FYI.

This story is over 5 years old.

GAMES

Mit 'Dwarf Fortress' macht Verlieren Spaß

Dwarf Fortress ist das komplexeste Computerspiel der Welt, Teil der Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art, hat ziemlich obsessive Fans und handelt von psychisch labilen Zwergen.

Eigentlich ist es ja verblüffend, wie wenig Computerspiele den Computer selbst als „Medium" nutzen. Moderne CG-Künstler entwickeln vorgefertigte Modelle und Texturen auf den Dingern, während Autoren eine Story, Charaktere und Dialoge schreiben.

Die Game Designer überlegen sich die ausgefuchsten Spielmechaniken und die darauf basierenden Herausforderungen sowie Levels werden am Ende fein säuberlich zusammengeschraubt.

Anzeige

Goblins greifen an, für das ungeschulte Auge jedoch sind es nur G-Punkte. (Screenshot)

Die Geräte selbst leisten im Normalfall hauptsächlich den Berechnungsaufwand und schlucken die meiste Zeit, um die Animation der Grafiken zu rendern—Polygonmodelle, Sprites, Texturen, Filter, Effekte. Der Computer wird vorrangig zur Einbettung und Darstellung dieser ganzenAssets verwendet.

Umso wunderbarer anders ist da Dwarf Fortress. Es ist das wahrscheinlich komplexeste Computerspiel der Welt. Es verfügt über eine obsessive Fangemeinde, ist Teil der Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art und handelt von psychisch labilen Zwergen.

Die Welten werden generiert und haben dabei komplette Zivilisationen und Jahrhunderte zurückreichende Legenden bereits integriert. (Screenshot)

Slaves to Armok: God of Blood Chapter II: Dwarf Fortress ist der herrliche, vollständige Titel des im Allgemeinen als Dwarf Fortress bekannten Spiels und hat die primitivste Form von grafischer Spieldarstellung, die man sich vorstellen kann. Für das ungeschulte Auge sieht es aus, als hätte sich der alterschwache PC eine üble Form digitaler Diarrhö eingefangen und einen wahllosen Salat von Zeichen und Buchstaben über den Bildschirm entleert.

Dwarf Fortress verwendet nämlich weder Pixel-Kunst noch Polygone, sondern stellt seine Spielwelt ausschließlich durch Buchstaben, Ziffern und Sonderzeichen aus einem uralten Computerzeichensatz namens ASCII dar—was vielleicht im Kontext des prähistorischen Internet-Pornos manchen noch ein Begriff ist. Trotzdem ist die Entwicklung des 2006 veröffentlichten und seitdem stetig weiterentwickelten Titel ausschließlich auf modernen Rechnern möglich gewesen und verlangt selbst dort einiges an Speicher und Prozessorleistung.

Anzeige

Der Grund dafür: Dwarf Fortress simuliert nicht weniger als eine komplette Fantasy-Welt, angefangen bei Klima, Geologie über Zivilisationen und Städten bis hin zu den einzelnen Bewohnern mitsamt deren Persönlichkeitsmerkmalen, Launen und individuellen Körperteilen. Wenn man das Spiel startet, dann beginnt zunächst einmal die minutenlange Generierung einer einzigartigen Welt, die aus der zufälligen Kombination unzähliger Parameter berechnet wird und über Jahrhunderte an Geschichte verfügt. Der Welten-Generator in Minecraft ist im Vergleich ein Schas dagegen.

Im Anschluss könnte man theoretisch Stunden damit verbringen, im sogenannten Legends-Modus eine detaillierte historische Chronik seiner Welt durchzuschmökern. Vielleicht stößt man auf jemanden wie Kethi Duquehdak, die Anführerin einer Räuberbande. Im Alter von 48 Jahren entwickelte sie eine Obsession mit ihrer eigenen Sterblichkeit und versuchte fortan, ihr Leben auf jede erdenkliche Weise zu verlängern. Im Jahr 219 musste sie aber als immerhin 92-jährige Frau kleinbeigeben und starb.

Die anderen beiden Spielmodi sind Adventurer und Dwarf Fortress. Im Adventurer-Modus übernimmt man die Rolle eines einzelnen Abenteurers, der in die Spielwelt geworfen wird und dort sein Glück versuchen kann. Hinter Dwarf Fortress verbirgt sich schließlich—wie der Name schon impliziert—das eigentliche Hauptspiel. Man darf es sich vorstellen wie ein Strategie-/Aufbau- oder Managementspiel im Stil von Theme Park, Dungeon Keeper oder The Sims. Es gilt eine Zwergenfestung zu errichten, sie gegen Feinde zu verteidigen, Rohstoffe abzubauen und ein gesundes Wirtschaftssystem sowie die Gemütszustände seiner Zwerge im Gleichgewicht zu halten.

Anzeige

Screenshot

Der immens hohe Schwierigkeitsgrad und schwarze Humor der Entwickler sorgen allerdings dafür, dass früher oder später alles ganz, ganz entsetzlich zum Teufel geht—meistens durch Amokläufer beziehungsweise Zwerge, die unglücklich werden, dann durchdrehen und sich gegenseitig abschlachten. Dwarf Fortress kann nicht gewonnen werden, aber darum geht es auch nicht. Es geht um die verrückten, tragisch-komischen Geschichten, die durch den Prozess des Verlierens entstehen. Der inoffizielle Slogan des Spiels lautet deshalb auch: „Losing is fun!"

So endet zum Beispiel die mittlerweile legendäre „Boatmurdered"-Saga—der bekannteste kollaborative Let's Play von Dwarf Fortress—damit, dass ein Spieler versucht, angreifende Elefantenhorden durch die geschickte Umleitung von Lavaströmen zu eliminieren. Das endet damit, dass er eine menschliche Karawane und damit die einzigen Verbündeten der Festung in einen schrecklichen Feuertod führt. Zu allem Überfluss entsteht durch die brennenden Leichen eine gigantische Pestwolke, die die Zwerge schließlich in den endgültigen Irrsinn treibt.

Episch und unübersichtlich komplex. (Screenshot)

Dwarf Fortress ist eine Maschine, die Geschichten erzeugt—von aufsteigenden und fallenden Königreichen, von gewitzten Helden, blutrünstigen Drachenkriegen, tragischen Familienschicksalen, von Machthunger, Verrat und Wahnsinn. Also quasi wie eine Tolkien-Verfilmung, nur anstatt der Goblins sind es die Buchstaben G, die dich in Schrecken versetzen. Dieses Spiel und dessen Geschichten laden dich ein in ihnen zu leben und zusammen mit der „Maschine" alles weiterzuschreiben.

Die Entwickler und Betreiber dieser Maschine sind zwei Brüder aus den USA namens Zach und Tarn Adams, die selbst ein bisschen wie knubbelige Zwerge aussehen und mittlerweile von ihrer Arbeit an dem Spiel leben können. Denn obwohl Dwarf Fortress Freeware ist, also genau gar nichts kostet, sorgt die kleine, aber eingeschworene Fangemeinde durch einen steten Spendenfluss dafür, dass die Entwicklung ungehindert weitergehen kann. Bis die geplante Version 1.0 fertig ist, kann es allerdings noch ein Weilchen dauern—nach Schätzung von Tarn Adams mindestens zwanzig Jahre.

Dwarf Fortress kann hier heruntergeladen werden. Hilfe beim doch recht Mind-fickenden Einstieg bieten unter anderem das Dwarf Fortress Wiki sowie das Buch Getting Started with Dwarf Fortress.

Weitere Artikel von Andreas Dobersberger auf Bildschirmsprünge.net