die auch drauf war. Ihren Namen möchte er nicht nennen. In der Zeit mit ihr hatte er regelmäßig gesehen, wie schnell Heroin auch tödlich sein kann. Denn: Seiner Freundin passierte es regelmäßig, dass sie sich zu viel des Stoffes spritzte und eine Atemdepression, also Kurzatmigkeit und Luftnot, bekam. Versehentlich. Andreas macht ihre Unerfahrenheit und ihre Gier nach dem Stoff dafür verantwortlich. Was er schildert, klingt gruselig: "Nach dem Schuss wurden plötzlich die Lippen blau, dann immer dunkler, bis hin zu schwarz." Als es das erste Mal passiert ist, habe er sich total erschrocken. Aus Erzählungen von anderen Abhängigen wusste er, dass das Blau ein Zeichen für Sauerstoffmangel ist und er jetzt beatmen muss. "Das ging total easy, weil die Muskeln durch das Heroin entspannt sind." Durch ein paar Trigger wie Schlagen, Kneifen, Rufen habe er sie dann wieder aus der Ohnmacht holen können. Hätte er nicht so schnell reagiert, wäre sie wahrscheinlich gestorben.

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Wieder greift Andreas nach seinem Nikotinspray, sprüht es sich in den Mund, als wolle er seinen Atem erfrischen. Er hat gerade mit dem Rauchen aufgehört. Aber wieso hat er trotz all den krassen Beobachtungen ausgerechnet mit seinen Opioid-Konsum weitergemacht – hatte er nie Angst, er könne auch daran sterben? "Das waren ja meistens Unfälle oder Überdosen, da kann man sich ja vor schützen", sagt er. Man könne schon riechen, ob der Stoff, den man da gerade in die Spritze zieht, stark ist oder nicht, und auch checken, wie viel man schon intus hat. Und dann entsprechend weniger injizieren. "Ich hatte nie Angst, dass ich sterbe, wenn ich weitermache", sagt er.

Wenn er das sagt, wirkt er abgeklärt. So, als hätten die Gefahren der Substanz mit ihm nichts zu tun. Aber ist es nicht genau die Problematik der Sucht, dass man glaubt, sie unter Kontrolle zu haben? Er lacht und sagt, er wolle da jetzt auch nicht arrogant wirken. "Aber ich sehe mich als Drogennutzer." Er betont den hinteren Teil des Wortes: Nutzer. "Wenn ich Heroin gebraucht habe, habe ich es genutzt. Und die Dosis immer entsprechend angepasst, mich also nicht vor der Arbeit zugedröhnt oder so."

Andreas weiß viel über die Droge, die er konsumiert. Und er scheint selbstbeherrscht zu sein. Das sind längst nicht alle Konsumierenden – wie das Beispiel seiner Ex-Freundin zeigt. Für Konsumierende wie sie ist Naloxon ein gutes Mittel, um Überdosierungen zu überleben. Viele Drogenhilfen und Suchtforschende haben sich deswegen dafür eingesetzt, dass Naloxon als Nasenspray auch in Deutschland erhältlich ist. Naloxon ist ein Opioid-Antagonist, der die Wirkung der Droge aufhebt. Mit dem Spray könnten also einige Überdosierte zurück ins Leben geholt werden. Theoretisch ist das seit 2018 in Deutschland möglich – zumindest, wenn Ärzte das ihren Patientinnen auch verschreiben. Bisher passiert das selten und das Medikament ist wenig verfügbar. Die Deutsche Aidshilfe und JES fordern deswegen ein bundesweites Programm, um Naloxon für opioidabhängige Menschen verfügbar zu machen.

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Für Andreas sind letztlich auch politische Entscheidungen dafür verantwortlich, dass es überhaupt so viele Drogentote gibt. "In meinen Augen sind das Prohibitionstote", sagt er. Die Prohibition, das Verbot bestimmter Betäubungsmittel, wegen der der Stoff auf dem Schwarzmarkt mit immer mieserer Qualität angeboten wird. Die Strafverfolgung von Drogengebrauchenden, durch die sie leicht in eine Abwärtsspirale aus Gefängnis und Obdachlosigkeit gedrängt werden können und wegen der es zu wenige Maßnahmen zur Schadensminimierung wie zum Beispiel Konsumräume gibt. Und die Schwierigkeiten mit der Substitution, die es für viele Menschen beinahe unmöglich machen, sich der Kriminalisierung zu entziehen und ein legales und sichereres Präparat zu bekommen.

Andreas mit dem Poster für den Internationalen Gedenktag für Verstorbene Drogengebraucher*innen

"Das ist der einzige Tag, den es für uns gibt. Für unsere Community."

Um diese Situation zu verbessern, engagiert Andreas sich seit einigen Jahren bei JES und organisiert den Gedenktag für verstorbene Drogengebrauchende mit. Einst von Eltern verstorbener Drogengabhängiger in Nordrhein-Westfalen begonnen, wird der Tag mittlerweile nicht nur in vielen deutschen Städten, sondern auch international gefeiert.

"In der Szene wird erstaunlich kalt mit den Toten umgegangen", sagt Andreas. "So nach dem Motto: Dann ist's halt einer weniger." Auch er fühle sich mittlerweile abgestumpft. "Passiert eben ständig und die Leute haben so viele eigene Probleme." Diejenigen, die dem Verstorbenen nahestanden, würden zwar schon trauern oder zur Beerdigung gehen, aber ein gemeinsames Abschiednehmen gebe es in der Szene nicht. Trotzdem will er nicht, dass über die Todesfälle und die Risikogruppe der Opioidabhängigen hinweggeguckt wird. Das Gedenken bedeutet also einen Tag Sichtbarkeit. "Das ist der einzige Tag, den es für uns gibt. Für unsere Community."

Mehr Informationen zum Internationalen Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher*innen findest du auf der Seite von JES.

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