Samenspender und Tochter: Ein älterer Mann (Dietrich) und eine junge Frau (Britta), Kopf an Kopf
Fotos: Jasmin Breidenbach
Menschen

Samenspende: Wie Britta ihren Vater kennenlernte

"Der Anfang war wie eine Schwärmerei", sagt Dietrich.

Dietrich

Dietrich fühlt sich wie Dschingis Khan, als er das erste Mal in einen Becher onaniert. Wie ein Eroberer, Begründer eines ganzen Reiches, Krieger, Räuber, Jäger. Ein echter Mann, jung und potent. "Ich dachte: Da entsteht mein Abbild. Mit meinem Charakter. Ich lebe in jemandem weiter."

Die Nummer des Münchner Arztes hatte er von einem Freund und der hatte sie von einem Aushang. Dietrich wählt die Nummer und wird sofort zum Chef durchgestellt, dem Arzt, der aus Dietrich, 18 Jahre alt, Abiturient, einen Vater macht.

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Als er 1986 oder 1987 zum ersten Mal in dessen Behandlungszimmer sitzt, fragte der Gynäkologe Dietrich nach der Familie. Vater Professor, Mutter Lehrerin, Großvater Ingenieur, sagt Dietrich. Herpes oder Aids? Nein, sagt Dietrich. Der Arzt sagt nicht: Überlegen Sie sich gut, was sie machen. Er fragt nicht: Wollen Sie Vater werden? Es geht nicht um Moral, es geht nur um Genmaterial. Bluttest, Spermatogramm. So erzählt Dietrich es heute.

Dietrich, ein blonder Mann steht vor einem Bücherregal

Dietrich im Münchner Haus, in dem er mit seiner Frau und drei Söhnen lebt

Einen Vertrag habe er nie bekommen, sagt er. Nachdem er zwei Wochen nach dem ersten Gespräch zum ersten Mal in einen Becher onaniert hat, wird ihm ein weißer Umschlag überreicht, mit seinem Namen in Handschrift darauf und 100 Mark darin. "Für die Zeit und mein Alter war das ein intergalaktischer Verdienst", sagt Dietrich.

Britta

Der Mann, den Britta Papa nannte, habe in einer türkisen Schlafanzughose im Esszimmer gestanden, als Britta ihn zum letzten Mal sah. Es war ein sehr sonniger, schöner Tag, erinnert sie sich. Britta ist damals vier Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter in München. Der Papa habe gesagt: Ich geh jetzt gleich. Er würde seinen Bruder besuchen wollen.

Das war am 8. Januar 1994. Obwohl sie so klein war, weiß Britta das Datum noch genau. "Daran kann ich mich erinnern – und dann: Nichts mehr", sagt Britta.

Ein oder zwei Wochen darauf öffnet die Mutter die Schranktür und merkt, dass Dinge fehlen. Sachen, die man nicht mitnimmt, wenn man nur mal für eine Woche den Bruder besucht. Dann stellt sich heraus, dass der Vater bereits seinen Job und die Bankkonten gekündigt hatte. Und Brittas Mutter steht allein da, ohne Job und mit dem Kind aus der Samenspende, in München Moosach, nur ein paar Kilometer entfernt von Dietrich, von dem Britta noch keine Ahnung hat.

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Britta, eine blonde Frau steht an einem Fenster

Britta sucht schon fast ihr ganzes Leben nach einem Vater

Dietrich

Nach sechs Jahren hört Dietrich wieder auf zu spenden. Weil es keine Papiere gab, hat er in Kladden notiert, wann er den Gynäkologen besucht. Er spendete bis zu zweimal im Monat, etwa 80 Besuche kamen so zusammen. Macht 300 oder 400 Milliliter Sperma, etwa zwei bis drei Kaffeetassen voll, mehrere Milliarden Spermien, für etwas mehr als 8.000 Mark.

Das Geld hätte Dietrich eigentlich nicht gebraucht. Er investierte es in ein Klavier für 5.000 Mark, auf Kredit. "Ein gutes – ein gutes, schönes Schimmel", sagt Dietrich. Jeweils am Tag nach der Spende vermerkt er in einem Notizbuch seine Zahlung an Klavier Hirsch.

80 Spenden. "Das macht bei einer 25-prozentigen Erfolgswahrscheinlichkeit etwa 20 Kinder", sagt Dietrich. Das ist die Zahl, mit der er sich wohl fühlt. Es könnten aber auch viel mehr sein. Denn Dietrich weiß, dass in den USA zur selben Zeit üblich war, das Sperma einzufrieren und in bis zu zehn Spenden zu portionieren. Bei 800 Versuchen könnten dann bis zu 200 Kinder entstanden sein. Wie der Münchner Arzt mit seinem Sperma genau verfuhr, hat Dietrich nie erfahren. Möglich also, dass auch Spenden aufgeteilt wurden.


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Vieles in der Reproduktionsmedizin liegt im juristischen Graubereich. In Großbritannien, Norwegen und China darf es pro Spender zum Beispiel nur 15 Kinder geben. In Deutschland gibt es kein Gesetz, das die Anzahl begrenzt. Überhaupt war Samenspende hier lange schlecht reguliert. Seit 2017 gibt es das Samenspenderregistergesetz. Seitdem hat Britta einen Rechtsanspruch auf Dietrichs Identität.

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In einer zentralen Datenbank werden personenbezogene Angaben von Samenspendern und Empfängerinnen seither für 110 Jahre gespeichert. Literweise Sperma, das mit Anonymitätsversprechen abgegeben wurde, mussten die Samenbanken vernichten. Das Gesetz greift natürlich nur bei Spenden in medizinischen Einrichtungen, wer zu Hause per Becher und Bratenspritze Babys macht, fällt noch immer raus.

Der Verein Spenderkinder schätzt, dass in Deutschland etwa 100.000 Menschen leben, die durch Samenspenden entstanden sind. Weil es noch nicht so lange möglich ist, Spenderväter ausfindig zu machen, ist die Community der Kinder, die ihre Väter sucht, in Deutschland noch klein.

Britta

Als Jugendliche verfolgt Britta ein wiederkehrender Albtraum. Es klingelt an der Tür und davor steht der erste Mann, den sie als Vater kannte. Im Traum glaubt Britta, dass der Mann gefährlich sei und ihrer Mutter etwas antun könne, dann packt sie die Angst und Britta wacht auf.

Im Frühjahr 2007 legt eine Freundin von der Kosmetikschule, in der Britta lernt, Tarotkarten: "Du wirst ein Geheimnis über dich erfahren", prophezeit sie.

Ein Jahr später, im Juni 2008, sucht ihre Mutter das Gespräch mit Britta. Sie kommt gerade von der Arbeit.

  • "Du bist aus einer Samenspende entstanden", sagt die Mutter. Und: "Hasst du mich jetzt?"
  • Britta sagt: "Nein." Sie ist selbst überrascht über ihre Gefühle, aber statt enttäuscht zu sein, ist Britta dankbar.

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Dietrich

Spenderfamilien müsse man sich als glückliche Familien vorstellen, hatte man Dietrich gesagt. Manchmal malt er sich aus, wie eines seiner Spenderkinder ihn aufsucht. "Ich habe mir vorgestellt: Ich bin Familienvater, dann klingelt es an der Tür und mein Ebenbild steht mir gegenüber."

Meistens aber vergisst Dietrich die Kinder. Nur wenn jemand nach dem teuren Klavier fragt, erzählt er die Anekdote mit den Plastikbechern und den Umschlägen in der Münchner Praxis. Die Kinder wirklich zu sehen, daran dachte er zwar manchmal, aber hielt es für unmöglich.

Auf einem Handy sind die Bilder von Dietrich und Britta übereinandergelegt - sie ähneln sich sehr

Eigentlich alles an ihr sieht ihrem Vater ähnlich, findet Britta

Britta

Nachdem Britta erfahren hat, dass sie aus einer Samenspende entstanden ist, hat sich etwas verändert. Wenn sie sich jetzt im Spiegel ansieht, fühlt es sich an, als ob sie in ein Loch fällt. Die blonden Haare kommen von jemand anderem. Die Hände kommen von jemand anderem. Sie erzählt das mit der Samenspende kaum einem Menschen. Sie blieb einfach bei der alten Geschichte, erzählt, dass ihr Vater abgehauen ist. Das ist einfacher.

"Ich wollte meine Lüge aufrechterhalten. Eine Geschichte zu erzählen haben." Sie findet den ersten Vater auf Facebook, den, der sie nicht wollte. Schön, dass sie sich meldet! Er sei jetzt Reiseleiter in der Dominikanischen Republik, schreibt er. Ob sie ihn nicht besuchen wolle?

Also fliegt Britta über den Atlantik: "Bevor ich gar keinen habe, nehm ich den."

Das Treffen läuft wie im Fernsehen. Am Strand vor dem Hotel kommt er langsam auf sie zu, umarmt sie. Es fühlt sich seltsam an. Der Mann will nicht erklären, warum er sie allein gelassen hat. In den Monaten darauf halten sie den Kontakt. Zum Geburtstag gratuliert er einen Monat zu früh. Beim Weihnachtsbesuch vermeidet er ein Treffen. "Ich frage mich, was ich mir erhofft habe", sagt Britta.

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Dietrich

Dietrich schläft in dieser Zeit unruhig. Er träumt, dass er in einem fremden Haus aufwacht und nicht weiß, wo er ist. Was, wenn es seinen Samenspenderkindern genauso ging? "Ich konnte nicht ertragen, dass meine Kinder leiden." Waren die nicht auch irgendwie er? Manchmal träumt er auch, dass seine Samenfäden von ihm wegschwimmen, Köpfchen voraus und er kann sie nicht mehr fassen. "Das hat mich mit unendlicher Trauer erfüllt."

2015 sitzt Dietrich Samstagfrüh im Bett und heult. Im WDR läuft eine Doku über eine Frau namens Anja, die in der Praxis gezeugt wurde, in der Dietrich spendete. Anja ist auf der Suche nach ihrem genetischen Vater und hat sogar den Arzt verklagt, der sie zeugte. War Anja seine Tochter? Dietrich wird die Dimension seines Teenager-Abenteuers bewusst. "Ich hatte Angst, jetzt von vielen Kindern überrollt zu werden."

Trotz der Angst erzählt Dietrich seinen drei Söhnen von den Samenspenden, seine Frau wusste schon lange davon. Mit dem Einverständnis seiner Familie macht er einen Abstrich von seiner Wange und schickt die DNA in die USA, zu einer Datenbank.

Britta

Auch Britta sieht einige Jahre später eine WDR-Doku. Darin erzählen ein Dietrich und eine Anja, wie sie sich kennenlernten. Ein halbes Jahr gewöhnten sie sich aneinander und an den Gedanken, Vater und Tochter zu sein. Entdeckten Gemeinsamkeiten. Bis endlich das Ergebnis des DNA-Tests kam: keine Verwandtschaft.

Britta macht einen Abstrich ihrer Wange und schickt ihn an die Datenbank FTDNA in den USA. Am 18. Mai 2019 kommt eine Mail:

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Liebe Britta, das ist sicher auch für Dich eine interessante Überraschung in FTDNA. Wenn Du möchtest, melde Dich gerne. Ich bin auf jeden Fall sehr berührt. Gruß, Dietrich

Ein großes Haus, drei Brüder, ein Garten. Am anderen Ende von München, aber sogar in derselben Stadt. Britta kann nicht fassen, dass der Mann, der sie zeugte, die ganze Zeit so nah war. Das Spenderklavier steht in der Ecke, Dietrich hat ein Gemälde seiner Ahnen darauf platziert. Britta bemerkt es bei ihren ersten Besuchen gar nicht.

Britta sucht sofort nach Gemeinsamkeiten: die Art, wie die Haare aus dem Kopf herauswachsen, denkt Britta. Genau wie bei ihr. Und das Extrovertierte, wie sie mit Leuten sprechen, Leuten etwas verkaufen wollen. Er verkauft Software. Sie serviert Kaffee auf Messen und Parfüm bei Douglas.

Britta und Dietrich trinken Kaffee und essen Kuchen. "Das Verrückte war: Wir haben gleich gemerkt, dass wir zusammengehören", sagt Britta. "Ich glaube, dass man merkt, wenn man genetisch verwandt ist."

In der Psychologie geht man heute davon aus, dass das nicht so ist. Nähe schaffen nicht die Gene, sondern die soziale Beziehung. Aber Britta hat jetzt keine Albträume mehr.

Britta und ihr kleiner Bruder sitzen an einem Klavier, darauf steht ein Bild, Dietrich schaut zu und freut sich

Am Spenderklavier: Britta, die nicht Klavier spielt, lässt sich einige Tasten zeigen

Britta und Dietrich

Britta entscheidet, dass Dietrich von nun auch ihr sozialer Vater ist. Der Anfang sei wie eine Schwärmerei gewesen, sagt Dietrich. Er trifft Britta ständig, schreibt ihr jeden Tag. Nicht wie einer Tochter, eher wie einer neuen, guten Freundin. Die ersten zwei, drei Wochen sieht er seine Familie kaum.

Dietrich gerät mehr und mehr unter Druck. Einmal, als sie im Englischen Garten einen Spaziergang machen, treffen sie eine Arbeitskollegin. Mist, denkt Dietrich. "Da stand diese junge Frau neben mir und ich dachte: Stellst du die vor? Lässt du die links liegen?"

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Er stellt Britta als Tochter vor. Britta ist nicht überrascht, dass Dietrich das so formuliert.

Als Britta und Dietrich sich ein halbes Jahr kennen, geben sie dem Lokalsender Charivari ein Interview, der Sender titelt: "Ich habe 100 Geschwister". Als sie ihre Geschichte erzählt hat, schluchzt Britta und sagt: "Ich hätte nie geglaubt, dass ich mal dieses Glück erleben darf, was ich jetzt erleben darf."

Britta nennt Dietrich ihren Vater, seine Söhne sind ihre Brüder, für seinen Jüngsten ist Britta die "Schwesti". Er nimmt sie mit zum Baden im Bach in der Nähe, er übernachtet bei ihr, sie schauen zusammengekuschelt Charlie und die Schokoladenfabrik und spielen UNO.

Britta überlegt zu dieser Zeit, ob sie ihren Freund heiraten und Kinder mit ihm haben will. Sie will von Dietrich wissen: Willst du dann der Opa sein?

Wenn Britta krank wird, wenn sie berufliche Sorgen hat, hängt Dietrich ab jetzt mit drin. Er beginnt, sich zu kümmern. Schnell hat er mit Britta eine längere WhatsApp-Geschichte als mit jedem anderen Menschen in seinem Leben.

Dietrich hat das Gefühl, er muss das ausgleichen, was die Männer in ihrem Leben versäumt haben. Er versucht, Vatersein nachzuholen und will alles ganz genau wissen: Was hat Britta mit zehn, elf und zwölf Jahren gemacht? Wie sah sie aus? Doch er merkt zunehmend auch, wie tief er in der Sache drinsteckt.

Britta sitzt auf einem Sofa, ihr kleiner Bruder hat den Kopf in ihrem Schoß, Dietrich und seine Frau schauen zu

Sind jetzt eine Familie: Britta und ihr kleiner Bruder, Dietrich und seine Frau, zwei Brüder fehlen

Britta wird das alles zu viel. Sie fühlt sich eingeengt. Dietrichs Frau fragt, warum er mehr Zeit mit Britta verbringt als mit seiner Familie. Woher nimmt er auf einmal all diese Zeit und Liebe für diesen neuen Menschen? Dietrich und seine Frau gehen gemeinsam zu einer Therapeutin. Dietrich muss seine Prioritäten ordnen, sagt sie. Und lernen, was "väterliche Distanz" heißt.

Es kehrt Ruhe ein. Weihnachten verbringt jeder mit der eigenen Familie.

Dietrich und Britta treffen sich jetzt weniger häufig und sie schotten sich weniger ab: Britta lädt Dietrichs Frau zu einer Tupperparty ein.

"Es ist Arbeit zu lieben", sagt Dietrich. "Wir ackern wie die Ochsen, psychologisch, damit wir das als Großfamilie sauber hinkriegen. Es passiert so viel Mist auf der Welt. Sowas ist dann doch ein absolutes Geschenk des Himmels."

Britta ist heute bei drei großen Gen-Datenbanken angemeldet, Dietrich in vier. Inklusive aller Cousins kommt Britta auf 600 Matches. Alle paar Tage loggen sich beide auf der Webseite ein und schauen, ob es neue Verwandte gibt. Ab und zu pingt eine neue Cousine dritten Grades auf, neue Söhne oder Töchter hat Dietrich bisher nicht. "Aber jetzt, wenn wir auflegen, könnte eine Mail kommen", sagt Britta. "Dann wird die Geschichte nochmals neu geschrieben."

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