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Alkohol

Alltag und Nachwehen einer Oktoberfestbedienung

Jedes Jahr arbeitet die Fotografin Sonja Herpich am Oktoberfest als Kellnerin. Erstaunlicherweise liebt sie die harte Arbeit und sieht sie als willkommene Abwechslung zum Alltag. Viel Geld verdient man natürlich auch.

Arbeiten am Oktoberfest klingt nicht gerade nach Urlaub. 16-Stunden-Schichten in denen man an die zwölf Maß oder riesige Tabletts schleppt und sich noch von ungeduldigen Gästen anschreien lassen muss. Für einige Damen sind diese 16 Tage jedoch eine angenehme Abwechslung vom Alltag. Und bezahlt wird so gut, dass man darüber Stillschweigen bewahrt. Wir haben mit der Fotografin Sonja Herpich gesprochen, die im Hofbräuzelt arbeiten will, bis sie nicht mehr kann.

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MUNCHIES: Wie viele Jahre arbeitest du schon auf dem Oktoberfest? Sonja Herpich: Fünf Jahre, das erste Mal 2009.

Wieso hattest du daran Interesse? Mir gefällt diese Arbeit, ich arbeite gerne hart, mir machen die Menschenmassen nichts aus, ich mag das gerne. Dann dachte ich mir, so etwas möchte ich noch einmal machen, aber ich möchte keine Brezeln oder Souvenirs mehr verkaufen. Wenn schon, denn schon! Ich will Kellnerin sein. Hätte ich eine To-Do-Liste in meinem Leben, würde „als Kellnerin beim Oktoberfest arbeiten" draufstehen. Bei einem Fotoshooting traf ich eine Food Stylistin, die auch beim Oktoberfest Kellnerin ist. Wir unterhielten uns oft, weil wir immer bis zwei Uhr früh arbeiten mussten, da war viel Zeit zum Reden. Wir unterhielten uns auch über das Oktoberfest und ich erwähnte, dass mein großer Wunsch wäre, dort zu arbeiten. Sie dachte darüber nach, ich traf die anderen Mädels und so wurde ich Teil des Teams, so wurde ich Kellnerin beim Oktoberfest. Normalerweise musste du zu denen ins Büro kommen, sagen, dass du dort arbeiten willst, und dann musst du im Biergarten anfangen. Für mich war das aber keine Option, ich wollte sofort richtig anfangen, alles oder nichts. Das war meine Chance und es war perfekt.

Bist du also mit dem Oktoberfest aufgewachsen? Nein, nicht wirklich. Ich bin mit 18 nach München gezogen und seitdem ist es ein Teil meines Lebens. Davor aber nicht, weil ich in einem kleinen Familienhotel aufwuchs und da war keine Zeit, mit meinen Eltern zum Oktoberfest zu fahren. Bevor ich 18 war, war ich nie auf dem Oktoberfest.

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Ist es anders, einfach so hinzugehen, als dort zu arbeiten? Oh, das ist was komplett anderes. Jetzt, wo ich weiß, wie es hinter den Kulissen abläuft, kann ich nicht mehr als Gast zum Feiern aufs Oktoberfest gehen. Das hat meine Perspektive komplett verändert. Du weißt, wie hart alle arbeiten. Als Kellnerin hast du bestimmte Regeln im Umgang mit den Kunden, wie du dich verhalten musst, wenn dich jemand beschimpft zum Beispiel.

Wie kam also das Interesse? Für mich ist es eine Art Selbsterfahrung. Manche Leute durchqueren die Alpen für vier Wochen, um ihre Grenzen auszutesten, um herauszufinden, wie weit sie gehen können. Für mich ist das Oktoberfest so eine Erfahrung. Am Anfang oder während des Jahres denkst du dir: „Oh mein Gott, schaff ich das überhaupt? Es ist so hart." Mein Körper, die richtige Stimmung, es ist eine Selbsterfahrung. Ich will jedes Jahr wieder herausfinden, ob ich es schaffen kann, ob ich stark genug bin. Als Fotografin frage ich mich die ganze Zeit: „Soll ich das Bild von dieser oder von der anderen Seite machen?" Keiner sagt dir, wie du es machen sollst, du muss das richtige Gefühl dafür haben. Beim Oktoberfest arbeitest du einfach, ich brauch mein Gehirn dort nicht. Ich serviere einfach nur Bier und das ist ziemlich einfach. Für mein Gehirn ist es wie Urlaub, ein ziemlich einfacher Job. Kreativ zu sein ist viel schwieriger. Ich arbeite mit sechs anderen Mädels im Team und manche davon haben Kinder. Eine hat drei Kinder zu Hause und sie sagt auch zu mir, dass es für sie wie ein Urlaub ist, weil sie sich nur um sich selbst und nicht um die Kinder sorgen muss. Es ist wie eine Auszeit von deinem normalen Leben. Während dieser 16 Tage hast du keine Zeit für irgendetwas anderes, darauf musst du vorbereitet sein, so als würdest du auf eine lange Reise gehen.

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Das Oktoberfest ist vorbei. Wie ist es gelaufen? Heute bin ich sehr müde. Während des Oktoberfests haben wir alles das Gefühl, dass es ziemlich leicht ist und wir werden nicht krank. Wenn du dann aber einen Tag Pause hast, dann spürst du, wie schlecht es deinem Körper geht. Die Beine schmerzen, Krämpfe in den Muskeln. Dieses Jahr waren wir aber sehr gut organisiert, deshalb war es vergleichsweise einfach. Nicht viel Drama mit den Gästen, dieses Jahr waren sie irgendwie netter. Manchmal habe ich das Gefühl, die Italiener haben einen Ratgeber oder so etwas bekommen und jetzt wissen sie, wie sie sich verhalten müssen und wie sie mit den Leuten umgehen sollen, die dort arbeiten.

Wie sieht ein typischer Tag als Biermädchen beim Oktoberfest aus? Die schwierigsten Tage sind das Wochenende. Wir fangen zwischen acht und neun Uhr morgens an und wenn wir zum Zelt kommen, stehen schon Hunderte von Leuten an und warten, bis wir öffnen. Wir gehen rein und alles ist leer und kalt. Wir bereiten alles vor, putzen die Tische und eine halbe Stunde später öffnen die Securitys die Türen und dann drehen die Leute komplett durch. Sie rennen ins Zelt, schreien herum, suchen nach Tischen, feiern, wenn sie einen Tisch bekommen haben, und wir stehen am Rand und denken uns: „Was ist eigentlich los hier?" Um neun oder zehn fangen wir an, Bier auszuschenken und dann ist viel zu tun, bis alle Leute ihr erstes Bier haben. Und dann sorgst du einfach dafür, dass sie betrunken werden. [lacht] Du machst den ganzen Tag das Gleiche, verkaufst Bier und Essen. Überall stehen Leute herum, tanzen, schreien, springen und du musst einen Weg finden, dich durch die Leute zu bewegen. Alle wollen dein Bier haben. Du musst alles schützen, deine Taschen, du kannst nichts unbeaufsichtigt lassen, du musst alles bei dir haben.

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Bei uns müssen dann alle Leute um 15:00 Uhr wieder gehen und wir putzen alles. Und dann ist es eigentlich wie ein zweiter Morgen. Die neuen Leute sind nüchtern und du machst sie betrunken. Um 22:30 Uhr nehmen wir die letzte Bierbestellung auf und dann müssen alle Leute gehen. Das geht ziemlich schnell. Die Securitys kommen und sagen allen, dass sie gehen müssen. Wir müssen dann die Gläser abräumen, die Tische putzen. Dann trinken wir noch ein Bier, haben für uns selbst Zeit und dann gehen wir nach Hause. Um Mitternacht bin ich meistens daheim.

SonjaHerpich_Oktoberfest2014-Tag14

Nur eine Kellnerschicht den ganzen Tag, von acht Uhr morgens bis Mitternacht? Ja. Aber das ist nur am Wochenende so. Während der Woche sind die Tage kürzer. Aber an den Feiertagen, wie dem 3. Oktober, müssen wir Freitag, Samstag und Sonntag von 8:00 is 22:30 Uhr arbeiten. Das sind lange Tage. Wir haben nur kurze Pausen, aber du kannst dich nicht wirklich entspannen, weil immer so viele Menschen um dich herum sind, weil du mitten auf dem Oktoberfest bist. Du kannst dich nicht ausruhen. Du kannst eine Zigarette rauchen, spazieren gehen, aber es sind überall massenhaft Leute.

Wie hast du gelernt, so viele Bierkrüge zu tragen? Wie viele kannst du gleichzeitig tragen? Ich kann 12 Bierkrüge tragen. Es gibt eine Technik, wie man die Krüge trägt. Es sieht schwerer aus, als es ist. Mit der richtigen Technik geht's. Es ist lustig, wenn du das Bier bringst und die Jungs oder die Touristen sagen: „Wow, ich will das auch ausprobieren." Und dann: „Die sind so schwer, oh mein Gott, ich kann das nicht." Weil sie eben diese Technik nicht kennen.

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Wenn alles vorbei ist, was willst du als Erstes tun? Ein Bier trinken oder eine warme Dusche nehmen und dich massieren lassen? Beides. Morgen gehe ich mit meinem Team in ein Wellness-Hotel, wo wir uns massieren lassen und gut essen gehen.

Hast du irgendwelche besonderen Erinnerungen dieses Jahr? Was war das Beste, was dir passiert ist? Die letzte Nacht war etwas Besonderes. Wenn das Oktoberfest vorbei ist, gibt es ein Programm für alle Kellnerinnen. Im ganzen Zelt waren Wunderkerzen aufgestellt, sie haben das Licht ausgemacht, Angel von Robbie Williams gespielt und alle Kellnerinnen standen auf den Tischen. Während des Oktoberfests ist es verboten, auf den Tischen zu stehen, aber am Ende stehen alle Kellnerinnen auf den Tischen, schreien, weinen und feiern. Da bekommst du Gänsehaut, es ist fantastisch. Alle Mitarbeiter sind da und diese schwere Last fällt von deinen Schultern und du denkst dir: „Wow, es ist vorbei." Das ist immer die beste Zeit.

Gab es auch schon richtig schlimme Situationen? Ja, eine wirklich schlimme Erfahrung war, als einer unserer Gäste auf einem Zaun saß und feierte und lachte und dann plötzlich nach hinten fiel. Er fiel direkt auf seinen Nacken und kam nicht mehr hoch. Ich rief die Securitys und die Sanitäter. Ich rannte zu meinen Kollegen und fing an zu heulen. Es passierte alles so schnell. Er hatte Spaß, war am Feiern mit seinen Freunden und zwei Sekunden später lag er am Boden. In diesem Moment war das wirklich sehr, sehr schlimm für mich.

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Und du musst dann einfach mit deinem Job weitermachen? Ja. Zwei Tische weiter hatten die Leute nicht mitgekriegt, was passiert war. Also riefen mir alle zu, ich solle ihnen ihr Bier bringen. Und du hast diese furchtbaren Bilder in deinem Kopf, aber du musst einfach weitermachen, arbeiten, als wäre nichts passiert. Ich brauchte eine Pause, ein Bier, musste weinen und eine halbe Stunde später konnte ich meinen Job wieder machen.

Es ist ein echt harter Job. Ja. Die Leute hier haben nur eins im Kopf: sich zu betrinken. Und wenn sie betrunken sind, verlieren sie die Kontrolle und es passieren furchtbare Dinge. Und du bist mittendrin, nüchtern.

Ich weiß, dass manche Nationalitäten wie Italiener oder Australier einen Ruf dafür haben, besonders enthusiastisch zu sein. Du hast erwähnt, dass die USA… Die Amerikaner werden immer enthusiastischer. Ich habe das Gefühl, dass es unter jungen Amerikanern immer beliebter wird, in großen Gruppen auf das Oktoberfest zu fahren, wie Spring Break oder so. Die Italiener und die Amerikaner sind am enthusiastischsten.

Verdienst du als Kellner hier viel Geld? Ich kenne viele Mädels, die zum Oktoberfest arbeiten kommen und das ganze Jahr von diesem Geld leben… Einige Mädchen kommen aus Indien hierher, machen viel Kohle und fliegen zurück nach Indien. Man verdient viel, aber es ist ein harter Job mit langen Tagen. Aber nach dem Oktoberfest, hast du mehr Geld als davor.

Glaubst du, das ist es wert? Ja.

Wirst du es wieder machen? Ja klar, auf jeden Fall. Der einzige Grund, warum ich es nicht machen würde, wäre, wenn ich schwanger bin oder mir den Fuß gebrochen habe. Aber ich werde es jedes Jahr machen, mein Leben lang. Meine Kollegin ist schon seit 19 Jahren hier. Sie ist super, sie hat mir alles gezeigt; wie man Bierkrüge trägt, wie man mit den Gästen umgeht, wie man alles managt. Du musst deinen Bereich schützen, nett sein, aber auch tough. Du musst den Leuten klarmachen, dass sie sich an die Regeln halten müssen. Wenn nicht, schicke ich sie frische Luft schnappen oder sie müssen nach Hause. Als Kellnerin musst du die Leute auch ein bisschen davon abhalten, sich zu prügeln, aber wenn es passiert, dann kommen die Securitys und dann müssen diese Leute gehen, auch wenn sie nett sind.

Was sind jetzt deine Pläne? Hast du schon etwas vor oder willst du erst mal entspannen? Ich nehme einen kurzen Urlaub mit meiner Familie, weil ich ein kleines Kind habe. Wir fahren ein paar Tage in die Berge und dann geht's wieder mit dem normalen Leben los. Ich habe eine Einzelausstellung Ende Oktober in München. Da muss ich noch sehr viel organisieren. Ich hab also nur einige Tage Pause und dann geht es zurück an die Arbeit.

Liebe Sonja, danke für das Interview!

Fotos: Katherine Sacks, Sonja Herpich