Zwei ältere Menschen und eine jüngere Person picknicken im Wald
Symbolfoto: imago images | Gerhard Leber
Menschen

"War meine Familie bei der Stasi?": Warum Ost-Kinder das zu selten fragen

Helene dürfte die Stasi-Akte ihrer Mutter beantragen – doch sie traut sich nicht.

Letzten Sommer, im Schrebergarten, verschluckten wir uns kurz am LPG-Kuchen. In einem Nebensatz hatte Tante Else ganz beiläufig erwähnt, dass Holger seinerzeit bei der Stasi gewesen sei. Abteilung für Wirtschaftsspionage. Nicht als IM, also inoffizieller Mitarbeiter, sondern ganz offiziell. Wie nennt man das, OM? Die Rentenansprüche seien gar nicht mal schlecht gewesen.

Es ist nicht so, als hätte zuvor jemand gelogen. Holger, der Verwandte, der wie auch Else eigentlich einen anderen Namen trägt, lebt schon eine Weile nicht mehr. Was er während der DDR beruflich machte, kam nie zur Sprache. Ich hatte aber auch nie gefragt. Und das, obwohl ich wusste, dass er nur aus einer Bauernfamilie stammte und trotzdem genug Geld und Kontakte hatte, um nach der Wende eine kleine Firma zu gründen.

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Holger war in guter Gesellschaft. Die Stasi war einer der größten Arbeitgeber der DDR, etwa 12.000 DDR-Bürgerinnen und Bürger sollen davon profitiert haben. Einen Onkel Holger gibt es in vielen ostdeutschen Familien. Und in vielen Familien wird nicht nach ihm gefragt oder mit ihm gesprochen. Es sind noch so viele Fragen an so viele Holgers offen: Was hast du als Unrecht Empfunden? Warum hast du mitgemacht? Wie hast du profitiert?

War Holger also ein flammender Mielke-Fan oder bloß Opportunist? Hat er nur gestempelt oder mal ein Leben zerstört? Man vermutet, dass er Schuld auf sich geladen hat, mehr oder weniger. Genau weiß man es nicht und lässt das Gespenst der Vergangenheit lieber im Schrank.


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Ein ostdeutscher Journalist stellte einmal fest, dass es eigentlich eine Art Ost-68er geben müsste. Die 68er, das war die Generation, die nach dem zweiten Weltkrieg geboren wurde und nur das neue, friedliche Deutschland kannte. In der DDR sind es die Nachwendekinder, Kinder wie ich, die um den Mauerfall herum Geborenen, die die DDR nicht mehr aus eigener Erfahrung kennen. Sie seien perfekt dafür geeignet, endlich ehrlich zu fragen, sagt die Soziologin Hanna Haag. Sie seien unbefangener und demokratisch sozialisiert.

Haag hat als erste dazu geforscht, wie Nachwendekinder mit ihren Familien über die DDR sprechen – oder schweigen. Noch wichtiger als die Gespräche sei nämlich das Ungesagte, schreibt Haag. Das Nicht-Erzählte und Verschwiegene wirke "prägend auf nachfolgende Generationen".

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Warum fragen Ost-Millennials also nicht? Haag hat in ihrer Forschung drei Arten von Familien gefunden, drei Modi, in denen Nachwendekinder die Vergangenheit für sich verarbeiten: Den Erzählenden, den Missionarischen und den Kämpferischen.

Ich rufe drei Nachwendekinder an: Mascha, mit der ich aufwuchs, Helene deren Mutter die DDR vermisst, und Jonas, der heute sein Geld mit der Aufarbeitung der DDR-Diktatur verdient.

Mascha, Jahrgang 1990, fragt sich heimlich, warum ihre Familie die Mutter allein gelassen hat

In vielem sind Maschas und meine Familie ähnlich – alleinerziehende Mütter und starke Großmütter. Mascha lebte in einer kleinen Altbau-Wohnung in Weimar, nicht weit entfernt von mir. Uns beiden wurde die Kleinstadt nach dem Abi schnell zu eng. In einem Punkt unterscheiden wir uns: Mascha nennt ihre Familie "Wendegewinner". Einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung hatte letztes Jahr herausgefunden, dass in Familien, die sich als Wendeverlierer empfinden, öfter über den Alltag in der DDR gesprochen wird. Aber ist Maschas Familie offener?

Nicht ganz. Statt Klassenkampfparolen gab es einfach gar keine Politik am Küchentisch. "Ich habe mich eine Weile aufgeregt, dass wir zu Hause nie Nachrichten gucken. Irgendwann hat mir meine Mama das erklärt: Sie hatte versucht, die Erziehung politikfrei zu halten." Auch in der Schule sollte Mascha nicht über die Probleme der Mutter zu DDR-Zeiten sprechen. "Heute wundere ich mich manchmal, dass wir unsere Geschichtslehrer damals gar nicht ausgequetscht haben. Die hatten ja während der DDR alle studieren dürfen, müssen also systemkonform gewesen sein."

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Die Wurzel des Schweigens aber liegt in der Geschichte ihrer Mutter. Denn die wollte sich als junge Frau den Gepflogenheiten der DDR nicht anpassen.

"Meine Mutter fand den Marxismus spannend, hat aber die Bücher ganz genau gelesen und festgestellt: So ist das bei uns in der DDR doch gar nicht. Wir sind eine Diktatur." In ihren Seminargruppen kritisierte die Mutter das System – sie wurde zwangsexmatrikuliert und musste das Studium abbrechen.

Maschas großes "Warum" lautet: Wieso hat sich niemand hinter ihre Mutter gestellt?

Dann kam die Wende, die Mutter durfte weiterstudieren und die Oma machte Karriere. Mascha spricht darüber oft mit ihrer Mutter. Und auch darüber, wie sie bespitzelt wurde. Maschas Großeltern sollen ihrer Tochter damals geraten haben, doch einfach den Kopf einzuziehen.

Kommt die Verwandtschaft zusammen, ist das Thema heute jedoch tabu. "In der großen Familie wird geschwiegen." Maschas großes "Warum" lautet: Wieso hat sich niemand hinter ihre Mutter gestellt?

Mascha ist nicht wütend. "Unsere Elterngeneration war sehr jung, so alt wie wir. Es gab nicht die klassischen Täter, so schwarz-weiß. Ich glaube, manche sind da einfach reingeraten."

Hanna Haag schreibt, die erzählenden Eltern vermitteln den Nachwendekindern ihre Geschichte als Experten des eigenen Alltags. Die Nachwendekinder hören einfach zu, denn sie waren nicht dabei. So wie Mascha, die mit der Erfahrung ihrer Mutter im Reinen ist.

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In Familien, die die Wende als Abstieg empfunden haben, ist das anders. Die Verlierer-Eltern empfinden ihre Erinnerungen als Mission. Sie haben das Gefühl, gegen das öffentliche DDR-Bild ankämpfen zu müssen. Manchmal übernehmen die Kinder diesen Habitus: Spricht jemand schlecht über die DDR, fühlen auch sie sich angegriffen – und verteidigen die Erinnerungen der Eltern.

Das ist der zweite Modus des Familiengesprächs über die DDR, den ich aus meiner Familie kenne – und den auch Helene erlebt hat.

Auch Helene hat oft Fragen gestellt – bis zu einem gewissen Punkt

Helene, Jahrgang 1994, kommt aus einem "Kaff zwischen Dresden und Tschechien". Ich rufe Helene an. Sie hat schon immer viele Fragen gestellt, sagt sie. Zum Beispiel: Warum bringt ausgerechnet Papa die Kohle nach Hause?

Die Frage war leicht zu beantworten. Der Vater kam aus einer Bauernfamilie, hatte das Studium abgebrochen und wurde trotzdem Journalist in Sachsen. Die Mutter dagegen hatte Chemie studiert, war immer wieder arbeitslos und machte Gelegenheitsjobs als Sachbearbeiterin und Vertreterin. "Das hat ihr Spaß gemacht, aber kein Geld gebracht".

Helene dürfte die Akte beantragen. Doch sie traut sich nicht.

Das der Vater heute mehr Geld verdient, liegt daran, dass er in Westdeutschland geboren ist, die Mutter aber in Ostdeutschland, erklärten die Eltern. "Meine Mutter war immer gut in der Schule. Trotzdem wurde manchmal anderen Vorzug gegeben, weil die in der Partei waren." Aus Frust sei die Mutter in eine andere Partei eingetreten. "Damit sie sagen kann: Lasst mich in Ruhe. Ich hab schon ein Parteibuch." Das sei das Ende ihrer Karriere in der DDR gewesen.

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Wie sehr das SED-Regime das Leben ihrer Mutter noch beeinflusst hat, könnte Helene nachlesen. Denn dann ist da noch ihre Stasi-Akte. Es ist schon einige Jahre her, dass die Mutter Helene davon erzählte. Sie habe damals gesagt: Helene dürfe die Akte beantragen, sie selbst habe aber kein Interesse daran. Doch sie traut sich nicht.

Helene weiß, dass die Mutter auch wehmütig an die DDR zurückdenkt. "Ich weiß gar nicht, was sie vom Sozialismus hält." Einen Stasi-Onkel habe sie wohl nicht, "aber ich hab es nie abgefragt".

Bis heute traut sich Helene nicht, die eigentlich wichtige Frage zu stellen. Was, wenn Familienmitglieder als informelle Mitarbeiter über die Mutter berichtet haben? Oder Freunde? "Wir haben nie darüber geredet, ob sie die Informationen dann auch haben will? Und wenn sie nichts wissen will, muss ich dann die Last allein tragen?" Wäre es die Antwort wert, dass Helenes Familie zerbricht?

Helene weiß es nicht.

Jonas, Jahrgang 1989, streitet sich gern mit Ostalgikern

Die Soziologin Helene Haag hat einen dritten Modus gefunden, in dem über die DDR-Zeit gesprochen wird: Disput. Wird in manchen Familien am Abendessentisch über die DDR geplaudert, geben die Nachwendekinder Kontra: Warum hast du dich eigentlich einsperren lassen? Oder auch: War damals wirklich alles schlecht?

Das ist Jonas Fachgebiet, die "SED-Unrechtsbereinigungsgesetze". Seit den 90er Jahren bieten Vereine und Behörden auf dieser Grundlage Beratung für Opfer der Staatssicherheit an. Jonas arbeitet in einem davon. Das hat auch mit seiner eigenen Geschichte zu tun.

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Jonas' Familie war engagiert in der evangelischen Kirche, die Überlebensstrategie seiner Eltern beschreibt er als "Biedermeier": Sie bekamen sechs Kinder, verbrachten ihre Zeit fast ausschließlich in der Familie und bläuten den Kindern die eigenen Werte ein – Musik, Schulbildung, Studium.

"Es hat ja nach 89 keiner gesagt: Ihr dürft jetzt nicht mehr zusammenhalten."

Manchmal eckten die Eltern an. Als der ältere Bruder vom Schulausflug in die NVA-Kaserne zurückkam, hatte er ein Foto eines russischen Soldaten dabei. Jonas Mutter zerriss das Bild und wurde daraufhin in die Schule zitiert: "Was ham 'se denn gegen unsere Friedensarmee?", sei sie gefragt worden, sagt Jonas. "Meine Eltern waren keine Helden, keine Widerständler. Aber sie waren auch nicht duckmäuserisch. Das hat mir was mitgegeben."

Manchmal berät er heute Menschen, die an der DDR festhalten wollen. "Die vermissen die Gemeinschaft, den Zusammenhalt, die Nachbarschaftshilfe." Jonas hält das für Bullshit. "Es hat ja nach 89 keiner gesagt: Ihr dürft jetzt nicht mehr zusammenhalten."

Gewinner oder Verlierer? Das prägt, wie über die Vergangenheit gesprochen wird

Mascha gehört wohl zur ersten, Helene und ich wohl zur zweiten und Jonas zur dritten Kategorie. Das ist nicht ungewöhnlich, erklärt Hanna Haag. Empirische Forschung gebe es nicht, aber vermutlich haben viele Nachwendekinder das Gefühl der dominanten, negativen Lesart der Vergangenheit etwas entgegensetzen zu müssen. "Im Zweifel ist man solidarisch mit der eigenen Familie."

Dabei liegt im Gespräch eine ziemlich große Chance, sagt Haag. Eine der wehmütigen Ostalgikerinnen wurde im in der Studie dokumentierten Gespräch plötzlich von der Tochter gefragt, warum sie den Unsinn eigentlich einfach so mitgemacht hatte. Die Antwort der Mutter: "Eigentlich, wenn man mal so drüber nachdenkt, war das eigentlich total absurd."

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