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The Fiction Issue 2013

Candy mit Messern

Noa Jones Geschichte handelt von zwei alten Freundinnen, die einen Nachmittag auf dem möglicherweise bizarrsten Trip ihres Lebens verbringen.

Der Portier rief an. Ihr Besuch sei da. „Schicken Sie sie nach oben. Danke“, sagte Candice. Als ob sie Isobel irgend­etwas befehlen könnte. Im Bad warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel. Sie sah aus wie eine Cindy-Sherman-Fotografie. Eine Frau, die vorgibt, eine Frau zu sein. 35 Jahre alt, das Haar zum praktischen Bob geschnitten, mütterliche Arme, die aus einem fröhlich gemusterten Lilly-Pulitzer-Kleid ragten. Graugrüne Tapete mit Nachtfaltermuster umrahmte ihr Gesicht. „Alles, was ich brauche, ist eine Axt“, dachte sie. Die gemeinsame Zeit mit Isobel in der Firma hatte sie geprägt, hatte ihr geholfen, Kummer, Bulimie und Einsamkeit zu überwinden, sie heiraten lassen und ruhiger gemacht. Isobel hatte als Einzige im Büro erkannt, dass Candice nicht irgendeine langweilige Südstaatlerin war, dass sich etwas Interessantes hinter ihrer äußeren Erscheinung verbarg. Ein Jahrzehnt war vergangen, aber vielleicht war doch noch ein Rest der Dunkelheit vorhanden, die durch Isobels Gegenwart aufgewühlt werden könnte. Sie klappte das Medizinschränkchen auf, wodurch ihr Spiegelbild nun im Profil zu sehen war, und betrachtete nachdenklich eine gelb-orange Ampulle. Etwas für die Nerven. Vielleicht unnötig. Sie hörte das leise Ping des Aufzugs und schloss den Spiegel. Ihr Gesicht entspannte sich wieder. Ihr Lächeln ebenfalls. Isobel trat aus dem Aufzug. Sie sah aus wie ein Hightech-Utensil. Etwas, womit man eine Schraube anziehen würde. Dürr in schwarzer Cordhose, schwarzem Pferdeschwanz, schwarzem Hemd, darüber eine maßgeschneiderte Jacke. Blass wie eh und je. Sie hatte keine Handtasche dabei. Sie riss ihre Hände hoch und sagte in singendem Tonfall: „Hi-i-i!“ „Hi, du!“ Candice zögerte, sie wusste nicht, was sie mit ihren Armen machen sollte. Sie hatte Isobel nicht als Umarmerin in Erinnerung. Vielleicht würden sie sich auf die Wange küssen oder sogar die Hände schütteln. Sie sah aus wie eine Handschüttlerin. Aber Isobel ließ sich umarmen. Ihr Haar duftete. Als ob sie aus einem Zimmer voller Weihrauch getreten wäre. Candice schloss ihre Augen und sah Pfauenfedern und edelsteinbesetzte Skarabäen. Sie achtete darauf, nicht zu stark oder zu lang zu umarmen, mit Rücksicht auf all die scharfen Kanten von Isobels Knochen und Kleidung. Sie trat zurück: „Du bist so dünn.“ „Ich hatte ganz vergessen, dass ihr Leute hier oben euch so begrüßt“, sagte Isobel und trat zur Seite. „Ist das nicht besser als hallo?“ Candice war sich nicht sicher, ob sie sie beleidigt hatte, oder ob sie sich beleidigt fühlen sollte. Ihr Leute. „Wow, hier sieht’s ja aus wie in einem Magazin“, sagte Isobel, als sie das Apartment betrat. „Welches Magazin?“ „Soldier of Fortune.“ „Ich hatte eigentlich mehr den Fetter-Hintern-Look im Sinn, aber Soldier of Fortune ist auch OK. Möchtest du Kekse?“ „Ja. Wenn du mit Keksen keine Kekse meinst.“ „Mit Milch?“ „Wenn die Milch aus der Brennerei kommt, ja, bitte.“ „Eis?“ Isobel nickte. Auf dem Weg zum Spirituosentablett rückte sie den Elfenbeinaschenbecher auf dem Couchtisch gerade. Sie mochte es, dass es an bewölkten Tagen keine Schatten gab. Weniger direktes Licht bedeutete weniger Schatten. Das Apartment wurde in gleichmäßiges Licht getaucht. Das offene Wohnzimmer mit seinem großzügigen Schnitt, seinen verschiedenen Sitzgelegenheiten, der Aussicht auf den Central Park erfüllte Candices Bedürfnis nach Ausgewogenheit. Sie hatte eine perfekte Mischung aus Eleganz und Bodenständigkeit verwirklicht. Blassgoldene Wände, wie sie sie in einem Schloss in Frankreich gesehen hatte, große Landschaftsmotive in vergoldeten Rahmen, ein Mahagoni-Schreibtischset hob sich von einem rauen Sisalteppich ab, einem klobigen Gummibaum und wie echt wirkenden Tierdruckkissen. Stapelweise Bildbände und vereinzelt herumliegende Spielzeuge erweckten den Eindruck eines gesunden Durcheinanders. Isobels Blick blieb an Calebs Schlagzeug hängen, roter Glitzer und straff gespannte weiße Kreise in der Sonne. „Mein Sohn, Caleb. Er ist mit der Nanny unterwegs.“ Das waren gleich mehrere Fremdwörter. Candice spürte einen Druck hinter ihrem Gesicht. Plötzlich prustete sie los. Und dann auch Isobel. Sie lachte. Laut, aber nicht so laut wie Candice. So ging es einige Minuten lang, Eis tropfte auf den Teppich aus dem ansonsten leeren Glas, das Candice gerade füllen wollte. Ihre Bauchmuskeln begannen zu schmerzen. So hatten sie immer im Büro gelacht hinter den isolierten Wänden der Boxen. Der Ort war eine Bühne, auf der sich die Kollegen höchst hingebungsvoll einem Scharadespiel widmeten, während sie Geschäftsabschlüsse vermittelten und dabei völlig in ihren Rollen aufgingen—der herrische Chef, der Eins-a-Banker, der übereifrige Praktikant. Candice und Isobel spielten Angestellte mit minimalem Arbeitseifer, beobachteten lieber die anderen, statt zu arbeiten, oder trieben zuweilen ihre Spielchen mit ihnen mit einer Rücksichtslosigkeit und Schärfe, die sie beide teilten. Isobel schrieb absurde Sätze auf Klebezettel und hängte sie an merkwürdigen Orten aus. Die Durchschnittswolke wiegt so viel wie 100 Elefanten. Candice steckte ihren Rock absichtlich in ihre Unterwäsche, um zu sehen, welcher der Broker seine Verlegenheit überwinden und sie darauf aufmerksam machen würde. Sie machten Telefonscherze, und als ihr Chef sie einmal um ein chinesisches Essen für einen wichtigen Kunden aus Hongkong bat, bestellten sie Fische, deren Köpfe noch dran waren. Sie beobachteten die Banker, die angestrengt versuchten, so zu tun, als sei alles in Ordnung. Und sie kamen aus dem Lachen nicht mehr heraus. Wie jetzt. Nach einigen erfolglosen Unterbrechungen hörte Candice schließlich auf. Sie musste sich die Tränen aus den Augen wischen und hatte das Gefühl, etwas irgendwie Peinliches öffentlich preisgegeben zu haben. „Wow“, sagte Isobel. Sie hatte gar nicht so laut gelacht. Ihre Augen waren trocken. Sie hat es wohl nicht so dringend nötig gehabt. Candice suchte nach etwas, was sie sagen konnte. „Du siehst wirklich dünn aus.“ Ihr Hals war feucht und ihr Eyeliner verschmiert. „Du nicht, aber ich mag es ein bisschen kompakt. Sieht gut aus. Mir gefallen auch die Farben“, sagte sie über Candices Kleid. Isobel konnte spitzzüngig sein, aber zumindest war sie ehrlich, geradeheraus, und darin lag eine gewisse Freundlichkeit. Die anderen Mütter waren Expertinnen darin, ihre Bosheit und ihre Beleidigungen in Komplimente zu verpacken. „Ich habe deinem Kind ein Geschenk mitgebracht.“ Isobel griff in ihrer Jacke nach einem flachen Viereck, das in Reispapier gewickelt war. Candice reichte ihr den Highball mit einem großzügigen Schuss Scotch und nahm das Geschenk entgegen. „Eigentlich ist es für dich“, sagte Isobel. „Ich habe vergessen, etwas für den Jungen zu kaufen. Aber vielleicht gefällt es ihm. Mach es auf.“ Candice strich mit ihren Daumen über das wunderschöne Papier. „Geschenke auspacken ist Calebs absolute Lieblingsbeschäftigung.“ „Ist es nicht auch deine Lieblingsbeschäftigung?“ „Ja, ist es.“ „Also, warum dann dem Jungen den ganzen Spaß lassen?“ „Genau. Fick ihn.“ Die Worte fuhren Candice wie Messerstiche zwischen die Rippen. So fühlte es sich also an, wenn man zu weit geht. Sie setzten sich. Sie fing an, das Geschenk auszupacken. Dann hielt sie inne. „Warte.“ Candice stand auf und goss sich noch einen Drink ein. „OK, kannst du das noch mal sagen? Das, was du zuletzt gesagt hast?“ „Ein neuer Versuch?“ „Ja.“ Sie nahm einen Schluck. „Das ging zu weit?“ „Ja“, sagte Candice. „OK, dann—also, warum soll nur der Junge den Spaß haben?“ „Du hast recht. Ich packe es aus und teile es später mit ihm“, sagte sie, kein fick ihn, und dann öffnete sie das Geschenk. Es war ein Paket exquisiten Origamipapiers, fein säuberlich angeordnet, sodass ein winziger Streifen jeder Farbe zu sehen war. Ein ganzes Spektrum satter, opaker Farben und Muster. „Da kann ich mich ja kaum zurückhalten“, sagte Candice. Isobel nickte zustimmend. „Warst du in Japan?“ „Letzten Monat. Auf dem Weg nach Seoul.“ „Da warst du also, als ich dir geschrieben habe?“ „Nein, Brasilien. Ich bin von Seoul nach Brasilien gefahren.“ Isobels Blick ging in die Ferne, sie erinnerte sich an etwas. „Das erklärt wohl deinen sonnenverwöhnten Teint“, sagte Candice sarkastisch. Isobels Haut war so blass wie der allerweißeste Champignon. Isobel berührte ihren Kiefer. „Ich hatte vor einiger Zeit Hautkrebs“, sagte sie. „Keine Sonne mehr.“ Candice erstarrte, Entschuldigung, aber Isobel schien nicht verletzt, schien kein Mitgefühl zu erwarten. „Mir geht’s gut“, sagte sie. „Mach dir keine Sorgen.“ Ihr Gesicht erinnerte Candice an das des Präsidenten. Gut aussehend, unergründlich. Unter ihren ernsten Augen befanden sich feine Vertiefungen, und ihre Lippen waren voll, aber ungeschminkt und gekräuselt, als ob sie sie für sich behalten wollte. „Sei’s drum. Brasilien. Brasilien war großartig.“ „Mit wem warst du dort?“ „Einem Guide. Und meiner Freundin Sarah. Wir haben einige Zeit bei einem Stamm verbracht.“ Sie sagte ein Wort, das Candice nicht verstand. Etwas Gutturales. „Es war eine Erfahrung.“ Candice fühlte, wie sich das Fleisch ihrer Schenkel ausdehnte. Der Scotch vertrug sich nicht gut mit den drei Schüsseln gezuckerter Cerealien, die sie vorher in der Küche verzehrt hatte. Isobel eröffnete die Möglichkeit einer Unterhaltung über tiefgründige Dschungelerfahrungen, vielleicht über Schamanen und die Rettung des Planeten. Über ihre unglaublich abenteuerlustigen Partner, die ein ungebundenes Leben führten, entschlossen und selbstbewusst. Das machte Candice Angst. „Hattest du viele Mückenstiche?“ „Ja, eine ganze Menge.“ Isobel lächelte auf eine Art, die Candice nachsichtig vorkam, aber auch mitleidig gewesen sein könnte. Sie deutete auf das Origamipapier. „Mach etwas.“ „Ich weiß nicht mehr wie.“ Sie entfernte das Klebeband und holte verdrießlich ein kobaltblaues Viereck hervor. „Wo ist der Haken?“ „Kein Haken. Mir gefielen einfach die Farben“, sagte Isobel und schaute zu. „Mir gefallen sie auch. Ich wollte mich nicht beklagen. Aber da es von dir kommt, dachte ich einfach, dass es sich von selbst falten würde oder so was.“ Dieses einfache Geschenk ergab keinen Sinn. Isobel war normalerweise so fortschrittlich und umgab sich mit den seltsamsten, aber innovativsten Gegenständen. Damals in der Firma war Isobel immer pünktlich, roch allerdings oft nach Zigaretten und trug irgendwelche billigen Kostüme von Daffy’s. Auf ihrem Handrücken verschmierte Kneipenstempel. Die Risikokapitalgeber achteten nicht auf Details. Sie war ein Rock. Wie Candice. Sie erledigten ihre Arbeit. Tippten, erstellten Tabellen, entfernten Thermopapier aus dem Faxgerät, ersetzten durchweichte Kaffeefilter. Dekolletés wurden geschätzt. Gewisse technische Fähigkeiten waren erwünscht. Candice fand Entspannung darin, die DOS-Codes als blinkende Zahlen auf ihrem algengrünen PC-Monitor einzugeben.

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Aber Isobel war das zu langweilig geworden. Zu ihrer Unterhaltung versuchte sie zu verstehen, was genau sie eigentlich machten. „Diese Arschlöcher machen Millionen Dollar“, hatte sie Candice gesagt. „Aber sind sie denn wirklich so schlau? Oder fleißig?“ Dann schenkte der IT-Techniker, mit dem sie damals flirtete, ihr ein CompuServe-Konto. Er erklärte ihr, wie man Nachrichten über das Internet verschickt. Sie beschloss, die Firma mit dem Konzept der E-Mail, des World Wide Web und des digitalen Ticker Tracking bekannt zu machen. Das ist schon so lange her. Frühe 90er. Sie sah die Revolution kommen und handelte ohne zu zögern. Sie kaufte flugs URLs für einige der großen Unternehmen auf, die noch nicht ins Spiel eingestiegen waren—Merck, Pepsi, Sony, Exxon—sodass sie die Adressen von ihr zu immens überhöhten Preisen zurückkaufen mussten. Isobel schaffte es vom Sekretärinnenpool zur technischen Beraterin und leitete schließlich ihr eigenes Multimillionendollar-Unternehmen, indem sie zweimal reibungslos einen Gang zugelegt hatte. Nun arbeitete ein hingebungsvolles Team aus Genies in einem Tribeca-Loft für sie, während sie die Welt bereiste, jedoch selten nördlich der 23. Straße.

Diese Geschwindigkeit hatte bei Candice Panikattacken ausgelöst. Alles ging viel zu schnell. Wurde zunehmend unfassbar. Vielleicht hatte Isobel ihr deshalb Papier geschenkt. Vielleicht hatte sie erkannt, dass Candice in den Sandkasten gehörte mit Bauklötzchen und Knetmasse. Sie wollte noch nicht einmal wissen, was in Brasilien passiert war. „Du hältst mich für spießig“, sagte Candice. „Ich denke, du erinnerst dich, wie man etwas faltet.“ Candice drehte das Blatt Papier um. Ihr gefiel nicht, dass es auf der anderen Seite weiß war. Sie wollte durchgehendes Blau, durch und durch. „Ich könnte vielleicht ein Koksbriefchen falten …“ „Gute Zeiten.“ „Nimmst du noch Kokain?“ Das Wort löste auf ihrer Zunge mit einem Mal ein heftiges Verlangen aus, das sie seit Langem nicht mehr gespürt hatte. „Nein. Kein Koks. Kein Speed. Ich habe auch mit dem Rauchen aufgehört.“ Candice erstarrte in Selbsthass. Es fiel ihr schwer, das Gespräch in Gang zu halten. Sie drehte das Papier um und faltete es zum Dreieck. „Ich kann Himmel und Hölle falten, weißt du, so ein Wahrsageding.“ „Na also.“ Candice faltete Dreiecke in Richtung der Mitte des Vierecks. Eine Herausforderung an ihre motorischen Fähigkeiten. „Aber wir müssen uns noch die Weissagungen ausdenken, die man hineinschreibt. Sonst funktioniert es nicht. Das ist der schwierige Teil. Wir müssen uns acht verschiedene ausdenken, eine für jedes Dreieck.“ „Du schreibst vier Weissagungen, und ich schreibe vier“, sagte Isobel. „Aber was?“ „Ich schlage vor, du schreibst das Gemeinste, das dir einfällt. Schreib das, wovon du glaubst, dass es mich am meisten verletzen würde.“ „Das nennst du Spaß?“ „Aufschlussreich“, sagte Isobel. „Was wirst du schreiben?“ „Das wirst du sehen, wenn wir spielen.“ Candice drehte das Viereck um und faltete die Ecken wieder nach innen. Isobel saß im Schneidersitz neben dem Gummibaum und blätterte ein Buch durch, das sie vom Couchtisch gezogen hatte: Vogues Hochglanztribut an die Welt des Modeschmucks. Isobels Anwesenheit machte Candice das Atmen schwer. So wie damals, als sie ein Mädchen war und ihrem Vater dabei helfen musste, die Hühner vor einem Waschbären in Sicherheit zu bringen, der in den Hühnerstall eingedrungen war. Die Luft war zum Ersticken voll mit Federn und tierischen Hautschuppen. „Ich bezahle jemanden, der mich hungern lässt“, sagte Candice und faltete die Ecken des Papiers. „Nur damit du es weißt. Falls du etwas Munition für deine Weissagungen brauchst. Und mit der Summe, die ich für Fruchtbarkeitsbehandlungen ausgegeben habe, ließe sich vermutlich die Wiederaufforstung deines Amazonas bezahlen. Ich wollte meine eigenen Gene. Ich wollte mich und Avi in ein anderes Wesen verwandelt sehen. Natürlich bekam ich ein Mami-Spezial. Weißt du, sie schneiden dich beim Kaiserschnitt ja sowieso auf, warum da nicht gleich ein bisschen Fett absaugen?“ Candice schaute auf die Rolle an ihrem Kleid hinunter. „Ich weiß, man merkt es nicht.“ Diese Beichten verschafften ihr etwas Erleichterung. „Da ist noch etwas anderes. Botox. Ich mag es, wenn alles glatt ist. Siehst du? Ich kann meine Stirn nicht verziehen. Und ich bin süchtig nach Diätlimonade und Kabel-Fernsehen. Und eigentlich mag ich keine Menschen, niemanden, also tue ich so, als wäre ich die ganze Zeit beschäftigt. Das ist wahrscheinlich mein ehrgeizigstes Ziel. Mich rauszuhalten. Ansonsten habe ich keine Ziele, und ich will auch keine Ziele. Ich nehme Pillen, zwei vor dem Schlafengehen, um zu verhindern, dass ich ausraste. Nur damit du weißt, mit wem du es hier zu tun hast.“ Isobel lachte leise. „Das ist echt gut, Candy.“ „Lach mich nicht aus.“ „Ich lache nicht. Ich bin gerührt. Du sorgst für dich. Das solltest du auch tun. Was auch immer es kostet. Wie auch immer es dir vorkommt. Das ist wirklich gut. Du solltest damit weitermachen.“ „Aber warum fühlt es sich dann nicht gut an? Warum schäme ich mich so sehr, dir das alles zu erzählen?“ Isobel sagte: „Weil. Weil du überzeugt davon bist, dass du wirklich existierst.“ Candice wartete darauf, dass sie weitersprach, doch Isobel wandte sich wieder dem beiläufigen Durchblättern ihres Buches zu. „Diamanten“, sagte sie leise. Candice drückte das Papier in seine endgültige Form. Sie steckte ihre Finger in die Falten und öffnete die Origamiform—vier mitei­nander verbundene Pyramiden, deren Unterseiten die Weissagungen beinhalten würden. Den Kuli klickend schaute sie ihre Freundin an. „Oh Mist! Ich klicke mit meinem Kuli“, sagte sie. „Schon OK“, meinte Isobel. „Tut mir leid.“ „Wirklich, alles gut. Es ist nervig, aber ich werde nicht …“ Candice hatte das vergessen. Dass sie einmal eine Woche lang nicht miteinander gesprochen hatten wegen des Kuliklickens, weil Candice sich in langweiligen Momenten nicht beherrschen konnte, und wie Isobel ausgerastet war. Isobel hatte ein Gehör wie ein Hund. Zuckte schon beim Geräusch des Dosenöffnens zusammen. Durch das Kuliklicken lernte Candice zum ersten Mal ihre gemeine Seite kennen, die Seite, die nicht auf ihrer Seite war. „Wirklich, mach weiter, alles OK. Klicke. Schreib die Weissagungen zu Ende.“ Candice beugte sich über das Papier und schrieb die ersten vier Weissagungen auf, die ihr in den Sinn kamen, faltete das Origami wieder zusammen und reichte es Isobel. „Du bist dran. Viel Spaß dabei.“ Isobel nahm das Papier und den Kuli. Sie verdeckte sorgfältig die Seite, auf die Candice geschrieben hatte, und fing an zu kritzeln. Als sie fertig war, lächelte sie und sagte: „Lass uns was essen.“ „Ich bin nicht hungrig.“ „Ich habe Drogen dabei, die auf leeren Magen nicht bekömmlich sind“, sagte Isobel. „Habe ich etwa gesagt, dass ich Drogen nehmen will?“ „Noch nicht. Nein, hast du nicht. Willst du?“ „Was für Drogen?“ „Nur eine Sorte. Was Spezielles. Nichts, was du schon mal ausprobiert hast.“ Candice nahm jede Menge Drogen, aber es war schon lange her, dass sie welche ohne Genehmigung der amerikanischen Drogenbehörde DEA genommen hatte. Manchmal drückte sie ihren Daumen und ihren Zeigefinger so zusammen, als würde sie einen Joint halten, führte sie an die Lippen, inhalierte langsam und füllte ihre Lungen mit einem Zug Nichts. Vielleicht war es die Bewegung und die Veränderung der Atmung, doch diese Geste konnte eine kleine Verschiebung in ihrer nüchternen Wahrnehmung bewirken. „Bist du verrückt? Hast du eine Ahnung, was es bedeutet Mutter zu sein? Ich kann nicht den ganzen Nachmittag Drogen sniffen.“ „Du musst es nicht sniffen. Aber sniffen ist am besten. Wir können es auch rauchen.“ „Caleb kommt um vier zurück, und ich muss handlungsfähig sein. Avi kommt normalerweise nicht vor neun nach Hause.“ „Es dauert etwa zehn Sekunden, bis es in deinem Blutkreislauf ist“, sagte Isobel. „Und dann hält es nur etwa dreieinhalb Minuten an. Aber vorher müssen wir wirklich etwas essen.“ „Aber wir haben bisher noch gar nicht über normale Sachen gesprochen. Zum Beispiel wie es dir geht und was es Neues gibt und all das. Ich denke, wenn ich mit dir Drogen nehme, will ich das vorher wissen, denn vielleicht bist du ja komplett verrückt geworden und willst mich vergiften oder so.“ „Das lässt sich machen, wir können quatschen. Wir sollten das tun. Entschuldige, das war unhöflich von mir. Ich würde gerne auf dem Laufenden sein. Deshalb bin ich hier, oder? Lass uns etwas zum Lunch essen und quatschen, und dann sniffen wir ein paar Drogen.“ Sie saßen in der Essecke und teilten sich einen Rest Paella. Sie sprachen über die gewöhnlichen Dinge, Isobels Freunde, Krebs, Politik. Als es zu einer angemessen langen Gesprächspause kam, legte Isobel beide Hände auf den Tisch und zog ihre Schultern hoch. „Also, was meinst du?“ „Wo sollen wir es tun?“ „Hier ist es gemütlich. Du hast eine hübsche Küche. Und die Aussicht auf den Park ist so schön.“ „Ja, ich habe wirklich eine hübsche Küche. Ich liebe meine Sitzecke.“ „Du wolltest schon immer eine Sitzecke.“ Sie räumten den Tisch ab, und Isobel sagte, sie müsse ein paar Sachen holen und würde gleich zurück sein. Als sie zurückkam, hatte sie das Origami dabei, zwei Gläser Wasser und ein Silbertablett. Sie setzten sich wieder hin. Isobel rollte ein Blatt lindgrünes Origamipapier mit der weißen Seite nach innen zu einem Strohhalm zusammen. „Also, wie heißt es? Wie wirkt es?“ „Es heißt Maras Pfeil. Es gibt eine chemische Bezeichnung für die synthetische Version, die ein Ethnopharmakologe in Houston entwickelt hat, der sich im Amazonas aufgehalten hatte. Aber was ich hier habe, ist natürlichen Ursprungs. Sie nennen es den Schild des Schamanen.“ Sie machte ein anderes gutturales Geräusch. „Maras Pfeil?“ Candice wollte es aufschreiben. „Pfeil, der Mara gehört. Er personifizierte das Böse, das Pfeile negativer Emotionen auf Buddha schoss, als er während der letzten Phase seiner Erleuchtung unter dem Bodhibaum saß.“ „Ist er so gestorben?“, fragte Candice. „Die Pfeile erreichten Buddha nie, weil er einen Zustand erreicht hatte, in dem er nichts mehr zu verlieren hatte, sodass die Pfeile ihre Wirkung verloren. Pfeile der Eifersucht, der Wut, der Angst, sie alle verwandelten sich in Blumen, weil Buddha durch Ichlosigkeit geschützt wurde. Der Schamane erzählte eine ähnliche Geschichte, aber mit anderen Figuren. Ich glaube, Buddha starb, weil er giftige Pilze gegessen hatte.“ „Was wird denn passieren?“ „Du wirst dich angegriffen, aber auch beschützt fühlen.“ Isobel zog einen kleinen Umschlag aus ihrer Jackentasche und streute ein graues Pulver auf das Tablett. „Werde ich halluzinieren?“ „Du wirst glauben zu halluzinieren, aber du wirst nicht halluzinieren. OK? Das musst du verstehen. Es ist keine Halluzination. Und du glaubst vielleicht sogar, dass du halluzinierst, obwohl nur ich high bin.“

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Sie fing an, es in feine Linien zu ziehen. Candice bemerkte, dass sie an ihren langen Fingern mehrere ungewöhnliche Ringe trug. Solche, die man erbt oder speziell für sich entwerfen lässt. Die Steine hatten Persönlichkeit. Candices Ehering war vollkommen unoriginell. Ihre Finger waren dicker geworden. Ihre Nägel waren, wie ihr nun schien, mit einem schreienden Pink lackiert verglichen mit Isobels natürlichem Glanz. Im hellen Licht der Küche erschien Isobels Kleidung nicht länger schwarz, sondern mitternachtsblau. Ihr Haar ebenfalls. Würde jemand an den steinernen Wasserspeiern ihres Wohnhauses hinaufklettern und sich vor das Fenster hocken, sähe er eine Zauberin, die einer Clownin Asche serviert, dachte sie. „Ich weiß nicht“, sagte Candice. „Weißt du auch nicht.“ „Ich meine, ich sitze hier und hasse mich selbst. Vergleiche mich mit dir. Ich glaube, das ist für mich kein guter Zeitpunkt, Drogen zu nehmen. Ich werde so paranoid, wenn ich Gras rauche.“ „Es ist der perfekte Zeitpunkt. Du wirst vielleicht am Anfang ein bisschen paranoid werden. So etwas würde ich dir nie verheimlichen. Aber dann wirst du das Gegenteil von paranoid.“ „Ich denke immer noch, dass du es zuerst nehmen solltest.“ „Aber sicher. Kein Problem“, sagte Isobel. „Tu einfach nur, worum ich dich bitte. Ich werden deine Hilfe brauchen, damit es gut wird. Und was du siehst, wenn ich sniffe, ist keine Halluzination.“ „OK.“ Isobel führte den Strohhalm an ihre Nase, dann hielt sie inne. „Und ich meine es so, was auch immer ich sage. Tu es.“ „Ich habe doch OK gesagt.“ Isobel sniffte schnell hintereinander zwei Linien und stellte das Tablett zur Seite. Sie hielt den Atem an und machte ein Gesicht, als würde sie aufmerksam etwas sehr Leisem lauschen. Die Küchenuhr tickte. Eine ganze Minute verging, und dann rollten zwei Tränen ihr Gesicht hinunter, während sie langsam ausatmete. Sie legte ihre Hand vor ihren Mund. Ihr Wangen blähten sich auf, als ob sie sich gleich übergeben müsste, aber als sie ihre Hand zurück auf den Tisch legte, lagen da—so erschien es Candice—zerdrückte Blütenblätter auf ihren Fingern. Isobel zog ihre Füße unter dem Tisch hervor und setzte sich in den Schneidersitz, ihre Augen öffneten sich, aber nur ein wenig, und blickten starr auf einen Punkt unmittelbar vor ihrer Nase. „Lies mir diese Weissagungen vor, Candy. Die, die du geschrieben hast.“ Während sie sprach, quollen Veilchen zwischen ihren Lippen hervor. Echte Veilchen mit weichen, samtigen Blütenblättern. Candice griff über den Tisch, um eine zu berühren, und Isobel öffnete ihre Augen. „Wir haben nicht so viel Zeit.“ Candice zog ihre Hand schnell zurück. „Aber da sind Blumen.“ Sie hielt das Veilchen an ihre Nase und atmete ein. „Ja. Lies jetzt.“ „So spielt man das nicht. Du musst eine Zahl auswählen und dann noch eine Zahl und so.“ „Ist OK. Wir beide wissen, dass es auf die letzte Zahl hinausläuft. Ich möchte nur die Weissagungen hören, die du geschrieben hast.“ Ihre Stimme war leise. „Lies die Neun.“ Candice faltete das Papier auseinander und las die Weissagung. „Du bewirkst, dass Menschen sich unwohl fühlen.“ Isobel nickte langsam. „Und weiter?“ Als sie das sagte, fielen ihr drei Gerbera aus dem Mund. Sie hatten keine Stängel und waren frisch. „Mein Mann glaubt, dass du Chuck gefickt hast.“ Isobel schaute mit hochgezogenen Augenbrauen hoch, die besagten: Bist du verrückt? Sie zuckte mit den Schultern. „Und weiter?“ Dieses Mal gab es keine Blumen. „Du würdest keine gute Mutter sein.“ Isobel nickte. Einige Blütenblätter fielen. Candice wünschte sich, sie hätte diese Letzte nie geschrieben. „Dein Krebs ist nicht wirklich geheilt.“ Isobel öffnete ihren Mund und dieses Mal quollen Orchideen zwischen ihren Lippen hervor und häuften sich vor ihr auf dem Tisch. Candice berührte eine, um zu sehen, ob sie warm war, da sie ja aus Isobel kam, aber der Stamm war kühl. „OK, dann hol jetzt ein Messer.“ Candice stand auf und holte ein Messer aus der Besteckschublade. „Jetzt“, sie legt ihre Hand auf den Tisch, „schneide einen meiner Finger ab.“ Candice hatte die Blumen zwischen Isobels Lippen herausfallen sehen, sie hatte sie berührt und gespürt, das etwas Besonderes passierte. Aber das war zu viel. „Candy, ich sage es doch, es ist OK. Bitte tu das für mich.“ „Ich kann nicht.“ „Dann stich mich einmal. Irgendwohin, wohin du magst.“ „Das wäre nirgendwohin, Isobel, ich—“ „Hier, mein Unterarm. Uns läuft die Zeit davon. Es wird OK sein, solange ich noch high bin.“ Sie wirkte nicht high. Ihre Augen waren klar. Sie schien erschreckend ruhig. Candice hatte nur ein gezacktes Steakmesser gegriffen. Sie hatte gedacht, damit sollten vielleicht die Blumenstängel angeschnitten werden. So etwas in der Art. Jetzt wünschte sie sich, sie hätte ein schärferes gewählt, ein Gemüsemesser, das leichter eindringen würde. „Bitte Candy, wir haben nur noch eine Minute.“ Das war keine seltsame Unterhaltung. Das war das Leben, das aufgeschlitzt zu werden wünschte. Candice wollte nichts mehr als das. Nüchtern, erregt, bedeckte sie ihre Augen und stach ihrer Freundin in den Unterarm. Das Messer drang nicht tief ein, Isobels Arm war nicht sehr fleischig. Aber es blieb gerade darin stecken, als Candice es losließ. Sie öffnete ihre Augen. Rosen quollen aus Isobels Mund. Die duftenden roten Blüten häuften sich über den Orchideen und den Gerbera und den Veilchen. „Danke.“ Isobel zog das Messer aus ihrem Arm, schloss ihre Augen und saß ruhig da. Da war eine Wunde, aber nicht viel Blut. Keine weiteren Forderungen. Ihre Lippen entspannten sich. „Es ist vorbei“, sagte sie schließlich. Sie öffnete ihre Augen und seufzte leise. „Schön.“ Sie ließ ihre Finger durch die Blüten auf dem Tisch gleiten. Ihr Arm nun ohne Schnittwunde. „Hübsch. Du kannst sie behalten.“ „Werden wir darüber sprechen?“ „Natürlich. Aber jetzt bist du an der Reihe. Ich denke, wir sollten beide gehen, bevor wir darüber sprechen.“ „Ich habe gerade auf dich eingestochen.“ „Was außerhalb passiert, ist etwas anders, als das, was du innen drin fühlst.“ „Ich will nicht, dass du mich stichst.“ „Das ist in Ordnung. Ich glaube nicht, dass du es brauchst.“ „Wie kommt es, dass ich halluziniere, wenn du die Droge nimmst?“ „Ich sagte dir doch, es ist keine Halluzination. Berühre sie.“ Candice strich mit ihren Fingern durch die Blumen auf dem Tisch, hielt dann den Strohhalm an ihre Nase und schnupfte zwei Linien des grauen Staubs vom Teetablett. Sie konnte ihre Nasenlöcher undeut­lich im Spiegelbild erkennen. Sie sah aus wie eine Irre, mit dem Blöde-Blondine-Haar, das ihr um das Gesicht hing. Sie fühlte, wie sich die Droge in ihrem Körper wie rauschende Meereswellen ausbreitete, die auf trockenen Sand aufliefen. Ein Gefühl, das nicht unbedingt angenehm oder unangenehm war, es übermannte sie sanft, drang mit einem leichten Zischen in sie ein. Der Stoff, den sie für die Essecke ausgewählt hatte, starrte ihr ins Gesicht. Ein etwas zu überladener Hintergrund für Isobels minimalistische Erscheinung. Seine Herstellung hatte offensichtlich viel Arbeit erfor­dert, so viel Genauigkeit und Geschick. Wie viele Hände waren daran beteiligt gewesen, wie viel Energie, wie viele Meere mussten durchquert werden, nur damit sie ihre Diätlimos in einem netten Eckchen trinken konnte? Sie musste wegschauen. Sie konzentrierte sich auf die Üppigkeit des Parks. Ein Brezelwagen parkte am Fußgängereingang—Stahl und Weizen und Salzkörner unter einem gelb-weißen Schirm. Sie wollte ihren Mund mit Teig und Senf vollstopfen. Jenseits des Wagens, kilometerweise diffuse Natur. Das Herz Manhattans. Candice fühlte, wie Schuldbewusstsein ihre Kehle zuschnürte. Der Park war immer für sie da, und an den meisten Tagen würdigte sie ihn kaum eines Blickes. Behandelte ihn wie einen abstrakten Farbfleck, der ihre Inneneinrichtung ergänzte. Sie lebte in einer Blase. Ignorant. Verschwenderisch. Es war ein so großes Privileg, in der Nähe dieses Parks zu wohnen, von ihrer Wohnung aus eine direkte Aussicht auf ihn zu besitzen. Dass sie darauf oder auf irgendetwas anderes Besitzansprüche anmelden konnte, war nicht richtig. Ein Mann rannte vorbei, eine Zeitung über seinen Kopf haltend. Es hatte angefangen zu regnen. Ihr Sohn war dort draußen. Sie war eine schreckliche, schreckliche Person. Sie sehnte sich nach einem Bruder. Sie wollte sich in einem Pool gezuckerter Cerealien und Vollmilch ertränken. Sie wollte mehr Babys. Avi hatte darüber gesprochen. Sie hatten es versucht. Es verlieh ihrem Liebesleben etwas Wichtiges und eine Nähe, die Candice als Single bei Dates mit Zufallsbekanntschaften nie gespürt hatte. Männer sind wie Züge. Es kommen immer welche. Sie verfolgte dabei ein bestimmtes Ziel, nämlich einen Stammbaum zu gründen. Sie wollte ihre eigene Blutlinie. Sie wollte Sex. Sie wollte ihn schmecken. „OK“, sagte Isobel. „Jetzt atme aus.“ Candice atmete einen Mundvoll Blumen aus. Es war ein angenehmes Gefühl, wie ein trockener Nieser, nur viel müheloser. Rezeptoren öffneten sich und Befriedigung strömte hinein. Blütenblätter flatterten in einem langen Strom aus ihrem Mund heraus. Ohne Geschmack, nur die Textur von etwas, das sich löste. Sehnsüchte ebbten ab und verschwanden. Es war nicht so sehr, dass sie befriedigt worden wären, sondern dass ihr Bedürfnis nach Befriedigung verschwunden war. Sie hatte das tief gehende Gefühl, dass nichts sie je wieder würde erschüttern können, kein Gedanke, nichts Äußerliches. Stille durchdrang ihren Körper. Das Gedankenwirrwarr verließ sie wie eine Seifenblase, die sich vom Stab löst. Sie dachte für einen kurzen Moment an das Verteidigungsministerium. Wenn Kriegsfürsten dieses Gefühl nutzbar machen könnten, gäbe es keine Kriege mehr. Es gäbe nichts mehr zu verteidigen. „Ich verstehe, warum ich dich stechen sollte. Du wolltest es einfach sehen.“ „Soll ich stattdessen versuchen, dich zu beleidigen?“ „OK.“ Isobel sagte ihr ein paar Worte. Sie gingen durch Candice hindurch wie eine Briese durch Gras, manch­mal erschütterten sie sie, entwurzelten sie aber nie. Etwas über ihre breiten Hüften. Über ihren Konsum. Blüten fielen. Dann sagte sie: „Caleb ist tot.“ Candice öffnete ihren Mund und ein Strauß Chrysanthemen plumpste auf den Tisch. Sie fing an zu lachen. Es war wahr. Eines Tages würde er tot sein, sicher. In diesem Sinne existierte sein Tod jetzt schon genauso, wie er immer existieren würde. Mehr Blumen, groß und frisch. Als sie aus dem Fenster schaute, wirklich hinaus­schaute, erkannte sie Individualität zwischen den Ästen. Mammutsuperstars hoben sich vom Rest ab. Alte Bäume, die die staubige Vernachlässigung der Großen Depression erlebt haben mussten, die Diana Ross im Regen singen gesehen haben mussten und den Mondschatten des zwischen den Ästen nach Hause schleichenden Preppy-Mörders. Diese Bäume sollten Namen haben, dachte Candice. Und dann sollten sie sich selbst fällen.

Hier gibt es mehr aus der Literaturausgabe:

Interview mit Christine Nöstlinger

Lydia Lunch will in dein Schlafzimmer

Sohn & Ball