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Popkultur

Diese Bücher, Platten und Filme solltet ihr euch im Juni reinziehen

Anneliese Mackintosh, Trümmer, The Lobster und was ihr sonst noch kennen solltet, um euer nächstes Tinderdate zu beeindrucken.

Aus der The Up Close and Personal Issue

SO BIN ICH NICHT
Anneliese Mackintosh
Aufbau Verlag

Ist es nicht widersinnig, dass die Beschreibung der Süßigkeiten in Pralinenkästen auf der Unterseite der Schachtel steht? Du also, wenn du dir eine Praline nehmen möchtest, nicht sehen kannst, ob sie mit Nougat, Trüffel oder—Worst-Case-Szenario—Marzipan gefüllt ist? Im Fall von Anneliese Mackintoshs erstem Roman, So bin ich nicht, hilft allerdings auch das Studieren des Klappentextes nicht. Ihre Süßigkeiten sind mit Arsen und Ammoniak gefüllt.

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Alles beginnt harmlos: Greta, die Prota­gonistin, findet in dem Haus ihrer Eltern Nachrichten, die sie als Jugendliche an ihr erwachsenes Ich geschrieben hat: "Deo schadet der Ozonschicht. Nimm Seife." beispielsweise, oder "Hab nie mehr als einen Freund." Süß, denkst du, aber kaum hast du dich auf einen unterhaltsamen Buzzfeed-Unterhaltungsroman eingestellt, kommt das zweite Kapitel, schlägt dich von hinten nieder, reißt dir das Herz raus— oder das Gehirn, oder was du auch glaubst, wo dein Empfindungszentrum untergebracht ist—und hüpft darauf herum.

Oberflächlich betrachtet ist So bin ich nicht der allvertraute Roman über die Kindheit, den Vater, sexuelle Selbstfindung. Doch Vorsicht: Dieses Buch, das man im ersten Moment für einen Jugendroman halten könnte, ist brutaler, als es scheint. Macintosh springt durch die Zeiten, zitiert Sarah Kane, schildert Gretas Amorositäten drastisch, immer eindeutig, immer an der Banalität schrammend. "Zwei Freunde auf einmal zu haben ist kinderleicht. Du brauchst nur: einen Bindfaden, eine Eierschachtel, starken Bastelkleber und ein Mikrowellengericht für eine Person", schreibt sie, entgegen der Ratschläge ihres jüngeren Ichs, um eine detaillierte Beschreibung anzufügen, wie man eben das am besten anstellt. Dabei benennt sie die beiden Freunde als "Alpha" und "Omega". "Auf dem Heimweg von Omegas Wohnung reibst du dir den Bauch, in dem keine Luft mehr ist, sondern der dir wehtut, weil du zweimal auf der Sofalehne gehangen hast: einmal, als Omega dich für die Dauer eines ganzen James-Bond-Films nagelte, und dann noch mal, als er sich zu Mock The Week einen auf dich runtergeholt hat. (…) Sobald du durch die Tür bist, zieh dich aus. Wasch dich, zieh deinen Pyjama über und ruf Alpha an. 'Ich bin einsam', erzählst du ihm."

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In dieser Banalität schlummert etwas viel Erschreckenderes: Das Trauma des Missbrauches. Die Geschichte einer Gruppenvergewaltigung, die in Jugendsprache erzählt wird, als eine Partynacht unter anderen, von der man mit blauen Flecken erwacht, die Strumpfhose um den Hals gewickelt. Erzählt als etwas, das man wissen sollte, wenn man sich überlegt, mit Greta befreundet zu sein, neben der Tatsache, dass sie "Frühling, Tanzen, Heidelbeeren und Linguistik" mag. Ein weiterer Gast: Die Geisteskrankheit, die als Zitat aus einem Ratgeber auftaucht, nicht verinnerlicht wird, sondern nur angerissen, auf einen Tee eingeladen und wieder nach draußen gebeten. Die Grenzen zwischen Roman und Realität verschwimmen während des Buches, ein Kapitel heißt "Wie werde ich ein alkoholkranker Schiftsteller—eine Anleitung in zwölf Schritten". Überhaupt liebt Mackintosh Anleitungen.

Die Ich-Erzählerin erzählt vom Tod ihres Vaters. Sie tut es in Fetzen. Frühe Erinnerungen, späte Erinnerungen, Kurzgeschichten, Sexgeschichten; die ganze Bandbreite eines demolierten Kopfes. Gelegentlich kommt sie ins Labern, erzählt noch eine Anekdote und noch eine, als wenn ein Betrunkener einem seine Lebensgeschichte erzählt und nicht merkt, dass das Gegenüber längst aufgehört hat zuzuhören. Dazwischen hypothetische Kapitel, Erzählungen für ein fiktives Du, ausgedachte Liebhaber, Intimität, Alkoholismus, Selbstverletzung, all jenes eher nebenbei. Ein Erwachsenwerden, das nicht linear, sondern in Kapriolen und Rückschlägen erfolgt.

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Wenn dies die Stimme der neuen Generation ist, wie Ewan Morrison verkündete, ist es eine eigentümliche Stimme, eine scheinbar oberflächliche, unterhaltsame Stimme, in die sich eine tiefe Verstörtheit webt. Selbst der Vater, anfangs als Lichtgestalt gezeichnet, wird dem Tode nahend wahnsinnig, "Deine Mutter hat jetzt eine Designerfotze", schreit er ins Telefon. Muss man die sexuelle Explizitheit des Romans erwähnen? Weibliche, vor allem junge weibliche Autorinnen, die es wagen, "Penis" zu sagen, den Mann zum Objekt zu machen, werden noch immer gern mit dem Charlotte-Roche-Hammer eingeebnet. Sagen wir: Es ist 2016, Frauen dürfen über Geschlechtsverkehr schreiben, ohne darauf reduziert zu werden. Oder hoffen wir es wenigstens.

Es gibt unerwartete, beinahe lyrische Momente in diesem Roman, wenn Greta das Haus ihrer Kindheit auf Google Maps wiederfindet. Anhand der geparkten Autos begreift: In diesem Moment waren wir alle zu Hause, das Glück noch intakt. Einige große Parabeln finden sich, für Trauer, Krankheit ohne Heilung, Heilung ohne Krankheit. Vielleicht ist es gut, wenn man manchmal nicht weiß, womit die besagte Praline gefüllt ist, bevor man es schmeckt: Etwas Süßes, etwas Bitteres, eine Prise Gift. -JULIANE LIEBERT


INTERZONE
Trümmer
Pias Germany (rough trade)

Inspiration ist immer auch dazu da, es dann anders zu machen. Anders kann heißen: besser. Anders kann auch heißen: schlechter. In diesem Sinne: Hi, Trümmer. Wir haben geahnt, dass ihr kommen würdet, und wir haben uns nicht auf euch gefreut. Nein, ist okay, setzt euch. Deutscher Indierock, ja? Aus Hamburg, Echo-Shortlist, zweites Album? Okay, schauen wir uns das mal an. Keine Angst, es wird fast nicht wehtun—Trümmer kommen aus Hamburg und singen auf Deutsch, wollen aber nicht zur Hamburger Schule gehören, sondern lieber sein wie die Libertines, wofür die Hamburger Schule sehr dankbar sein kann. Vage im Kielwasser von Kraftclub machen sie Indierock mit Lyrics, die gern schlau sein wollen, aber ein bisschen dümmlich sind, was schlimmer ist, als wenn sie einfach dümmlich wären. Sie erinnern an die Scham, die man empfand, nachdem man als Jugendlicher jahrelang englische Lyrics mitsang, ohne zu wissen, was man da eigentlich singt. Bis man irgendwann begann, Englisch zu verstehen, und sich klar wurde, dass man ein Drittel seines Lebens "Ich will dich aber deine Tante will mich auch oh ist das geil Baby der Wind ich mag mein Cabrio" mitgesungen hatte. Nur hat man bei Trümmer nicht mal die Ausrede, dass man die Texte nicht versteht, und die gehen so: "Wir sind die Kinder, vor denen uns die Eltern warnten" oder "Lasst uns in Ruhe mit eurer Ruhe!" Wenn das die Antwort auf Wanda sein soll, ist es eine lahme Parade, denn sie sind weder so eigen noch so witzig wie Wanda, und dass einem Wanda auf einmal als Helden erscheinen, spricht für sich. Kurz, Trümmer sind nicht die neuen Blumfeld. Sie sind Blumfeld für Bequeme. Aber letztlich muss man konstatieren, dass es ein Publikum für so was gibt, und auch, wenn man sich wünscht, dass dieses Publikum immer möglichst weit von dem Ort entfernt ist, an dem man sich gerade befindet: Sie werden einen Haufen Menschen sehr glücklich machen, und in dem Kontext machen Trümmer ihre Sache gut—Hey, Jungs, noch da? Keine Angst, es ist nichts Ernstes. Eure Musik ist leider entsetzlich, aber ihr werdet trotzdem durchstarten, denn es gibt keinen Gott, und wenn es ihn gibt, hat er keinen Musikgeschmack. Keine Ursache, bis zum nächsten Mal!

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THE LOBSTER
Giorgos Lanthimos

Dystopien gehen immer. In The Lobster geht es um ein Hotel, eigentlich eine Zwangsanstalt für Singles, denn Alleinsein ist gesetzlich verboten: Wer nicht innerhalb von 45 Tagen jemanden findet, wird in ein Tier seiner Wahl verwandelt. Der Film erinnert an Jens Liens The Bothersome Man von 2006, der in einem ähnlichen Setting spielt und mit den gleichen Mitteln arbeitet: harter psychischer und physischer Gewalt, Charakteren ohne jedes Identifikationspotenzial, die ohne Betonung sprechen—scheint gerade sowieso Mode zu sein, The Royal Tenenbaums sind schuld oder Orwell. Der Soundtrack macht einen wahnsinnig. Schroff rubbeln die Bögen über die Geigen wie Sex, wenn beide traurig sind, und genau so fühlt sich The Lobster an. Gutgemacht ist das alles, aber auch sehr vorhersehbar, und seien wir ehrlich, inzwischen nerven solche Filme mehr als die "konformistische Welt", die sie zu kritisieren versuchen. Dystopische Filme über den missglückten Ausbruch aus einer dystopischen Welt wären vermutlich Bestseller in diversen dystopischen Welten, unserer eingeschlossen. Obwohl es bei dem hier noch geht, weil Regisseur Giorgos Lanthimos auch noch die Unmöglichkeit von Liebe thematisiert. Liebe ist nämlich auch scheiße, schon gewusst? Liebe ist scheiße, alle sind immer grausam zueinander, und Gewalt im Fernsehen fetzt. Immerhin.


NOW WAIT FOR LAST YEAR
Caroline K
Blackest Ever Black/Klanggalerie

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Wir wissen wenig über die visionäre britische Künstlerin und Industrial-Musikerin Caroline Kaye Walters, die 2008 gestorben ist. Was wir wissen, ist, dass sie während ihrer aktivsten Phase in den Achtzigern diese Platte veröffentlicht hat, ihr einziges Solo-Album. Es ist eine Schande, dass die beste Platte des Frühlings ein Re-Issue ist, aber dank der Nerds von Blackest Ever Black ist dieses enigmatische Werk zum ersten Mal seit 1987 geremastert worden. Zu diesem Zeitpunkt hatte Walters schon das antikapitalistische Mailart-Kollektiv und Plattenlabel Sterile Records und die extrem einflussreiche Industrialgruppe Nocturnal Emissions gegründet. Dieses Album ist ihr Meisterstück. Der Titel des Albums stammt von einem Philip K. Dick Roman, und es nimmt die Krümmung der Zeit als seine These. Diese fünf nahezu perfekten Bretter von desolatem Minimal Synth und Prototechno wären der perfekte Soundtrack für deine nächste Überdosis. Die Songs—besonders der furchteinflößende 20 minütige Opener—scheinen ihre Laufzeit zu strecken und zu verziehen, mit verschmierten, tödlichen Synths und K's gespenstischem, wortlosem Gesang über pulsierenden Industrialbeats. Die originale Pressung ist beinahe unmöglich zu finden, also nimm diese exzellente Neupressung. -BENJAMIN SHAPIRO


THE ANATOMICAL VENUS
Joanna Ebenstein
Thames and Hudson Ltd

Im 18. Jahrhundert wollten Doktoren Anatomie lehren, ohne Kadaver zu verwenden, da sie diese nicht präservieren konnten und sie vielerorts immer noch als ethisch fragwürdig betrachtet wurden. Als Ersatz erschuf der italienische Bildhauer Clemente Susine um 1780 die erste richtige anatomische Venus—die sogenannte Medici Venus. Joanna Ebenstein konzentriert sich auf die philosophischen Spannungen dieser Figuren, die zwischen Wissenschaft und Religion, Kunst und Anatomie, dem Grotesken und dem Erotischen stehen. Sie versteht sie als Objekte, die "gleichzeitig eine verführerische Representation von idealer weiblicher Schönheit und expliziter Demonstration der inneren Vorgänge des Körpers" waren. Heutzutage besteht die Versuchung, die Anatomische Venus als ein tragisches Opfer zu sehen, ein Symbol des männlichen Bedürfnisses, eine passive Frau zu besitzen. Aber The Anatomical Venus bietet auch überzeugende Gründe, die wundersame schlafende Schönheit, die sogar mit heraushängenden Organen bezaubernd ist, als etwas viel Signifikanteres zu betrachten, als eine "unbewusste Anerkennung eines anderen, verlassenen Pfades, in dem Schönheit und Wissenschaft, Religion und Medizin, Seele und Körper eins sind." Die Bilder sind übrigens auch echt cool.


ALMOST HOLY
Joanna Ebenstein

Sinnbild für den Haupt"darsteller" dieser Dokumentation ist ein animiertes Krokodil. Es entstammt einer alten Fernsehsendung und kämpft für Gerechtigkeit—wie Gennadiy. Gennadiy lebt in der Ukraine und sammelt seit Jahren verwahrloste, drogenabhängige Kinder von der Straße ein. Kinder, die schreien, dass sie nicht gerettet werden wollen, und für die er doch die einzige Chance ist. Steve Hoover hat ihn begleitet, mit ihm und den Kindern gesprochen. "Hilft die Polizei euch?", fragt er an einer Stelle. "Nein. Sie befragen uns, schlagen uns, lassen uns gehen." Gennadiy nimmt sich ihrer an. Er verprügelt Typen, die die Kinder nach Oralsex fragen, führt ein sterbendes Kind mit Blutvergiftung den anderen vor—zur Abschreckung. Mehr als 1.000 Kinder waren inzwischen in seiner Obhut, er hat ein Dutzend adoptiert. Es ist ein grausamer, aber beeindruckender Film. Durchbrochen von merkwürdig witzigen Szenen, zum Beispiel, als er einen Jungen aufnimmt, der keinen Nachnamen hat—oder ihn nicht sagen will—und ihn berät, welchen er aussuchen soll: "Barack Obama, Vladimir Putin". "Pastor Crocodile" nimmt das Gesetz in seine eigenen Hände, der ambivalenteste Superheld, den das Kino—und die Wirklichkeit—derzeit zu bieten hat.