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Der verstörende Alltag eines Undercover-Drogenfahnders

Jahrelang arbeitete Neil Woods als verdeckter Ermittler—bis er das Vertrauen in die britischen Drogengesetze verlor.
Bild von zwei Männern

Im Sommer 1994 landete Neil Woods in einem Pub im verschlafenen Dörfchen Whitwick in Leicestershire. Nick, der noch nie in seinem Leben Amphetamin genommen hatte, musste sich entscheiden: Nimmt er 40-prozentiges Speed oder lässt er sich von einem stadtbekannten Kriminellen mit einem wöchentlichen Kokain- und Crack-Konsum im Wert von 1000 britischen Pfund (ungefähr 1260 Euro) zusammentreten?

Was dieser Kriminelle—dessen Bande Tankverschlüsse von Autos gestohlen hat, um die Schlüssel nachmachen zu lassen und kurze Zeit später dann die Autos zu stehlen—nicht wusste, war dass Neil verdeckter Ermittler war. Er hatte versucht, eines der gestohlenen Autos zu kaufen und über Unterhaltungen im Pub eine Art Beziehung zu dem Mann aufgebaut. Ein Fehler war es allerdings, sich selbst als „Amphetamin-Connaisseur" auszugeben.

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„Nach ungefähr vier Wochen unserer Bekanntschaft", erzählt Neil mir in seinem Zuhause in Herefordshire, „habe ich dieses Briefchen von ihm bekommen. ‚Ein Geschenk für dich. Ich wette, sowas hast du noch nie probiert!' Und natürlich hatte ich so etwas noch nicht probiert. Überhaupt hatte ich ja noch nie Speed genommen. Aber kurz bevor er dieses Briefchen hervorgeholt hatte, war ich Zeuge gewesen, wie jemand vor dem Pub zusammengetreten wurde, der nur 10 Pfund (12 Euro) Schulden bei ihm hatte. Also dachte ich mir: ‚Du musst jetzt was nehmen.'"

Neil streute sich also eine Messerspitze Speed auf seine Zungenspitze. Dem Drogenboss war das aber nicht genug. „Ich war wohl etwas zu vorsichtig, also sagte er: ‚Du musst mehr nehmen!' Er ging ja davon aus, dass ich schon eine gewisse Toleranz entwickelt hätte, deshalb gab er mir einen ordentlichen Klecks obendrauf. Ich spürte das Brennen in meinem Mund. Er nahm mir etwas Geld ab und ich ging nach Hause. Aber die folgenden drei Nächte habe ich kein Auge zubekommen. Es war die Hölle. Wir haben das Zeug dann später testen lassen und es stellte sich heraus, dass es zu 40 Prozent rein war. Das Zeug, das du sonst auf der Straße bekommst, hat ungefähr fünf Prozent."

Geschichten wie diese waren für Neil, der von 1993 bis 2007 undercover als Drogenfahnder arbeitete, nichts ungewöhnliches. Er schätzt, dass er in seiner Zeit als Fahnder Kriminelle für insgesamt über 1000 Jahre ins Gefängnis gebracht hat. Wobei er sich sicher ist, dass das die Flut von Drogen wie Heroin auf den Straßen Großbritanniens nicht im Geringsten eingedämmt hat.

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„Meine ganze Arbeit war reine Zeitverschwendung. Ich habe nichts anderes getan, als das Leben der ohnehin schon Wehrlosen noch unerträglicher zu machen", sagt Neil.

Obwohl es letztlich Konflikte mit seiner Ex-Frau gewesen sind, wegen derer Nick seine Arbeit im November 2012 aufgegeben hat, so hatten ihn doch die polizeiliche Durchsetzung der Drogengesetze und die Undercover-Taktiken, die er selbst angewendet hatte und deren Zeuge er gewesen ist, zunehmend desillusioniert.

Neil wuchs in Derbyshire auf und brach mit 19 Jahren ein Wirtschaftsstudium an der Salford University ab, um eine Stelle bei der Polizei anzunehmen, weil „etwas Aufregenderes" in seinem Leben machen wollte. „Eigentlich wollte ich eine Rucksacktour durch Europa machen, aber in der Lokalzeitung sah ich dann eine Anzeige, in der Polizeianwärter gesucht wurden, also habe ich eine Münze geworfen. Es war Kopf, also bin ich zur Polizei gegangen", erzählt Neil.

Er arbeitete vier Jahre im regulären Polizeidienst, bevor er zur Drogenfahndung wechselte.

In den frühen Neunzigern war die Drogenfahndung nicht besonders streng reguliert und als Kollegen ihm vorschlugen, es doch mal zu probieren, willigte Neil ein. „Es stellte sich schnell heraus, dass ich ziemlich gut darin war. Ich glaube, das hat mit dem Adrenalin zu tun. Menschen reagieren unterschiedlich auf Adrenalin. So nervös ich auch immer vor einer Aktion war, so klar im Kopf war ich dann, als es losging."

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Die verschiedenen regionalen Einheiten der Drogenfahndung tauschten untereinander Informationen aus und so bekam Neil plötzlich viele Angebote aus dem ganzen Land. Teilweise wurden ihm Aufträge zugeteilt, die Monate dauerten. Weil es kaum Vorschriften gab, waren diese ersten Aufträge ziemlich risikobehaftet. Neil gab sich als Drogenkonsument aus—meistens als Crack- oder Heroinabhängiger—und arbeitete sich dann in der lokalen Drogenszene hoch.

Er erinnert sich an eine Szene aus einem seiner ersten Einsätze in einer Wohnsiedlung in Normanton, einer Vorstadt von Derby. „Ich sollte einfach an der Tür klopfen und mit den Leuten sprechen, die mit Crack dealten", erzählt Neil. „Ich unterhielt mich also mit den Leuten und landete schließlich bei einem Buchmacher. Das war witzig, weil ich vorher noch nie bei einem Buchmacher gewesen war. Die ganzen Crackdealer hingen dort rum und so lernte ich sie kennen und konnte etwas von ihnen kaufen."

„Ich wurde selbst von der Drogenfahndung beobachtet. Ich verließ das Grundstück, auf dem sie mich vermuteten, und ging dann zu ihnen. Sie sahen wirklich gestresst aus—völlig verschwitzt und besorgt. Es stellte sich heraus, dass der Typ, der mir Drogen verkauft hatte, schon zweimal wegen schwerer Körperverletzung verurteilt worden war, weil er Leute abgestochen hatte."

1996 wurde eine formelle Ausbildung für die Undercover-Drogenfahndung eingeführt. Zu dieser Zeit hatte Neil allerdings schon drei Jahre Berufserfahrung, sodass er sowohl an den Kursen teilnahm, als auch manche von ihnen leitete. „Man sagt, im Undercover-Training schauspielerst du nicht. Du bist einfach nur eine andere Version von dir selbst."

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Doch trotz der umfangreichen Ausbildung war Neil wegen dem unberechenbaren Verhalten der Dealer, mit denen er zu tun hatte, permanenter Gefahr ausgesetzt.

1997 traf er einen Dealer in Fenton, Staffordshire, und kaufte ihm 0,8 g Heroin ab. Kurze Zeit später kam er zurück, um mehr zu kaufen. „Ich klopfte an der Tür und sagte ‚Hey, Mann, hast du nochmal das Gleiche?' Er antwortete: ‚Nicht annähernd so eine Menge'. Dann zog er ein Samurai-Schwert hervor, hielt es mir an die Kehle und sagte: ‚Du bist doch von der Drogenfahndung!'"

Dann steckte die Freundin des Dealers ihren Kopf durch die Tür und sagte: „Verdammte Scheiße, ich war mir sicher, dass er es zugibt!" Der Typ packte dann das Schwert wieder ein und er und seine Freundin brachen in lautes Gelächter aus. Dann fragte er Neil, was er haben wollte und Neil bat um vier Tütchen.

„Er nahm sich Zeit, gab mir die vier Tütchen. Ich schlenderte davon und packte die kleinen Folienpäckchen in eine Zigarettenschachtel. Dann schaute ich auf und sah ein Messer, das auf mein Gesicht gerichtet war. Irgendein Arschloch wollte mir das Heroin abnehmen, das ich gerade gekauft hatte. Ich dachte mir, ‚Das ist heute echt nicht mein Tag!'" Neil lacht. „Er sagte, ‚Gib mir einfach die Tütchen.' Ich sagte, ‚Nein, nicht bei dem Scheißtag heute', und lief einfach weg. Auch wenn du wie ein Junkie aussiehst und dich wie einer anhörst, kannst du trotzdem viel schneller rennen."

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Neil zog während seiner Laufbahn von Stadt zu Stadt und arbeitete dabei sowohl undercover als auch im regulären Polizeidienst. Häufig spielte er tagsüber den Crack- oder Heroinjunkie, während er abends in einem luxuriösen Hotel oder Apartment eincheckte. Kontraste wie diesen fand er befremdlich.

„Den ganzen Tag über ist es dir egal, was die anderen von dir halten. Du gewöhnst dich daran, gedemütigt zu werden. Danach kommst du in eine Situation, in der du privilegiert bist, und das fühlt sich seltsam an. Du kannst die Blicke der anderen spüren. Wenn du im Stadtzentrum einen Cracksüchtigen mimst, beachtet dich niemand. Deshalb ist den Leuten auch nicht klar, wie viele Cracksüchtige sich eigentlich in den Innenstädten durchschlagen."

Wegen Erfahrungen wie dieser hat Neil angefangen, sich selbst so viel wie möglich über Drogen anzulesen. Im September 1999 besuchte er die erste Konferenz von Narcotics Anonymous (NA) in Europa. Bei einer Podiumsdiskussion wurde darüber gestritten, ob es sinnvoller sei, die Menschen zu NA statt ins Gefängnis zu schicken. Während der Fragerunde stellte Nick eine Frage, die ihm im Nachhinein naiv erscheint—nämlich ob es überhaupt Sinn mache, jemanden zu NA zu schicken, wenn der gar keine Hilfe möchte.

„Im ganzen Saal war es plötzlich totenstill. Jemand aus der Diskussionsrunde sagte dann, ‚Glauben Sie denn, wir hätten eine Erleuchtung gehabt? Jeder von uns wurde unter Schreien und Treten hergeschleppt.'"

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Das war ein Wendepunkt für Nick. Er begriff, dass die Süchtigen, deren soziale Kreise er infiltriert hatte, keine Kriminellen waren, sondern Menschen, die Hilfe brauchten. „Als ich mich danach aufmachte und mich unter die Heroin- und Cracksüchtigen auf den Straßen mischte, ist mir klargeworden, dass ich sie vorher nicht als Menschen wahrgenommen hatte und überzeugt gewesen war, dass sie selbst an ihren Problemen Schuld waren. Aber eigentlich waren es nur Menschen, die Hilfe brauchten und die zu krank waren, um sich selbst zu finden."

Heute ist Neil überzeugt, dass die Polizeimethoden diese ohnehin schon wehrlosen Menschen einem noch größeren Risiko aussetzen.

„Die größte Waffe organisierter Banden ist Angst. Je größer der Druck, dem sie von der Polizei ausgesetzt werden, desto mehr Angst werden sie verbreiten und dadurch die Menschen angreifbar machen", sagt Neil.

In Mansfield in Nottinghamshire lernte er einen Bettler kennen, der ihn ein paar Leuten vorstellte, damit er im Gegenzug etwas von Neils Umsätzen abzwacken konnte. Nach etwa einem Jahr hörte Neil, dass dieser Bettler wegen Heroinhandel zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war. „Das machte mir wirklich Angst. Schließlich war alles, was er getan hat, immer an der gleichen Stelle im Zentrum von Mansfield zu sitzen und zu betteln."

„Er erzählte mir, dass es der Höhepunkt des Monats gewesen war, als sich eine Vene zwischen seinen Zehen geöffnet hatte, in die er drei Jahre lang nichts hatte spritzen können. Das war die Kurzversion seines Lebens. Dieser Typ brauchte Hilfe, statt von den anderen Dealern ausgebeutet zu werden. Oder von mir."

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Neil erklärt mir, dass Heroinsüchtige, die im Gefängnis landen, häufig Schulden bei den Dealern haben. Wenn sie diese Schulden nicht selbst begleichen können, kann es passieren, dass Freunde und Familie dafür geradestehen müssen. Sie werden zur Prostitution genötigt oder gezwungen, Drogen zu verkaufen. Wenn die Drogensüchtigen dann aus dem Gefängnis entlassen werden, werden sie oft schnell wieder rückfällig, weil sie immer noch ihre Schulden abzahlen müssen.

Laut Neil wird ein großer Teil der circa. 300.000 Heroinabhängigen in Großbritannien von großen Küstenstädten angezogen. „Ich frage mich, ob die Menschen bloß versuchen wegzulaufen und einfach nicht weiter als bis zur Küste kommen."

Neil wurde Ende 2005 nach Brighton geschickt, eine Stadt, die die höchste Überdosisrate im ganzen Land hat. Als er dort ankam, stellte er fest, dass dieselben Methoden der Undercover-Ermittlung dort schon so lange verwendet wurden, dass die Kriminellen ihnen auf die Schliche gekommen waren. „Die Kriminellen hatten sich Obdachlose als Kontaktpersonen ausgesucht. Alle waren völlig verängstigt. Dieses Gefühl von Angst unter den Obdachlosen war einfach schrecklich."

Er lernte zwei Obdachlose kennen, die ihm erzählten, dass andere Obdachlose, die den Kriminellen unwissentlich verdeckte Ermittler vorgestellt hatten, umgebracht worden waren. „Jeder kann einen Junkie loswerden", erklärt mir Neil. „Verpass ihm einfach eine Überdosis."

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Zu diesem Zeitpunkt hatte es schon über 58 Überdosis-Fälle gegeben. „Das ist deutlich mehr als in jeder anderen Stadt dieser Größenordnung, aber meine Kollegen haben bloß darüber gelacht", sagt Neil. „Die anderen Abhängigen waren absolut überzeugt davon, dass es sich bei einigen davon um Morde handelte. Ohne ordentliche Ermittlungen will ich da gar nicht spekulieren, aber allein die Tatsache, dass sie absolut überzeugt waren, sollte jedem Polizisten zu denken geben."

Neils Eindruck, dass die Menschen, gegen die er vorging—und die er oft hinter Gitter brachte—dringend Hilfe brauchten, wurde besonders von einem Obdachlosen verstärkt, den er in Brighton kennengelernt hatte. Es handelte sich um einen Briten, einen ehemaligen Geschäftsmann, der fünf Sprachen fließend sprach. In der 1990er Jahren hatte er sich in der Stimulanzien-Szene verloren. Als er versuchte, mithilfe von Heroin von Crack runterzukommen, wurde er abhängig.

„Er hatte sich seinem Schicksal komplett ergeben. Er wusste, er würde sterben, er würde den Winter nicht überleben. Er hatte eine Übernachtungsgelegenheit in Worthing. Es hätte 5,40 Pfund (6,80 Euro) gekostet, mit dem Zug zu einem Gespräch zu fahren, um sich für dieses möblierte Zimmer zu bewerben, aber zu diesem Zeitpunkt konnte er diese Summe nicht aufbringen, weil er 20 Pfund (25 Euro) für ein Tütchen Heroin zusammenkriegen musste. Er wusste, er würde entweder erfrieren oder an einer Überdosis sterben, aber er hat trotzdem die 5 Pfund nicht zusammenkratzen können, um diese Unterkunft zu bekommen."

Nach nur sechs Wochen—der Einsatz hätte sechs Monate dauern sollen—war es Neil Leid, statt der Strippenzieher nur die unbedeutenden Dealer zu verfolgen. Er verließ Brighton und lehnte es ab, je wieder in diesem Bereich zu arbeiten.

Neil hörte 2007 auf, undercover zu arbeiten, blieb allerdings noch bis 2012 bei der Polizei. Jetzt ist er froh, gekündigt zu haben und nutzt seine Zeit und Erfahrung, um das Drogenkontrollsystem weiterzuentwickeln. Er befürwortet eine vollständige Regulierung von Drogen, um „den Kriminellen die Kontrolle wegzunehmen."

„Es tut dir nicht gut, wenn du etwas tust, das du als unethisch empfindest. Das hat seinen Preis", sagt Neil.

„Was ich getan habe, war nicht ausschließlich meine Schuld. Ich war nur ein kleiner Fußsoldat. Ich habe Befehle befolgt und dem System vertraut. Der Polizeidienst ist hierarchisch und diszipliniert und du vertraust dem Urteil anderer. Du vertraust dem Gesetz. Aber wenn es um Drogen geht, irrt sich das Gesetz."