FYI.

This story is over 5 years old.

The Magic Hour Issue

Warum verlassen so viele junge Leute Puerto Rico?

Eine stagnierende Wirtschaft, Drogen, Verbrechen und allgegenwärtige Korruption—seit den 1950ern sind nicht mehr soviele Puerto Ricaner ausgewandert wie heute.

Wohin man in Puerto Rico auch geht, wollen die Menschen fort. „Warum sollte ich auch bleiben?", fragte mich Jannette Sanchez, eine 30-jährige Jurastudentin an der Interamerican University in San Juan, als ich vor Kurzem die Insel bereiste, um das zunehmend trostlose Leben im bevölkerungsreichsten Außengebiet der USA zu dokumentieren. Sanchez war wiederholt zum Opfer gewalttätiger Angriffe geworden. In den USA hat sie Freunde, unter anderem in Dallas, und ihr Plan war, nach ihrem Abschluss nach Texas zu ziehen. „Es gibt hier Leute mit Master-Abschlüssen und Doktortiteln, die Teilzeit bei Walmart arbeiten", sagte sie. „Es ist ein Witz." Auswanderung war für Puerto Rico immer ein Druckventil: Über die offene Grenze zu den kontinentalen Vereinigten Staaten verschwanden die Unzufriedenen von der Insel. Heute hat die Auswanderung allerdings ein neues Ausmaß erreicht. Verdrängt von der stagnierenden Wirtschaft und der erdrückenden Perspektivlosigkeit, sowie Drogen, Kriminalität und der allgegenwärtigen Korruption, wandern inzwischen so viele Menschen aus, dass es an den großen Exodus der 1950er heranreicht. Zwischen 2000 und 2013 sank die Bevölkerung Puerto Ricos um 144.000—das sind fast vier Prozent. Zum ersten Mal in der Geschichte gibt es heute mehr Puerto Ricaner in den USA (4,9 Millionen) als auf der Insel (3,5 Millionen). Die Entscheidung auszuwandern ist zwar schmerzhaft, doch gerade für junge Menschen naheliegend, da die Einheimischen US-Pässe haben. „Ich kann bei gleichen Pflichten etwa das Dreifache verdienen", sagte Sanchez. San Juan wimmelt von Studenten und fast alle, mit denen ich sprach, hatten wie Sanchez vor, auszuwandern.

Anzeige

Der bevorzugte Zugang Puerto Ricos zu US-Märkten (der Handel verhält sich in etwa wie der zwischen Bundesstaaten) machte aus dem „Armenhaus" der Region, als das die Insel vor dem Zweiten Weltkrieg galt, eine karibische Erfolgsgeschichte. Nach dem Krieg zogen amerikanische Kleidungsfirmen und kleine Industriebetriebe nach Puerto Rico, während gleichzeitig Hunderttausende Puerto Ricaner dazu gedrängt wurden, die Insel wegen Überbevölkerung zu verlassen. Doch als Washington anfing, Freihandelsabkommen mit Ländern in Lateinamerika zu unterzeichnen, verlor Puerto Rico Stück für Stück seinen Sonderstatus. Arbeitsplätze in der Textilindustrie und in Fabriken wanderten nach Asien. Dennoch belief sich die puerto-ricanische Verschuldung zur Jahrtausendwende auf überschaubare 25 Milliarden Dollar. In den letzten 15 Jahren ist diese Zahl allerdings auf 73 Milliarden Dollar hochgeschossen—fast 100 Prozent des puerto-ricanischen Bruttosozialprodukts. Anleiheratingfirmen zögerten viele Jahre, Alarm zu schlagen. Kredite gingen an Infrastrukturprojekte und -dienste wie Mi Salud, die Initiative für kostenfreie Gesundheitsversorgung. Doch eine unbestimmte Menge an Mitteln wurde auch veruntreut, und verschwand in zwielichtigen Geschäften. Zynische und korrupte Politiker sowohl von der aktuell regierenden Popular Democratic Party als auch von der New Progressive Party, die für Eigenstaatlichkeit eintritt, versuchten, bei der an den Sozialstaat gewöhnten Bevölkerung zu punkten und gaben weiter mit vollen Händen Steuergelder aus. Das Abwandern ambitionierter Puerto Ricaner verringerte das Steueraufkommen und es dauerte nicht lange, bis die gesamte Finanzstruktur kollabierte. Heute liegt die offizielle Arbeitslosenrate Puerto Ricos bei etwa 15 Prozent. Da viele die Stellensuche aufgegeben haben, arbeiten nur 40 Prozent der Erwachsenen im erwerbsfähigen Alter. Fast die Hälfte aller Puerto Ricaner lebt unter der US-Armutsgrenze und zwei von fünf—doppelt so viele wie im US-Durchschnitt—beziehen Lebensmittelmarken. „Die momentane Lage wurde nicht durch einen einzelnen Vorfall ausgelöst. Das Problem hier ist eine politische Klasse, die mehr oder weniger von Steuern und Bestechungsgeldern lebt", sagte mir Emilio Pantojas, Professor am Center for Social Research der Universität von Puerto Rico. „Die meisten Firmen sind von der Regierung abhängig und so entsteht eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen korrupten Politikern und korrupten Geschäftsleuten." Die Popular Democratic Party versucht nun, die Wirtschaftslage durch die Einführung einer Mehrwertsteuer von 16 Prozent in den Griff zu bekommen. Gouverneur Alejandro García Padilla plant darüber hinaus Steuersenkungen für geringe und mittlere Einkommen, doch viele sehen eine Besteuerung des Konsums kritisch. Obwohl die Steuer einen Versuch darstellt, Transaktionen zwischen Firmen zu erfassen, die ansonsten die Zahlen frisieren, geht sie auf Kosten von Menschen, die Lebensmittel und Schulbücher kaufen, und es wird befürchtet, dass sie das Wirtschaftswachstum bremsen wird. Aufgrund seines Sonderstatus kann Puerto Rico anders als Städte wie Detroit keine Insolvenz anmelden, daher gibt es kaum Optionen. Doch Padillas Vorschlag wird von vielen als Todesstoß für die Insel betrachtet, als ausgestreckter Mittelfinger für alle, die töricht genug gewesen sind zu bleiben. Gil Lopez, der in der Touristengegend Condado in San Juan kellnert, hat das in seiner Entscheidung, nach Seattle auszuwandern, nur noch bestärkt; er will eine Reifen-Recycling-Firma gründen. Lopez, der mit 28 Jahren dem Durchschnittsalter der Auswanderer entspricht, glaubt: „Die Mittelschicht wird verschwinden."

Ein großer Teil der Berichterstattung über Puerto Ricos Krise konzentriert sich auf den sogenannten Brain Drain, das Abwandern der qualifizierten Fachkräfte. Doch die Statistik zeigt, dass nicht nur Einwohner mit Uniabschlüssen auswandern, sondern weite Teile der Bevölkerung. Auf meiner Reise konnte ich beobachten, dass die Kettenreaktion des wirtschaftlichen Ruins die ohnehin schon Gefährdeten am härtesten trifft. Als Reaktion auf die Finanzkrise hat die Regierung die Steuern erhöht und versucht, Lehrkräften und Polizeibeamten die Renten zu kürzen. Weil internationale Lieferungen von Waren, Lebensmitteln und Treibstoff erst in US-Häfen anlegen müssen, bevor sie nach Puerto Rico befördert werden, kosten alle Importgüter mehr als bei direkter Route. Eine weitere verzweifelte Steuererhöhung verschlimmert diesen Preisunterschied: Die Verbrauchssteuer auf Erdöl wurde um 68 Prozent erhöht, um mehr Anleihen zu finanzieren. Diese Maßnahmen wirken sich bereits unverhältnismäßig auf Geringverdiener und Arbeitslose aus. Ihr Leid wird dadurch noch verstärkt, dass die staatliche Förderung von Organisationen, die bedürftigen Gemeinden Hilfsleistungen bieten, drastisch verringert wurden. Wenn sie ihr Geld doch erhalten, kommt es oft zu spät. José Vargas-Vidot, ein Arzt, der 1990 in Reaktion auf die HIV/Aids-Krise die Nonprofit-Organisation Iniciativa Comunitaria für Gesundheitsversorgung gründete, ist der Meinung, dass die momentane wirtschaftliche Sackgasse eine ohnehin schon geschwächte Gesellschaft schwer getroffen hat. „All das führt zu Gesundheitsproblemen und Obdachlosigkeit", sagte er mir. „Es gibt mehr Drogenabhängige und die Suizidrate ist gestiegen. Das sind alles Symptome einer Gesellschaft, die sich nicht um die Psyche der Bevölkerung gekümmert hat." Dem Suchtprogramm von Iniciativa mit dem Namen Pitirre wurde letztes Jahr die staatliche Förderung, die ohnehin nur bei einem Fünftel der beantragten Mittel lag, um weitere 20 Prozent gekürzt. Das Programm musste einen von zwei Streetworkern feuern sowie Mitarbeiter entlassen. Dennoch konnte Pitirre im vergangenen Geschäftsjahr mehr als 700 Patienten behandeln, erzählte mir Miguel Vázquez, der leitende Psychologe des Programms. Er stellte mir Jairo Castro vor, einen Patienten, der wie viele abwechselnd Kokain und Heroin genommen hatte. Eine Narbe in der Nähe seines Schlüsselbeins, die von einer Schussverletzung stammt, zeugt von der Straßenvergangenheit des 32-Jährigen. Er erhielt im Zentrum in Bayomón Buprenorphin als Drogenersatztherapie für Opioide. „Ich habe wieder Spaß an Dingen", sagte er mir. Arbeit fände er aber immer noch keine auf der Insel. Dies sei ein verbreitetes Problem unter genesenden und früheren Süchtigen, erklärte Vázquez. „Es gibt nur wenige Jobs und die meisten Arbeitgeber wollen sie nicht", sagte er. Zu den Pitirre-Patienten gehören sogar Ärzte und Anwälte, die ihre Arbeit an die Sucht verloren haben. An einem verregneten Montagabend im Februar begleitete ich eine Gruppe Studenten von der Freiwilligenorganisation Recinto Pa' La Calle bei ihrer Runde durch das Viertel nahe des medizinischen Campus der Universität von Puerto Rico in Río Pedras. Sie verteilten heißen Kaffee und Essen und versorgten Obdachlose und Drogenabhängige medizinisch. In vielen Gegenden erinnert San Juan stark an Miami, doch die imposanten Bankengebäude und Autobahnen täuschen. An einer Bushaltestelle in der Nähe der Universität begegnen wir einer Gruppe obdachloser Drogensüchtiger. Jede Nacht kampieren sie hier, um ihre tägliche Dosis Methadon aus der örtlichen Klinik zu bekommen. Bei einem anderen Stopp vor einer der wenigen Bahnstationen von San Juan wartete Sabrina auf die Freiwilligen. Die diabetische Heroinsüchtige sitzt im Rollstuhl, seit ihr schwer infiziertes linkes Bein amputiert werden musste. Die Medizinstudenten kauerten sich neben sie und einer entfernte den Verband, den sie die Woche zuvor an ihrem verbleibenden Bein angebracht hatten. Zwei etwa handtellergroße Geschwüre von fauligem Grüngelb kamen zum Vorschein. „Anstatt sich in die Vene zu spritzen, injizieren sie ins Weichgewebe, welches dann oft von einigen der Chemikalien in der Heroinmischung beschädigt wird", erklärte Alan Rodriguez, ein Medizinstudent im vierten Jahr und an jenem Abend so etwas wie der inoffizielle Anführer. „Die Wunde breitet sich aus und wegen des Klimas können diese Geschwüre einfach weiter wachsen". Seine Worte waren wie eine Metapher für die einzigartige Mischung aus politischen Problemen, welche die Insel als Teil sowohl der USA als auch Lateinamerikas plagen. An medizinische Versorgung zu kommen ist alles andere als einfach, obwohl Puerto Rico Programme zur kostenfreien Gesundheitsversorgung Bedürftiger hat. Rodriguez, der ebenfalls plant, nach seinem Abschluss in den Staaten zu arbeiten, sagte voraus, dass Sabrina ohne die richtige Versorgung bald auch ihr zweites Bein verlieren würde.

Verbrechen stehen in Puerto Rico oft im Zusammenhang mit dem Drogenhandel. Der Freistaat hat sich zur Transitstation für Kokain aus den Anden auf dem Weg in die östlichen USA entwickelt, was die ohnehin schon endemische Korruption auf der Insel noch verschlimmert. Die Mordrate ist offiziell die niedrigste in 15 Jahren: Sie lag letztes Jahr nur noch bei 680, während es 2011 ganze 1.164 Opfer waren. Doch wie so oft vertrauen viele Puerto Ricaner den Regierungsstatistiken nicht und beschuldigen die Beamten der Manipulation. Im Dezember wurden zwölf ehemalige Polizisten für das Betreiben eines Drogenrings verurteilt, als dessen Hauptquartier ihnen das Puerto Rico Police Department (PRPD) gedient hatte. Laut Justizministerium wurden zwischen 2005 und 2010 etwa zehn Prozent aller puerto-ricanischen Polizeibeamten wegen diverser Verbrechen verhaftet, darunter „Vergewaltigung, Drogenhandel und Mord" sowie häusliche Gewalt—es entsteht der Eindruck, dass das „PRPD eine überaus verkommene Behörde" ist. Wie hoch auch immer die wahre Mordrate ist, die Regierung gilt vielen als nicht vertrauenswürdig, und das allein ist schlimm genug, weil es das Misstrauen in die Behörden und letztlich die Abwanderung verstärkt. Das Problem entwickelt sich zu einem Generationenkonflikt, der die Familien spaltet—die Jugend sieht keine andere Option, und die Eltern bleiben zurück. Willin Rodriguez, den ich durch seinen Sohn Antonio kennenlernte, ist ein bekannter Sportfotojournalist, der seine Karriere bei einer Tageszeitung begann, die für die Unabhängigkeit eintrat. Er arbeitete drei Jahrzehnte lang für diverse Zeitungen und lernte in dieser Zeit seine Frau, Francesca Von Rabenau, kennen, die ebenfalls Fotojournalistin ist. Sie war mehr als 15 Jahre lang beim San Juan Star, dem mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten, englischsprachigen Blatt, das durch Hunter S. Thompsons The Rum Diary berühmt wurde. 2008 verlor Von Rabenau ihren Job. Fünf Jahre später verlor Rodriguez seinen, und mehrere Monate lang hatten sie „so gut wie gar nichts mehr", sagte er. Für das Paar mit seiner starken Bindung an die Insel, kam Auswandern nicht infrage. Doch 2012, sechs Jahre nachdem er bei einem Gruppenangriff, der niemals vor Gericht kam, fast totgeprügelt wurde, zog Antonio nach New York, um mit seiner Kamera Arbeit zu finden. „Ich machte eine Phase des Schocks durch und brach mein Studium ab. Ich fühlte mich von dem System im Stich gelassen", beschrieb mir Antonio die Zeit nach dem Angriff. „Das war der Punkt, an dem ich langsam begriff, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte." Sein Vater hat seither in einem Zentrum für Fotojournalismus Arbeit gefunden, doch die Chancen für Menschen wie ihn sind oft ungewiss. Er sagt, er könne verstehen, warum Antonio gegangen sei. Vor meiner Abreise zeigten die beiden mir einige ihrer Bilder, die sie im Laufe der Jahre geschossen hatten, von den Boxern der Insel, von spielenden Kindern, von Leichen auf der Straße und von der Insel Vieques, wo das US-Militär jahrzehntelang einen Stützpunkt unterhielt. „Es hat mich natürlich verletzt, dass er ausgewandert ist", sagte Rodriguez. „Doch ich denke, er hat dort mehr Möglichkeiten."