Dietrich
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Als er 1986 oder 1987 zum ersten Mal in dessen Behandlungszimmer sitzt, fragte der Gynäkologe Dietrich nach der Familie. Vater Professor, Mutter Lehrerin, Großvater Ingenieur, sagt Dietrich. Herpes oder Aids? Nein, sagt Dietrich. Der Arzt sagt nicht: Überlegen Sie sich gut, was sie machen. Er fragt nicht: Wollen Sie Vater werden? Es geht nicht um Moral, es geht nur um Genmaterial. Bluttest, Spermatogramm. So erzählt Dietrich es heute.
Einen Vertrag habe er nie bekommen, sagt er. Nachdem er zwei Wochen nach dem ersten Gespräch zum ersten Mal in einen Becher onaniert hat, wird ihm ein weißer Umschlag überreicht, mit seinem Namen in Handschrift darauf und 100 Mark darin. "Für die Zeit und mein Alter war das ein intergalaktischer Verdienst", sagt Dietrich.Der Mann, den Britta Papa nannte, habe in einer türkisen Schlafanzughose im Esszimmer gestanden, als Britta ihn zum letzten Mal sah. Es war ein sehr sonniger, schöner Tag, erinnert sie sich. Britta ist damals vier Jahre alt und lebt mit ihrer Mutter in München. Der Papa habe gesagt: Ich geh jetzt gleich. Er würde seinen Bruder besuchen wollen.Das war am 8. Januar 1994. Obwohl sie so klein war, weiß Britta das Datum noch genau. "Daran kann ich mich erinnern – und dann: Nichts mehr", sagt Britta.Ein oder zwei Wochen darauf öffnet die Mutter die Schranktür und merkt, dass Dinge fehlen. Sachen, die man nicht mitnimmt, wenn man nur mal für eine Woche den Bruder besucht. Dann stellt sich heraus, dass der Vater bereits seinen Job und die Bankkonten gekündigt hatte. Und Brittas Mutter steht allein da, ohne Job und mit dem Kind aus der Samenspende, in München Moosach, nur ein paar Kilometer entfernt von Dietrich, von dem Britta noch keine Ahnung hat.
Britta
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Dietrich
Auch bei VICE: Vom Slum ins reiche Elternhaus: Babyschmuggel in Bulgarien und Griechenland
Vieles in der Reproduktionsmedizin liegt im juristischen Graubereich. In Großbritannien, Norwegen und China darf es pro Spender zum Beispiel nur 15 Kinder geben. In Deutschland gibt es kein Gesetz, das die Anzahl begrenzt. Überhaupt war Samenspende hier lange schlecht reguliert. Seit 2017 gibt es das Samenspenderregistergesetz. Seitdem hat Britta einen Rechtsanspruch auf Dietrichs Identität.
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In einer zentralen Datenbank werden personenbezogene Angaben von Samenspendern und Empfängerinnen seither für 110 Jahre gespeichert. Literweise Sperma, das mit Anonymitätsversprechen abgegeben wurde, mussten die Samenbanken vernichten. Das Gesetz greift natürlich nur bei Spenden in medizinischen Einrichtungen, wer zu Hause per Becher und Bratenspritze Babys macht, fällt noch immer raus.Der Verein Spenderkinder schätzt, dass in Deutschland etwa 100.000 Menschen leben, die durch Samenspenden entstanden sind. Weil es noch nicht so lange möglich ist, Spenderväter ausfindig zu machen, ist die Community der Kinder, die ihre Väter sucht, in Deutschland noch klein.Als Jugendliche verfolgt Britta ein wiederkehrender Albtraum. Es klingelt an der Tür und davor steht der erste Mann, den sie als Vater kannte. Im Traum glaubt Britta, dass der Mann gefährlich sei und ihrer Mutter etwas antun könne, dann packt sie die Angst und Britta wacht auf.Im Frühjahr 2007 legt eine Freundin von der Kosmetikschule, in der Britta lernt, Tarotkarten: "Du wirst ein Geheimnis über dich erfahren", prophezeit sie.Ein Jahr später, im Juni 2008, sucht ihre Mutter das Gespräch mit Britta. Sie kommt gerade von der Arbeit.
Britta
- "Du bist aus einer Samenspende entstanden", sagt die Mutter. Und: "Hasst du mich jetzt?"
- Britta sagt: "Nein." Sie ist selbst überrascht über ihre Gefühle, aber statt enttäuscht zu sein, ist Britta dankbar.
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Dietrich
Britta
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Dietrich
2015 sitzt Dietrich Samstagfrüh im Bett und heult. Im WDR läuft eine Doku über eine Frau namens Anja, die in der Praxis gezeugt wurde, in der Dietrich spendete. Anja ist auf der Suche nach ihrem genetischen Vater und hat sogar den Arzt verklagt, der sie zeugte. War Anja seine Tochter? Dietrich wird die Dimension seines Teenager-Abenteuers bewusst. "Ich hatte Angst, jetzt von vielen Kindern überrollt zu werden."Trotz der Angst erzählt Dietrich seinen drei Söhnen von den Samenspenden, seine Frau wusste schon lange davon. Mit dem Einverständnis seiner Familie macht er einen Abstrich von seiner Wange und schickt die DNA in die USA, zu einer Datenbank.Auch Britta sieht einige Jahre später eine WDR-Doku. Darin erzählen ein Dietrich und eine Anja, wie sie sich kennenlernten. Ein halbes Jahr gewöhnten sie sich aneinander und an den Gedanken, Vater und Tochter zu sein. Entdeckten Gemeinsamkeiten. Bis endlich das Ergebnis des DNA-Tests kam: keine Verwandtschaft.Britta macht einen Abstrich ihrer Wange und schickt ihn an die Datenbank FTDNA in den USA. Am 18. Mai 2019 kommt eine Mail:
Britta
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Liebe Britta,
das ist sicher auch für Dich eine interessante Überraschung in FTDNA. Wenn Du möchtest, melde Dich gerne. Ich bin auf jeden Fall sehr berührt.
Gruß, DietrichEin großes Haus, drei Brüder, ein Garten. Am anderen Ende von München, aber sogar in derselben Stadt. Britta kann nicht fassen, dass der Mann, der sie zeugte, die ganze Zeit so nah war. Das Spenderklavier steht in der Ecke, Dietrich hat ein Gemälde seiner Ahnen darauf platziert. Britta bemerkt es bei ihren ersten Besuchen gar nicht.Britta sucht sofort nach Gemeinsamkeiten: die Art, wie die Haare aus dem Kopf herauswachsen, denkt Britta. Genau wie bei ihr. Und das Extrovertierte, wie sie mit Leuten sprechen, Leuten etwas verkaufen wollen. Er verkauft Software. Sie serviert Kaffee auf Messen und Parfüm bei Douglas.Britta und Dietrich trinken Kaffee und essen Kuchen. "Das Verrückte war: Wir haben gleich gemerkt, dass wir zusammengehören", sagt Britta. "Ich glaube, dass man merkt, wenn man genetisch verwandt ist."In der Psychologie geht man heute davon aus, dass das nicht so ist. Nähe schaffen nicht die Gene, sondern die soziale Beziehung. Aber Britta hat jetzt keine Albträume mehr.
Britta und Dietrich
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Er stellt Britta als Tochter vor. Britta ist nicht überrascht, dass Dietrich das so formuliert.Als Britta und Dietrich sich ein halbes Jahr kennen, geben sie dem Lokalsender Charivari ein Interview, der Sender titelt: "Ich habe 100 Geschwister". Als sie ihre Geschichte erzählt hat, schluchzt Britta und sagt: "Ich hätte nie geglaubt, dass ich mal dieses Glück erleben darf, was ich jetzt erleben darf."Britta nennt Dietrich ihren Vater, seine Söhne sind ihre Brüder, für seinen Jüngsten ist Britta die "Schwesti". Er nimmt sie mit zum Baden im Bach in der Nähe, er übernachtet bei ihr, sie schauen zusammengekuschelt Charlie und die Schokoladenfabrik und spielen UNO.Britta überlegt zu dieser Zeit, ob sie ihren Freund heiraten und Kinder mit ihm haben will. Sie will von Dietrich wissen: Willst du dann der Opa sein?Wenn Britta krank wird, wenn sie berufliche Sorgen hat, hängt Dietrich ab jetzt mit drin. Er beginnt, sich zu kümmern. Schnell hat er mit Britta eine längere WhatsApp-Geschichte als mit jedem anderen Menschen in seinem Leben.Dietrich hat das Gefühl, er muss das ausgleichen, was die Männer in ihrem Leben versäumt haben. Er versucht, Vatersein nachzuholen und will alles ganz genau wissen: Was hat Britta mit zehn, elf und zwölf Jahren gemacht? Wie sah sie aus? Doch er merkt zunehmend auch, wie tief er in der Sache drinsteckt.
Britta wird das alles zu viel. Sie fühlt sich eingeengt. Dietrichs Frau fragt, warum er mehr Zeit mit Britta verbringt als mit seiner Familie. Woher nimmt er auf einmal all diese Zeit und Liebe für diesen neuen Menschen? Dietrich und seine Frau gehen gemeinsam zu einer Therapeutin. Dietrich muss seine Prioritäten ordnen, sagt sie. Und lernen, was "väterliche Distanz" heißt.Es kehrt Ruhe ein. Weihnachten verbringt jeder mit der eigenen Familie.Dietrich und Britta treffen sich jetzt weniger häufig und sie schotten sich weniger ab: Britta lädt Dietrichs Frau zu einer Tupperparty ein."Es ist Arbeit zu lieben", sagt Dietrich. "Wir ackern wie die Ochsen, psychologisch, damit wir das als Großfamilie sauber hinkriegen. Es passiert so viel Mist auf der Welt. Sowas ist dann doch ein absolutes Geschenk des Himmels."Britta ist heute bei drei großen Gen-Datenbanken angemeldet, Dietrich in vier. Inklusive aller Cousins kommt Britta auf 600 Matches. Alle paar Tage loggen sich beide auf der Webseite ein und schauen, ob es neue Verwandte gibt. Ab und zu pingt eine neue Cousine dritten Grades auf, neue Söhne oder Töchter hat Dietrich bisher nicht. "Aber jetzt, wenn wir auflegen, könnte eine Mail kommen", sagt Britta. "Dann wird die Geschichte nochmals neu geschrieben."Folge Thembi bei Twitter und VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.