Menschen

Schluss mit der nervigen Konsumkritik!

Ein Auszug aus dem Buch 'EGOISMUS. Wie wir dem Zwang entkommen, anderen zu schaden'.
Das Cover des Buchs 'EGOISMUS. Wie wir dem Zwang entkommen, anderen zu schaden', daneben das Portrait des Autors, Erik Flügge
Foto: Ruprecht Stempell

Erik Flügge ist Politikberater und Autor. Sein Buch Egoismus ist im Verlag J.H.W. Dietz erschienen.

Keine Lust mehr auf Moralpredigten? Keine Lust auf Konsumverzicht? Was wir kaufen, bestimmt das Schicksal unserer Welt. So viel ist gewiss. Deshalb tobt ein Glaubenskrieg zwischen den Konsumgegnern und den Konsumierenden um jedes Produkt – darum, ob es nun das richtige Label, den richtigen Standard, die korrekten Produktionsbedingungen hat oder nicht. Darf man Thunfisch noch essen? Wurde für dieses Fleisch ein Tier gequält? Wie viel Wasser steckt in einer Avocado? Wie weit ist jene Frucht gereist?

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Ein Glaubenskrieg, in den auch die hineingezogen werden, die ihn gar nicht führen wollen, weil es so viele für sich als Aufgabe angenommen haben, für den bewussten Konsum zu missionieren. Es sind, wie so oft, die postmodernen Prediger am Werk, die nichts mehr gestalten, sondern alles moralisieren. Die um keine politische Mehrheit ringen, sondern andere Menschen mit ihrer Moralvorstellung bedrängen. Eine beständige, unerträgliche Belästigung, weil sie darauf verzichtet, den Rahmen zum Guten zu ändern und stattdessen jede persönliche Interaktion belastet.

Moralpredigten, die jedem abverlangen, sich für jedes Produkt zu rechtfertigen. Aber wird man durch bewussten Konsum jemals ein guter Mensch ohne neuen Rahmen? Ist nicht das Gute immer gedeckelt durch die Menge an Wissen, die wir als Individuum anhäufen über Produktionsbedingungen, Lieferketten, Labels und Verfahren? Kann man überhaupt – auch wenn man seine gesamte Lebenszeit aufwendet – jemals alles so tief durchdringen, dass man bei jeder Entscheidung die moralischste zu treffen weiß? Und scheitern wir nicht spätestens genau dann, wenn wir unsere Freunde besuchen, ohne mit ihnen gemeinsam einzukaufen. Scheitern wir nicht bei jedem Restaurantbesuch, bei dem wir nicht überprüfen können, was in unserem Essen steckt? Scheitern wir nicht stetig daran, die gute Entscheidung zu treffen, weil wir nicht wissen, was die gute Entscheidung ist?

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Am Ende kann der eigene bewusste Konsum niemals mehr sein als ein Tropfen auf den heißen Stein, der mein Ego befriedigt, aber keine Gerechtigkeit erschafft. Er ist ein Wohlfühl-Egoismus, der sich als Altruismus tarnt. 

Wer im Laden steht, ist allein gelassen mit der Kaufentscheidung. Man greift nur auf das eigene Wissen, den eigenen Verstand, die eigene Ahnung vom guten Einkauf zurück und liegt mit dieser – naturgemäß – fast immer daneben. 


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Lassen Sie es mich konkret machen. Als ich mit meinem Freund zusammen Abendessen machte, stellten wir fest, dass wir für einen Fischsalat den Fisch vergessen hatten. Wir beide versuchen, bewusst zu konsumieren, aber ich esse nicht sehr oft Fisch. Ich ging also noch schnell in den Supermarkt und suchte bewusst einen Fisch mit einem Nachhaltigkeitslabel heraus. Als ich zurück in der Küche war und den Fisch auf den Tisch legte, sagte mein Freund zu mir: "Das ist das Fake-Label von der Industrie. Das echte sieht anders aus." 

Welche Chance habe ich gehabt? Ich habe mein Bestes versucht, und dennoch war mein Bestes in diesem Moment nicht genug. Ich hätte mehr wissen müssen. Selbstverständlich kann ich beginnen, mich mit Fischlabels zu beschäftigen und natürlich habe ich es getan. Auf die Frage, auf welche Zertifizierungen die Kundinnen und Kunden beim Fischkauf achten, antworteten in der Lebensmittelzeitung – das ist das Branchenblatt des Einzelhandels – 75 Prozent der Händler, die Kundinnen und Kunden legten besonders Wert auf die MSC-Zertifizierung. 

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Genau diese Zertifizierung des MSC (Marine Stewardship Council) hat es tatsächlich über zwanzig Jahre hinweg geschafft, einen international weit verbreiteten Umweltstandard zu schaffen. Allerdings schreibt der Naturschutzverband WWF, der den MSC mitgegründet hat, über das Label auf seiner Webseite: "Der WWF sieht inzwischen jedoch deutliche Mängel beim MSC" und fordert "rasche Reformen des MSC". 

Schon nach kurzer Recherche stecke ich mittendrin in ein einem Fachstreit zwischen Institutionen, die sich alle dem Tierwohl verschrieben haben. Ich lerne etwas über Beifang von Seidenhaien beim Thunfischfang. Ich lerne etwas über Fanggebiete und Überfischung, über zu jung in die Netze geratene Gelbflossenthunfische und den Skipjackthunfisch. Ich lerne, dass eingesetzte Lockbojen besonders gefährlich für Schildkröten sind, und am Ende weiß ich vieles, aber noch immer nicht, was eigentlich richtig ist. 

Mittlerweile ist mehr Zeit vergangen, als ich für den Einkauf insgesamt gebraucht habe, und auch wenn ich am Ende dieser Recherche vielleicht weiß, ob, und wenn ja, welchen Thunfisch ich noch kaufen kann, ich weiß doch auch, spätestens bei einer anderen Produktgruppe mag ich wieder den gleichen Fehler aus Unwissenheit begehen. 

Denn der Anspruch an mich selbst, bewusst zu konsumieren, ist nichts anderes als das Schicksal des Sisyphus. Jene antike Sagengestalt, die dazu verdammt war, jeden Tag einen Felsbrocken in der Unterwelt einen steilen Abhang hinauf zu rollen, nur um kurz vor dem Erreichen der Spitze zu scheitern und zu sehen, wie der Fels den ganzen Abhang wieder hinabrollt. 

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Die viel beschworene Idee vom mündigen Verbraucher ist eine Selbsttäuschung. Wir können immer nur zu einem kleinen Teil bewusst und zum größten Teil unmündig konsumieren. Die Grenzen unseres Wissens sind die Grenzen unserer Moral. Egal wie weit wir sie vorantreiben, stets wird die Mehrheit unserer Entscheidungen eher zum Schlechten denn zum Guten tendieren. 

Genau deshalb gilt es zu wissen, dass man nichts weiß. Ich weiß es nicht und kann es nicht wissen und deshalb braucht es Politik. Wie problemlos lassen sich große Zustimmungen zu der Aussage "Tiere sollten artgerecht gehalten werden" erringen, aber im individuellen Konsum drückt sich das nicht aus. 

Wenn wir nun aber anerkennen würden, dass der Mensch im Kern seines Wesens egoistisch ist, aber gleichzeitig auch auf den Zusammenhalt vertraut, dann lässt sich Apathie in politische Veränderung verwandeln. Wenn wir nicht fragen, wie der Einzelne konsumiert, sondern wenn wir die Aufgabe politisch zu lösen bereit sind. 

Soll nur Fisch verkauft werden, wenn dadurch die Fischart nicht ausgerottet wird? – Ich bin mir sicher, diese Frage wird politisch Zustimmung finden. Politisch, aber nicht individuell. Es gilt politisch den Rahmen zu verändern, dass egal, welchen Fisch ich schlussendlich als Verbraucherin oder Verbraucher kaufe, ich nicht zum Schaden der Welt handle. 

Wenn ich ehrlich bin, möchte ich die Freiheit haben, auch zum günstigsten Produkt mit gutem Gewissen greifen zu können. Ich will ein Egoist sein können. Aber für dieses gute Gewissen braucht es einen guten Standard. Denn der Wettbewerb ist doch in unsinniger Richtung verzerrt. Wir greifen zum Teil aus Sorge vor den miesen Produktionsbedingungen zur teureren Alternative, verletzen damit unser Bedürfnis, zum eigenen Vorteil zu arbeiten, und rechtfertigen dies mit Moral, aber ohne zu wissen, ob diese Alternative nun wirklich die bessere war. Wenn ein Standard definiert, dass alles, was wir kaufen können, auch gut ist, dann rückt der Wettbewerb um das bestmögliche Preis-Leistungs-Verhältnis wieder in den Mittelpunkt. 

Einzig eines ginge dabei verloren, nämlich das Überlegenheitsgefühl derjenigen, die sich in einer bestimmten Produktkategorie in besonderer Weise informiert und qualifiziert haben. Es ginge verloren jene oberlehrerhafte Herablassung, die besser Gebildete häufig gegenüber schlechter Gebildeten an den Tag legen. Es wäre vorbei mit der Rede von den "Asozialen, die das billige Fleisch kaufen". Es gäbe mehr Zusammenhalt trotz egoistischer Kaufentscheidung. Es entstünde ein Wir-Gefühl, weil eine Gesellschaft Gutes tut und nicht das Individuum.

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