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Das brutal ehrliche Reddit-AMA einer 92-jährigen NS-Zeitzeugin

Mit den Worten „Ich erlebte Nazi-Deutschland als Zivilistin. AMA,“ weckte eine deutsche Oma das Interesse hunderter wissbegieriger Nutzer.

Daniel und seine Oma. Bild: imgur, samuirai 

Gedenktage wie der Tag der Befreiung, der am heutigen 8. Mai vor 70 Jahren das Ende des Zweiten Weltkriegs markierte, halten die kollektive Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus wach—doch die Zeitzeugen, die aus erster Hand über die deutsche Gesellschaft der 1930er und 40er Jahre berichten können, werden immer rarer.

Deshalb hat der 23-jährige Daniel bei Reddit in den vergangenen Wochen ein AMA (Ask Me Anything) abgehalten und seine Großmutter von ihren Erfahrungen aus Nazi-Deutschland erzählen lassen. Das AMA liest sich nicht nur aufschlussreich sondern an einigen Stellen auch durchaus irritierend, da die 92-Jährige ehrlich berichtet und erklärt, wie sie als junges, naives Mädchen mit den Nazis an vielen Punkten sympathisierte. Sie war im Bund deutscher Mädchen (BDM) und arbeitete von 1939 bis 1945 in einer Fabrik, die Uniformen herstellte. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie von ihrer ursprünglichen Verklärung der NS-Zeit berichtet, liest sich stellenweise durchaus erschütternd, ist aber gleichzeitig ein wichtiges Zeugnis für die Frage nach dem Warum. So ist es eine offene und ehrliche Rückschau aus erster Hand, die stellvertretend auch die leichte Verführbarkeit einer überwältigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung durch die Nazi-Ideologie zeigt.

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Auch die rechtliche Aufarbeitung der Verbrechen bewertet die 92-Jährige aus heutiger Sicht nicht immer so, wie es unter anderem die deutsche Justiz (inzwischen) tut. So äußert sie beispielsweise wenig Verständis für das Verfahren gegen den 86-jährigen Oskar Gröning, dem gerade in Lüneburg der Prozess gemacht wird—wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen.

Das AMA des Stuttgarters Daniel mit seiner Oma war eine Reaktion auf die vorangegangene Reddit-Fragestunde seines Freundes mit dem Nutzernamen /u/samuirai. Dieser hatte vor circa einem Monat mit den offenen und ehrlichen Zeitzeugenberichten seiner wiederum 95-jährigen Großmutter in einem AMA hunderte wissbegieriger Nutzer auf die Plattform gelockt.

„Bevor ihre Geschichte verloren geht, dachte ich, es wäre eine großartige Idee, über ein AMA jungen Menschen wie mir die Möglichkeit zu geben, ihr Fragen zu stellen. Ihre Erfahrungen sind für mich sehr wertvoll und es wäre sehr traurig, wenn diese einfach verschwänden, beschrieb /u/samuirai seinen aufklärerischen Ansatz in einer Einführung bei Reddit.

Einer der Offiziere zog seine Waffe und schoss dem Musiker in die Brust. Er war sofort tot.

Seine 1920 geborene Großmutter aus dem Schwarzwald hatte sich bereit erklärt, alle Fragen zu beantworten. Schnell prasselten diese massenweise durch Reddit-Nutzer von überall auf der Welt auf sie ein. Zwischen Mahlzeiten, Mittagsschläfchen und Kaffeepausen stellte sich die Frau den neugierigen und kritischen Kommentaren der Nutzer. Seiner Oma hatte der Enkel die Plattform Reddit mit der Beschreibung erklärt, dass sie eine Art Computer-Zeitung sei. Die nicht immer für ihren zurückhaltenden Umgangston bekannten Redditors bat er, beim AMA entsprechend respektvoll zu sein.

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Hier ist ein von /u/samuirai heimlich mitgefilmtes Video, für das ihm seine Oma die Erlaubnis gab, es hochzuladen. Nach all den fleißigen Textantworten im Forum, dachte er, wäre es schön, die alte Dame auch einmal reden zu hören:

Auf die Frage von

dylanmurphy97

, was sie damals über die Nazis gedacht hätte, antwortet die 92-Jährige wahrheitsgemäß:

Wir hatten große Angst vor dem Krieg. Heute wissen wir was Hitler wirklich vorhatte, und das war entsetzlich. Mein Vater sagte immer, dass es schlecht ist, aber ich habe ihm nicht geglaubt. Damals gab es Unterschiede zwischen den Generationen. Wir Jungen unterstützten das, uns gefiel es, doch viele unserer Eltern unterstützen das nicht und sagten, es wäre schlimm. Nach dem Krieg wurde mir klar, dass mein Vater Recht hatte und ich fühlte mich sehr schlecht.

Das AMA offenbart an vielen Stellen auch die aus heutiger Sicht so schwer verständliche breite Unterstützung Hitlers, den allgemeinen Glauben an einen Sieg Deutschlands und die Ignoranz gegenüber einer bevorstehenden militärischen Niederlage:

Wir haben immer an den Sieg geglaubt. Auch nach Stalingrad. Absolut.

Auf die Frage nach ihrem schockierendsten Erlebnis während der NS-Zeit, berichtet die 92-Jährige von einer Situation, die sowohl den Fanatismus vieler Deutscher jener Zeit verdeutlicht als auch, dass es durchaus einige mutige, kritische Stimmen gab und wie leicht diese der mörderischen Stimmung in Deutschland zum Opfer fielen:

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Im Hindenburg-Bau in Stuttgart gab es ein sonntägliches Tanzcafé, dass ich oft mit meinen Freunden besucht habe. Ein Musiker spielte auf seiner Gitarre und sag: „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, auch Adolf Hitler und seine scheiß Partei." Es gab einen Tisch mit Offizieren in dem Café. Einer von ihnen stand auf, zog seine Waffe und schoss dem Musiker in die Brust. Er war sofort tot. […] Das war furchtbar.

Redditor Elamarine möchte spezieller wissen, wie Deutschlands Zivilisten die Soldaten aus den eigenen Reihen wahrnahm.

Während des Krieges waren wir schon ein wenig stolz auf die Soldaten, wenn sie zu Besuch kamen. Erst als uns langsam klar wurde, dass wir den Krieg verlieren würden, änderte sich diese Meinung. Wir wollten unsere Männer zurück haben. Und unsere Städte waren zerstört. Es gab keinen Ruhm für die Soldaten.

Auch für Daniel—den anderen Enkel, der mit seinem Reddit dem Vorbild samuirai folgt—ist es nicht immer einfach, wenn er hört, wie seine Oma aus der Zeit erzählt. „Sie war kein Nazi, aber damals doch recht begeistert von Hitler. Das hätte ich so nicht gedacht", wird Daniel bei PULS zitiert. Die oft geradezu naiven Ansichten, mit denen die alte Frau die Vergangenheit wieder aufleben lässt, wollen unsere Ohren nicht hören.

Wir verlangen nach geläuterten Aussagen, in denen sie auf reflektierte Weise die Geschehnisse der NS-Zeit verurteilt und die entscheidenden Personen zur Rechenschaft gezogen werden. Entschuldigend fügt Daniel hinzu, dass sich seine Großmutter nunmal nicht immer politisch völlig korrekt ausdrückt, so wie wir es heute erwarten.

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Und so kommt natürlich auch die Frage von laddism auf: Was dachtest du von der SS?

Natürlich: die Elite. Sie waren attraktive Männer und jedes Mädchen bewunderte sie. Sie waren groß und sportlich, hatten ein gutes Benehmen und ihre Uniformen waren großartig.

Als ihr Enkel sie fragte, ob sie auch schlechte Dinge über die SS gehört hätte, schüttelte sie den Kopf.

Auch ihre Antwort auf die Frage von PhantomScribbler, was sie von dem Prozess gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning halte, wird wenig verständnisvoll aufgenommen:

Verrückt. Man [kann] doch nicht jemanden 70 Jahre später verurteilen. Das Leben ist hart genug mit 93.

Handelt es sich um Altersmilde, politisches Desinteresse, die eigene Erfahrung mit dem Zahn der Zeit oder was ist der Grund für ihre Gnade?

Der riesige Ansturm der rund 3.000 Kommentare, die innerhalb weniger Tage bei Daniels Oma zusammenkamen, belegt dennoch das große Interesse solcher persönlicher und authentischer Zeitzeugenberichte, die trotz der streckenweisen Verklärung ihrer persönlichen Perspektive auch aufschlussreiche und notwendige Diskussionsanstöße darstellen. Die Bereitschaft der Frauen, sich den oft kritischen Fragen über das Dritte Reich zu stellen, beweist nicht nur ihre eigene Größe sondern zeigt auch eindrucksvoll auf welch interaktive Weise Geschichtsvermittlung in Zeiten von Social Media funktionieren kann. Viele Nutzer schreiben in dem AMA auch von ihren eigenen Großeltern oder beginnen, nach den Geschichten ihrer Familien zu forschen. Selten hat Geschichtsunterricht solche Anstöße zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegeben.

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Vor allem auch Personen aus den USA wollen an ihrem Wissen teilhaben. Ihnen fehlen Informationen und persönliche Erzählungen aus der Zeit. Natürlich wird die Frau für ihre manchmal brutal ehrliche persönliche Perspektive, die somit eine große Angriffsfläche bietet, auch beschimpft (obwohl im Internet dafür auch schon weniger kontroverse Meinungen nötig sind), doch hauptsächlich sind die User einfach froh über die einmalige Gelegenheit, mit einer Zeitzeugin über diese Epoche zu sprechen.

Vielen Dank an dich und deine Großmutter. Persönliche Accounts wie dieser sollten für zukünftige Generationen aufbewahrt werden.

Bitte lass deine Großmutter wissen, wie wichtig ihre Worte sind und sie damit an die Spitze der wichtigsten AMAs aller Zeiten stürmt und Buzz Aldrin, Harisson Ford und den Erfinder des Internets damit hinter sich lässt.

Vielleicht verstören uns einige der Ansichten und passen nicht in ein politisch aufgeklärtes, wünschenswertes Weltbild. Doch wir können dankbar sein, dass diese letzten Zeitzeugen noch leben und ihren engagierten und wissbegierigen Enkeln unbedarft aus dem Dritten Reich berichten.

Einen grundsätzlichen Konsens gibt es doch in ihren Antworten: Immer wieder betont die 92-Jährige die Grausamkeit des Krieges, die es unbedingt zu verhindern gelte.

Alles, aber kein Krieg mehr. Krieg ist das Schlimmste. Am Ende sind es die Menschen, die darunter leiden. Es gibt keine Gewinner im Krieg, nur Verlierer.

Die AMAs in ihrer vollen Länge könnt ihr hier und hier lesen.