Das Titelbild zeigt die Illustration einer blonden Frau, die auf der Seite liegt und traurig ins Leere guckt.
Illustration: Imago / Ikon Images
Menschen

Warum bin ich morgens fröhlich und abends traurig?

Besonders dann, wenn eigentlich alles gut ist?

Der Tag ist meistens mein Freund. Es ist hell, Menschen lächeln mich an und theoretisch kann ich alles erleben, worauf ich Lust habe. OK, ich kann nicht einfach nach Hawaii reisen, aber theoretisch liegt mir tagsüber an den meisten Tagen die Welt zu Füßen.

Abends sieht das oft anders aus, die Dunkelheit ist unfreundlich. Und besonders an Winterabenden, wenn das Licht nur aus Fenstern oder Straßenlaternen scheint, neige ich zu Traurigkeit. Auch Menschen aus meinem Umfeld geht das so. Eine Freundin macht dafür das künstliche Licht in der dunklen Jahreszeit verantwortlich. Aber ich glaube, dass mehr dahintersteckt. Also habe ich den Psychotherapeuten Robert Willi um Rat gebeten. 

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Auch bei VICE: Ein Facebook-Moderator über die menschlichen Abgründe, die er sah


VICE: Warum bin ich häufig morgens fröhlich und abends manchmal traurig?
Robert Willi
: Die guten Nachrichten zuerst: Sie haben wahrscheinlich keine Depressionen. Menschen mit Depressionen sind typischerweise morgens niedergeschlagen und fühlen sich im Laufe des Tages besser. Das liegt häufig an neurobiologischen und hormonellen Prozessen im Gehirn. Bei Ihnen vermute ich aber, dass Sie tagsüber durch Ihren Job stark abgelenkt sind und sich nicht mit Ihren Emotionen auseinandersetzen. Wenn Sie sich dann abends entspannen, kommen die unerwünschten Gedanken und Gefühle hoch, die Sie tagsüber aufgrund Ihrer Arbeit verdrängt haben. 

Ich habe aber eigentlich gar keine negativen Emotionen in mir.
Sind Sie sich da sicher? Wenn man sich nicht mit den eigenen Gefühlen auseinandersetzen möchte, ist es eine sehr effiziente Methode, sich beruflich und sozial aktiv abzulenken. 

Ich bin zugegebenermaßen nicht ganz sicher. Was kann ich machen, um auch abends fröhlich zu sein?
Ihre Frage impliziert ja, dass es so sein soll, dass man auch abends fröhlich ist. Gefühle haben aber ihre Gründe. Gerade bei jungen Erwachsenen kommt es häufig zu Umbrüchen im Leben. Bekannte Familienstrukturen lösen sich auf, Bindungen zu Mitmenschen brechen ab und hohe gesellschaftliche Leistungsanforderungen drücken aufs Gemüt. Viele Menschen in Großstädten verbringen ihre Freizeit nach der Arbeit allein. Menschen sind soziale Wesen und wenn sie immer allein auf ihrem Sofa herumsitzen, macht sie das traurig. Das ist eine natürliche Reaktion. Das ist aber nur eine mögliche Ursache von vielen. Um weniger traurig zu sein, muss man die Ursache von diesem Gefühl finden und ein Gegenmittel suchen. 

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Vielleicht ist aber auch die Dunkelheit im Winter Schuld an der Traurigkeit?
Ja, die Dunkelheit kann Einfluss auf die Stimmung nehmen. Es gibt ja auch saisonale Formen von Depressionen, die insbesondere im Winter schlechter werden oder sich entwickeln. Konnten Sie denn diese Abendtraurigkeit auch schon mal im Sommer beobachten?

Ja.
Dann ist der Grund wahrscheinlich ein anderer.

In meinem Umfeld werden viele Menschen besonders sonntagabends melancholisch und hinterfragen alles. Woran könnte das liegen?
Menschen, die sonntagabends unglücklich sind und sich viele Sorgen machen, sind häufig nicht in Ihrem Job erfüllt oder sie machen sich Sorgen um Ihre berufliche Karriere. Wenn Berufstätige von Montag bis Freitag aufs Wochenende hinarbeiten und diese zwei Tage dann so schnell wieder vorbei sind, ist der Unmut natürlich groß. Mit diesem Problem kommen sehr viele Patienten zu mir. 

Warum verheddert man sich gerade abends vor dem Einschlafen in Sorgenspiralen?
Einschlafen und Aufwachen sind ganz besondere Bewusstseinszustände. In diesen Phasen sind wir deutlich näher an den eigenen Emotionen als sonst. Wenn wir träumen, bewegen wir uns vollkommen in unserem Unterbewusstsein. Beim Einschlafen und Aufwachen sind wir für kurze Zeit in einem Schwebezustand zwischen diesen beiden Bewusstseinsformen. Das Grübeln tritt besonders dann auf, wenn man unterbewusst versucht, das Gehirn aktiv zu halten und nicht zu fühlen. Wir verlieren uns in Gedankenschleifen und zerdenken immer wieder die gleichen Themen. Das Gehirn bleibt aktiv und wir rutschen nicht vollständig ins Unterbewusste, wo wir dann doch Emotionen fühlen würden. 

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Warum machen sich Menschen eigentlich andauernd Sorgen, auch wenn alles gut ist?
Kurz gesagt ist bei Menschen, die sich andauernd Sorgen machen, wahrscheinlich nicht alles gut. Sorgen sind eine schwache Form der Angst. Bei gesunden Menschen sind Sorgen ein Hinweis auf Gefahr. Früher waren diese Gefahren konkreter als heute: Hunger, körperliche Angriffe, Überschwemmungen und solche Dinge. Heutzutage sind die Gefahren, die in uns Ängste und Sorgen auslösen, viel diffuser. In unserer heutigen Gesellschaft werden wir ständig mit irgendwelchen Informationen vollgeschossen. Darauf ist die menschliche Psyche nicht vorbereitet. Wir müssen so vielen Anforderungen gerecht werden und Entwicklungen verarbeiten, dass wir oft selbst gar nicht wissen, von was wir uns eigentlich bedroht fühlen. Es ist also nicht alles gut, wir erkennen nur nicht, was schlecht ist. 

Der Mensch macht es sich dann gerne einfach und lenkt sich lieber ab, als nach den Ursachen für diese Gefühle zu suchen. Und Ablenkung finden wir heutzutage sehr leicht: Computerspiele, Social Media, Bingewatching. Das Gehirn bleibt schön aktiv, beschäftigt sich mit seiner Umgebung und nicht mit dem Innenleben. Und wir müssen nichts fühlen. 

Ist Abendtraurigkeit also normal?
Traurigkeit ist natürlich ein normales Gefühl. Auch die abendliche Traurigkeit ist normal. Ich denke aber, dass Sie eigentlich wissen wollen, ob eine Traurigkeit normal ist, die Sie für grundlos halten. Da kann ich nur sagen: Wahrscheinlich ist sie nicht ganz grundlos. Gefühle haben einen Sinn, der zu einer Handlung auffordert. Ob Angst, Ekel, Wut oder eben Traurigkeit. Alle diese Emotionen haben Auslöser. 

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Ich denke aber zugegeben, dass jeder Mensch hier und da eine gewisse Schwermut empfindet. Es läuft ja selten alles perfekt und problemlos. Diese gelegentliche Niedergeschlagenheit wird erst zu einem großen Problem, wenn sie sich zu einer Krankheit entwickelt. In diesem Fall würde diese Traurigkeit aber über Wochen und Monate bestehen und in Kombination mit anderen Symptomen auftreten. Bei einer schweren Depression kann man die Auslöser der Gefühle teilweise nicht mehr direkt erkennen. Dann ist es die therapeutische Aufgabe, diese Gründe gemeinsam zu finden. 

Wer vereinzelt traurige Abende verbringt, muss sich also nicht den Kopf zerbrechen, aber sollte trotzdem versuchen, die Auslöser dieser Traurigkeit zu verstehen.

Das heißt, ich muss mich mit meinen Gefühlen auseinandersetzen?
Ja, das würde ich Ihnen raten.

Ich wollte irgendwie, dass dieses Gespräch anders verläuft.
Das höre ich öfter.

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