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„Die CDU hat gar kein Interesse daran, die Situation von Menschen mit Behinderung zu verbessern“

Schwerstbehinderte dürfen nicht mehr als 2600 Euro besitzen, wenn sie die Pflege bekommen wollen, ohne die sie nicht überleben können. Constantin Grosch will das ändern, Ursula von der Leyen nicht.

Constantin Grosch ist 21 Jahre alt, Jurastudent in Bielefeld, und zu 100 Prozent behindert. Er leidet an Muskeldystrophie—einer Genkrankheit, die die Muskeln zunehmend schwächt. Mittlerweile kann er außer seinem Kopf nur noch seine Unterarme und Finger bewegen, was bedeutet, dass er ohne 24 Stunden Pflege nicht überleben könnte. Im Moment studiert er Jura, um später als Anwalt zu arbeiten. Aber egal, wie viel er arbeitet, er wird sein ganzes Leben lang nie mehr als 2600 Euro besitzen dürfen. Alles, was er darüber spart, nimmt der Staat ihm wieder ab.

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Das liegt daran, dass Constantins Pfleger, die ungefähr 10.000 Euro im Monat kosten, vom Sozialamt bezahlt werden. Jeder hat ein Anrecht auf diese „Assistenz“—solange er sie nicht selbst bezahlen kann. Wenn ein Schwerstbehinderter es aber schafft, einen vollbezahlten Job zu bekommen, dann streicht das Sozialamt alles ein, was über den zum Leben nötigen Mindestsatz (ungefähr 1400 Euro) hinausgeht. Egal wie viel er arbeitet, Constantin wird nie genug Geld sparen dürfen, um auch nur sein für ihn umgerüstetes Auto reparieren zu können. Und er wird wahrscheinlich nie heiraten können—seine Frau würde sofort ihr komplettes Vermögen für die Pflege aufgeben müssen, bis sie auch verarmt wäre. Dann übernimmt das Sozialamt wieder.

Als ich das erste Mal von dieser Regelung hörte, dachte ich, dass sei wohl ein typischer Fall von schlampiger Gesetzgebung, ein Fehler im System. Die Sozialhilfe soll eben nur der bekommen, der sie nicht selbst bezahlen kann. Weil aber fast niemand 10,000 Euro im Monat verdient, ist es natürlich völlig hirnrissig, Schwerstbehinderte auch an diese Regelung zu binden. Solange sie dort drin sind, ist es für Betroffene zumindest finanziell völlig sinnlos zu arbeiten—was den Staat dann wieder mehr Geld kostet, weil er ihnen dann auch noch die Miete und den Lebensunterhalt zahlen muss. Ganz abgesehen von der offensichtlichen Gemeinheit, Schwerstbehinderten nur die Wahl zwischen Besitzlosigkeit oder Tod zu lassen, gibt es also ziemlich gute volkswirtschaftliche Argumente dafür, diesen Blödsinn so schnell es geht aus der Welt zu schaffen. Müsste eigentlich jeder vernünftige Mensch einsehen, dachte ich. Es sollte nur eine Frage der Zeit sein, bevor jemand diesen Fehler behebt.d

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Constantin, der schon seit Anfang des Jahres fast 82,000 Unterschriften gegen die Regelung auf change.org gesammelt hat, hat mich eines Besseren belehrt. Er hat schon mal mit Ursula von der Leyen gesprochen, die ihm ins Gesicht gesagt hat, dass sie die Assistenz nicht vom Einkommen entkoppeln will. Am Telefon erklärte er mir, warum.

Constantin Grosch (Foto: Bartjez.cc)

Hallo Constantin. Wie viele Menschen sind eigentlich von diesem Problem betroffen?
Constantin Grosch: Wenn man das wirklich konservativ rechnet, sind das sicherlich über 100.000 Menschen in Deutschland—und ich gehe eigentlich davon aus, dass das viel mehr sind. Es ist also keine ganz kleine Gruppe, aber es betrifft natürlich auch nicht den Großteil der Bevölkerung.

Glaubst du, durch deine Petition könnte sich bald etwas ändern? Schließlich sind ja gerade Koalitionsverhandlungen.
Für uns wird der Knackpunkt Mitte nächsten Jahres sein, wenn die Länder und der Bund über Bezahlung der Eingliederungshilfe streiten. Das heißt, die müssen dann das Gesetz eh schon ändern. Und wir möchten darauf hinwirken, dass sie dann auch gleich diese Problematik beheben, wenn schon etwas an dem Gesetz geändert wird. Was die Koalitionsverhandlungen betrifft, ich kenne die Meinung von Frau von der Leyen, und die hilft uns nicht weiter. Sie spricht zwar immer davon, dass sie diese Vermögensgrenze anheben würde, aber bis wohin anheben? Und selbst wenn man das von 2600 Euro auf 50.000 anhebt, kann ich mir trotzdem keine Altersversorgung aufbauen oder mir ein Haus kaufen.

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Hast du eine Idee, warum Frau von der Leyen so denkt?
Die Problematik ist dabei wohl eher, dass sie das eigentlich nicht interessiert. Ich habe mich mit vielen Politikern von allen Parteien unterhalten, und die sagten mir alle, dass die CDU grundsätzlich gar kein Interesse daran hat, die Situation von Menschen mit Behinderung zu verbessern, vor allem nicht finanzieller Natur. Weil das eben auch bedeutet, diese ganze Bevölkerungsgruppe zu stärken, ihr noch weiter Selbstbewusstsein zu geben, was dazu führt, dass sie vielleicht noch andere Rechte einfordert. Deshalb zieht die CDU Allgemeinplätze und kleinere Sachen vor, wo man schön in der Öffentlichkeit sagen kann, wir tun was für Behinderte, die aber nicht weiterhelfen. Man sagt einfach: „Ja natürlich, wir möchten, dass Menschen mit Behinderung ganz normal arbeiten gehen und einen Platz in der Gesellschaft finden, aber nur solange, wie wir sie in der Öffentlichkeit darstellen können als diejenigen, die Hilfe brauchen“—die man immer so schön tätscheln kann und dann einmal im Jahr was Nettes auf einer Rede sagen kann, und das war's dann.

Ich glaube, es passt einfach nicht ins Weltbild der CDU, aber vielleicht auch der Gesellschaft allgemein, dass Menschen mit Behinderung genauso Leistungsträger sein können wie andere Menschen auch. Letztes Jahr gab es ja diesen Film Ziemlich beste Freunde, wo dieser Behinderte ultrareich ist und Maserati fährt. Den Film fanden alle ganz toll. Es wurde gar nicht thematisiert, dass da ein Behinderter ist, der Geld hat. In Deutschland wäre so etwas gar nicht möglich—weil man sich als Mensch mit Behinderung niemals aus etwas heraussparen kann, es sei denn, man ist jetzt wirklich ein Multimilliardär. Aber für 99 Prozent aller Menschen mit Behinderung wird es nie möglich sein, irgendetwas zu sparen oder sich eine Existenz aufzubauen.

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Constantin trifft Ursula von der Leyen (CDU).

Glaubst du wirklich, dass die CDU Behinderte kleinhalten möchte?
Nicht auf Biegen und Brechen kleinhalten, aber ich glaube schon, dass das eine Rolle spielt. Das ist auch ein allgemeines Gesellschaftsbild, dass man den Menschen mit Behinderung lieber als einen Bittsteller sieht als jemanden, der etwas einfordert. Weil der Staat natürlich weiß, wenn die Menschen jetzt noch mehr fordern—wenn man sich zum Beispiel barrierefreies Bauen in öffentlichen Einrichtungen ankuckt, das wären ja Milliarden. Man sieht die Gefahr, dass wenn man ihnen eine finanzielle Kraft gibt, womit sie unabhängiger sind und eher ihre Rechte einklagen können, kommen dann noch mehr Kosten auf die Politik zu, und das möchte man verhindern.

Es ist eine durchaus sehr verfahrene Situation. Die Aussage von Westerwelle, „Arbeit muss sich wieder lohnen“—nur halt nicht für Menschen mit Behinderung. Es ist paradox, und es führt unser Solidarsystem ad absurdum.

Zunächst einmal würde es dem Staat doch mehr Steuereinnahmen verschaffen, wenn er diese Grenze abschaffen würde, oder?
Er würde zumindest erstmal einen Anreiz schaffen, dass Menschen mit Behinderung arbeiten gehen, und daraus entstehen ja Steuereinnahmen. Die Argumentation von Frau von der Leyen ist immer, dass die Eingliederungshilfe 13 Milliarden Euro koste. Das stimmt auch, aber diese Kosten fallen an, egal ob ich arbeite oder nicht. Das Einzige, was wegfallen würde, ist das Geld, was der Staat bekäme, wenn ich meine Assistenz selber zahle. Das sind aber maximal 200 Millionen Euro im Jahr.

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Die sie aber jetzt ja auch nicht kriegen, weil kaum jemand genug Geld verdient, um sich die Assistenz selbst zu leisten.
Genau. Und ein Heimplatz oder auch ein Platz in einer Behindertenwerkstatt kostet den Staat ja viel mehr, als wenn ich plötzlich arbeiten gehe und selber meine Wohnung und meinen Lebensunterhalt finanziere. Da spart der Staat ja auch noch mal direkt ein, indem er in anderen Bereichen weniger Hilfe leisten muss. Und das wird momentan gar nicht berücksichtigt, weil man das gar nicht so wahrhaben möchte, habe ich das Gefühl.

Es ist im Grunde verrückt.
Ja, vor allen Dingen wenn man sich jetzt auch das ganze mit der Debatte um Inklusion überlegt—Menschen mit Behinderung sollen ganz normal in die Schulen gehen und Abschlüsse machen. Warum macht da der Staat auf dieser Ebene so einen Aufwand, wenn er den Menschen mit Behinderung direkt nach der Schule sagt: „Ist zwar schön, dass du einen Abschluss gemacht hast, aber damit anfangen brauchst du eigentlich nichts“? Da fühlt man sich als Mensch mit Behinderung so ein kleines bisschen verarscht.

Wenn so eine Assistenz 10.000 Euro im Monat kostet, selbst wenn ich jetzt im Lotto eine Million Euro gewinnen würde, wäre das Geld nach zehn Jahren weg, ohne dass ich einen Cent für irgendetwas anderes ausgegeben habe. Nur dafür, dass ich die Hilfe bekomme, dass ich schlichtweg leben kann.

Kurz vor dem Treffen mit Ursula

Kannst du dir bis dahin nicht einfach jeden Monat einen Goldbarren kaufen?
Das ist ja nicht nur Vermögen, das auf dem Konto liegt. Vermögen ist ja auch ein Haus oder ein Auto. Vermögen bezieht sich ja auf sämtliche Vermögenswerte. Es gibt beispielsweise Fälle, wo Menschen mit Behinderung ein Haus erben und das sofort verkaufen müssen, damit sie dann von dem Geld ihre Assistenz für ein halbes Jahr zahlen müssen. Danach ist das Geld weg, und dann sagt der Staat wieder: „OK, jetzt spring ich ein.“ Woran man ja sieht, was für ein Irrsinn das eigentlich ist. Das hat ja eigentlich keinen Vorteil für niemanden.

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Noch schlimmer ist natürlich, wenn der Lebenspartner ein Haus mit in die Ehe bringt, das nicht barrierefrei ist, dann sagt das Sozialamt: „Lieber Ehepartner, jetzt verkauf mal dein Haus.“ Obwohl der ja eigentlich gar nichts mit der Behinderung als solches zu tun hat. Das ist ja eigentlich schon Sippenhaft. Du hast was mit einem Menschen mit Behinderung zu tun, also zahl mal dafür.

Hast du Hoffnung? 

Ich hoffe einfach mal, dass die SPD sich da irgendwie durchsetzen kann—aber momentan sehe ich das nicht ganz so positiv, leider. Weil ich glaube, dass die CDU sich da durchsetzen wird. Weil man ja vermeintlich auf die Behinderten, die sich ja eh nicht wehren können, die ja drauf angewiesen sind, die keine große Aufregung machen können und die keine große Lobby haben, ja schnell verzichten kann. Wenn die CDU sich dort durchsetzen kann und das im Koalitionsvertrag nicht geregelt wird, dann sehe ich sprichwörtlich schwarz.

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