Das unsterbliche Webdesign von Heaven's Gate
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Das unsterbliche Webdesign von Heaven's Gate

Bis zu ihrem kollektiven Selbstmord, mit dem sie in ein Raumschiff aufsteigen wollten, haben die Mitglieder des androgynen Kults Heaven’s Gate ihr Sektenleben als professionelle Webdesigner finanziert.

Am 26. März 1997 wurden 39 Personen in schwarzen Pullis und Nike-Turnschuhen in einer gemieteten Villa im Süden Kaliforniens tot aufgefunden. Es handelte sich um Mitglieder der religiösen Gruppe Heaven's Gate, die mit Hilfe großer Dosen von Phenobarbitalen und Wodka einen präzise durchgeführten Selbstmord begangen hatten. In jeder ihrer Taschen fanden die Behörden einen Fünf-Dollar-Schein und drei Vierteldollarmünzen—die interplanetare Beförderungsgebühr.

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Sie hatten versucht eine Mitfahrgelegenheit zur „Nächsten Stufe" auf einem Raumschiff zu bekommen, das sich ihrer Vorstellung nach hinter dem, auf die Erde zurasenden, Hale-Bopp Kometen verbarg. Für sie war es kein Selbstmord—sie glaubten ihre fehlbaren physikalischen „Vehikel" zu verlassen und zu einer Existenz jenseits des menschlichen Daseins aufzusteigen. Auf diese Pflicht hatten sie sich zuvor akribisch in isolierten Anlagen in Salt Lake City, Denver und in der Nähe von Dallas vorbereiteten, bevor sie ihren finalen Ruheplatz in einem Vorort von San Diego bezogen.

Neben ihrer spektakulären Abreise von dieser Welt ist im Rückblick die komplizierte Beziehung zur Technik das erstaunlichste an der Sekte Heaven's Gate: Als mediale Bilder des kollektiven Selbstmordes bleiben wohl in erster Linie die Nike-Turnschuhe, violetten Kragen und die akkuraten Stockbetten in denen die Körper lagen in Erinnerung. Weit weniger bekannt ist, dass sie ihren Lebensstil mit der Programmierung von Webseiten finanziert hatten.

Wir können auf einer Ebene produzieren, die so effizient und qualitativ nirgendwo sonst in der Computerindustrie zu finden ist.

Die 38 Heaven's Gate Anhänger und ihr Anführer, Marshall Applewhite (von ihnen „Bo" oder „Do" genannt), waren tatsächlich Webdesigner. Die Gruppe leitete eine Firma namens Higher Source. Zu ihren Kunden zählten der Polo Club von San Diego, eine lokale Gärtnerei und ein christliches Musikgeschäft. In den wilden frühen Tagen des World Wide Web programmierte diese Gruppe androgyner WG-Bewohner mit den gleichen Kurzhaarfrisuren und weiten, bequemen Klamotten in Java, Visual Basic, SQL und C++. Sie nannten es „Higher Source-Computerprogrammierung."

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Die Kultanhänger machten Systemanalysen, entwickelten Multimedia-Anwendungen und installierten Intranets: „Wir sind erfahren im Umgang mit Windows 95/NT, Novell Netware und Unix—um nur einige Beispiele zu nennen". Sie waren quasi ein Tante-Emma-Laden, des frühen WWW. Ihr Angebot sollte alles in einer Hand bündeln und von ihrem Grafik-Design versprachen sie hochtrabend:

„Higher Source kann alles von cool bis kommerziell—wie ein Chamäleon."

Neben dem technischen Wissen zeichnete Higher Source eine strenge und gemeinschaftliche Arbeitsethik aus. Im Gegensatz zu den meisten Webfirmen, wo man vielleicht nur etwas zu lange gemeinsam im Büro sitzt, wohnten die Mitarbeiter auch gleich zusammen. In ihrer spartanischen Behausung folgten sie einem strikten Ernährungsplan und kollektiven Regeln. So wurden sie zu einem unglaublich effektiven Team, das auf seine Dienste himmelhoch jauchzend anpreisen konnte:

„Individuell und kollektiv haben wir uns auf das herauswachsen aus den künstlichen Beschränkungen, die die Gesellschaft uns allen einprogrammiert hat konzentriert, um persönliche Führung und Arbeitseffizienz zu akzeptieren… Wir können auf einer Ebene produzieren, die so effizient und qualitativ in der Computerindustrie nirgendwo sonst zu finden ist."

Obwohl ihr Lebensstil durchaus futuristische Züge gehabt haben mag, war ihr Design nicht besonders innovativ. Im Rückblick ist dies jedoch schwer zu beurteilen, denn wie alle Webseiten aus den 90er Jahren wirken ihre Werke etwas lächerlich auf unseren Geschmack. Bei einem genaueren Blick zeigt sich jedoch, dass Heaven's Gate nicht die besten Webdesigner ihre Generation gewesen sind.

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17 Jahre nach dem Hale-Bopp-Exodus, ist die Higher Source Webseite längst verschwunden, obwohl sie leicht aus dem Internet Archiv ausgegraben werden kann. Die Heaven's Gate Webseite jedoch ist immer noch online. Mit ihrem Comic Sans-Titel und den Sternen vor schwarzem Hintergrund hat sie die unheimliche Ausstrahlung der Facebookseite eines Toten—halb Denkmal, halb Grabstein.

Du kannst immer noch von Mitgliedern verfasste „Earth Exit Statements" und die Presseerklärung für ihren Massenselbstmord lesen. Die Webhosting-Gebühren werden von der TELAH (The Evolutionary Level Above Human) Foundation bezahlt. Wie sich herausstellt sind es Mark und Sarah King, zwei überlebende Mitglieder von Heaven's Gate, die die Botschaft der Gruppe weiter geben wollen—oder zumindest bewahren.

Die Verschmelzung von Cyberspace und Outerspace

Heaven's Gate war der wohl erste öffentlich beachtete Kult gewesen sein, der eine Webseite für sein Evangelium benutzt hat: Statt Pamphlete an einer Straßenecke hoch zu halten, luden sie ihre Glaubenslehre auf die Webseite und verhökerten ihre Videos online. Damals wie heute war das Internet das perfekte Medium für diskrete Bekehrungen—nur dass heute alle, von den Bronies bis zu den Dschihadisten, ihre Gleichgesinnten durch eine simple Google Suche finden können.

Marshall Applewhite und seine Anhänger wollten Cyberspace und Outerspace miteinander verschmelzen. In ihrer Vorstellung wurde die verbindenden Technologien des Web zu einem Medium außerkörperlicher Erhöhung.

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Eigentlich ist es nicht wirklich überraschend, dass das sich ausbreitende Internet Mitte der 90er Jahre zum Mystizismus verleitete. Neue Technologien werden in schöner Regelmäßigkeit dafür benutzt die Grenzen von Glauben neu zu denken—vom Geist der Fotografie im 19. Jahrhundert bis zur Idee des unsterblichen Geistes von Ray Kurzweil.

Diese Rhetorik war Mitte der 1990er bei weitem nicht ungewöhnlich. In den ersten Online-Communities wurde das Web als eine Art Utopie bezeichnet. „Ich habe Datenseelen durch Silikon gespürt", schrieb Kevin Kelly, der stellvertretende Chefredakteur von Wired in „The Pearly Gates of Cyberspace". Und William Gibson pries in seinem Cyberpunk Ur-Text „Neuromancer", das „körperlose Hochgefühl des Cyberspace".

Eine andere Form evangelikaler Umarmung der Technologie des Internets finden wir heute viele Jahre später bei den Anhängern technologisierter Singularität: Sie wollen die Unsterblichkeit ihrer sterblichen Hüllen in einer Symbiose mit neuen Maschinen sichern lassen. Ich frage mich, ob Heaven's Gate, wenn sie noch einige Jahre auf der Erde geblieben wären, Anhänger des Transhumanisten Kurzweil und seinem Konzept von Singularität gewesen wären.

Heaven's Cult jedoch mussten in gewisser Weise scheitern, denn in ihrem Wunsch ihren physischen Körper hinter sich zu lassen, wählten sie mit dem Selbstmord trotz allem noch eine biologische Lösung für ein biologisches Problem.

Für Außenseiter wie die 39 zerbrechlichen Seelen, die den Kern der Heaven's Gate Gemeinschaft ausmachen, war eine solche Utopie „körperlosen Hochgefühls" eine Offenbarung. Letztendlich, ist es eine Gruppe, die im Leben—wie auch im Tod—die gleiche geschlechtslose Kleidung trug, identische Haarschnitte hatte und sich sogar freiwillig in Mexiko kastrieren ließ, um ihrem asketischen Lebensstil treu zu bleiben.

Frei von der Ablenkung physikalischer Eindrücke, ermöglichte das Internet Heaven's Cult in einer gemeinsamen Sprache zu sprechen. Wie Cybernauten in einem körperlosen digitalen Strom, waren sie Kreaturen des Äthers, die sich hinter einem Kometenschweif den Übergang in ein virtuelles körperloses Königreich erhofften