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Sport

Deshalb drehen die Leute plötzlich wegen Schach durch

Wir haben uns erklären lassen, warum das heutige Finale der Schach-WM ein Must-See ist.
Sergey Alexandrowitsch Karjakin, der heutige Gegner von Magnus Carlsen | Foto: imago | Future Image

Holt die Soletti raus, heute Abend ist Schach-WM-Finale! Nach dem Formel 1-Erfolg von Nico Rosberg steht damit ein weiterer actiongeladener Tag ins Haus und alle lecken sich schon die Finger danach, welche Züge heute wohl wieder gesetzt werden. Deutsche und österreichische Medien berichten tagtäglich von den Ereignissen rund um die Bauernschlacht und die Videos und Partien zum Nachspielen mausern sich sicher bald zum Stimmungsgarant jedes in Beliebigkeit versinkenden Tinder-Dates.

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Doch was führt eigentlich dazu, dass neben No Mans Sky und Cosplay plötzlich auch das analoge Kriegsgefecht auf der Hitliste der angesagten Freizeitbeschäftigungen steht?

Zum einen gibt es mit dem Norweger Magnus Carlsen zum ersten Mal einen westeuropäischen Weltmeister. Der 26-Jährige gilt als Genie des Schachspiels mit der höchsten Elo-Zahl (einer Maßeinheit für die Spielstärke von Schachprofis), in der Geschichte der Disziplin. Er übertrifft damit sogar den bisherigen Rekordhalter Garri Kasparow, der Carlsen im Jahr 2009 beriet und trainierte. Sein Herausforderer heißt Sergej Karjakin, tritt für Russland an, und schlägt sich bisher besser als erwartet, denn am heutigen (wahrscheinlichen) Finaltag steht es unentschieden zwischen den zwei Superbrains. Eine Ausgangslage, die für Spannung sorgt.

Christian Hesse ist Professor für Mathematik an der Universität Stuttgart und hat mehrere Bestseller über Schach geschrieben. Er wundert sich nicht darüber, dass plötzlich alle anfangen, Türme, Springer und Könige zu hypen: "In den letzten Jahren hat das Interesse am Schach zwar stetig zugenommen, aber diese WM ist schon besonders, da die beiden Kandidaten sehr interessante Charaktere sind. Außerdem hat man online zum ersten Mal wirklich die Möglichkeit hautnah mit dabei zu sein."

"Für die Popularität des Schach ist das Internet das Beste, was passieren konnte", sagt auch Sibylle Heime von der Zeitschrift Schach zu VICE. "Man kann sich die Spiele der großen Meister live anschauen und sich dabei sogar noch die Züge erklären lassen."

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Der Mathematikprofessor Christian Hesse sieht einen weiteren Grund für den plötzlichen Schach-Fetisch so vieler Menschen in der weltpolitischen Lage: "Schach ist einfach ein Spiel, bei dem man sehr vernünftig, reflektiert und bedacht handelt. Ich denke in diesen extrem oberflächlichen Zeiten von Brexit und Trump sehnen sich die Menschen nach Vernunft und Logik und genau das finden sie eben in diesem Spiel."

Christian Hesse beim Denken | Foto: Ivo Kljuce

In Russland gehört Schach bereits seit den 1920er Jahren zum Volkssport und wurde schon damals aktiv gefördert, um das intellektuelle Niveau der Bevölkerung anzuheben. Lenin unterfütterte diese Entwicklung mit dem Satz "Schach ist Gymnastik des Verstandes", und so entstand nach und nach die sogenannte Sowjetische Schachschule.

Auch heute noch gehört Schach zur russischen Bildung dazu, wie die Kotlety zur Hausmannskost. Mittlerweile greift das Brettspiel auch auf andere Länder über. Die Türkei arbeitet an einem großen Schulschachprogramm. In den USA etabliert sich das Strategiespiel langsam an den Schulen und ambitionierte Eltern bezahlen ihren Kindern einen persönlichen Schachtrainer.

Ein Trend, den es in Deutschland auch gibt, weil immer mehr Kinder auf Ganztagsschulen gehen, so Sibylle Heime. Vor allem in Berlin werden Kinder bis zum späten Nachmittag im Schulhort betreut, und da weder Schüler noch Betreuer jeden Tag Uno spielen oder Kastanienmännchen basteln möchten, greift die Begeisterung am Schach zunehmend um sich. Vom Deutschen Schulschachkongress, über das Schulschachpatent und die Schulschachstiftung.

Doch was dem einen die Rettung des Nachmittags, ist dem anderen einen gelangweilten Hate-Rant wert. So war es bereits in der Bibel, in den griechischen Tragödien und so ist es auch heute noch. Und so reichten die zwei Studenten Markus Erhardt (Pflanzenbiotechnologie) und Oliver Till (Master Lehramt Mathe / Chemie) am 16. November einen Antrag zum Verbot des Schachspiels an der Universität Hannover ein.

Ihre Analyse bezichtigt das Spiel unter anderem des Rassismus, der Gewaltverherrlichung, der Förderung des Klassendenkens und der Pervertierung der Transsexualität. Ob es sich dabei um eine ernst gemeinte Forderung oder lediglich einen Scherz handelt, der zeigt wie absurd heute zum Teil argumentiert wird, ist so offen, wie die Schachpartie am heutigen Abend.

Jetzt habt ihr vielleicht Lust bekommen, das vier- bis fünfstündige Duell heute Abend live zu verfolgen. Falls ihr noch einen Profi-Tipp für eure Spielwette benötigt, dann hört auf Professor Hesse. Der Matheprofessor setzt auf Magnus Carlsen: "Ich denke, er wird einige Risiken eingehen und sich damit letztlich durchsetzen. Ich freue mich zumindest auf einen spannenden Abend."