Eve Peyser Instagram Fotos, Kaffeetasse, Anstecker, Halskette, Getränk
Alle diese Fotos hat Eve Peyser 2016 gepostet | Mit freundlicher Genehmigung von Eve Peyser

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Popkultur

Alles für die Likes: Wie Twitter mich fast kaputtgemacht hätte

Was passiert, wenn du dein Geld verdienst, indem du deine Persönlichkeit online verkaufst – bevor du selbst überhaupt weißt, wer du bist.

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Seit Oktober 2015 habe ich etwa 168 Onlineleben geführt: Eve, der Niemand. Eve, die Sex- Bloggerin. Eve, die Comedian. Die Depressive, die Trinkerin, die Feministin. Die Tech-Autorin, die Sozialistin, die Haterin. Die Abstinenzlerin, die Politikredakteurin, die Schwert- und Messer-Sammlerin. Und was auch immer ich heute bin.

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Eine Essenz aus sich selbst pressen und zu einem leicht verdaulichen Produkt formen: ein seltsamer Lebensstil, vor allem als junge Erwachsene, die noch nicht genau weiß, wer sie ist. Ich hatte nie vor, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, indem ich meine Persönlichkeit verkaufe, doch wir leben in der Social-Media-Ära. Persönliches Branding ist fast unausweichlich für eine junge Autorin wie mich: ständig online, allzeit bereit, ihre abgefucktesten Gedanken mit einem großen Publikum zu teilen, auf der Suche nach Bestätigung und Liebe. Das öffentliche Oversharing wurde zu meinem Lebensinhalt. Je mehr ich mein Leben als eine Ware sah, die andere konsumierten, desto zwanghafter postete ich alles, was ich erlebte: Schmerz, Freude, Wut, Angst. Meine Online-Existenz war nie haltbar. Immer wieder häutete ich mich und kam als neues Ich zum Vorschein, jedes Mal ein wenig gefestigter.


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Zurück zum Oktober 2015: Ich habe im Vorjahr mein Studium abgeschlossen und weiß, dass ich Autorin werden will. Ich habe nur keine Ahnung, wie. Nach einem Jahr ziellosen Umherstreifens begegne ich einer Freundin in einer Bar: Sie ist Redakteurin für eine kleine Website. Neben meinem Café-Job fange ich daraufhin an, als freie Autorin persönliche Essays und bescheuerte Blogs zu schreiben. Hier und da twittere ich eine banale Alltagsbeobachtung oder einen Link zu einem Artikel, auch wenn ich kaum Follower habe.

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Wenige Tage nach meinem 22. Geburtstag twittere ich einen Screenshot von Tinder: Der berüchtigte Pharma-Bro Martin Shkreli hat mit mir gematcht. Shkreli ist in den Schlagzeilen, weil seine Pharma-Firma den Preis eines Medikaments in die Höhe treibt, das AIDS-Patienten gegen lebensgefährliche Parasiten nehmen – von 13,50 Dollar die Tablette auf 750 Dollar. Ich will kein Date mit Shkreli, aber nutze seinen Rechts-Wischer zu meinem Vorteil. Ich frage ihn, wie es sich anfühlt, sich über Nacht in einen internationalen Bösewicht zu verwandeln, und wie er seinen grausamen Kapitalismus rechtfertigt.

Die Reaktionen auf meine Screenshots überfluten mich. Ich liege mit dem Laptop im Bett und lade meine Twitter-Seite immer wieder neu, erstarrt vor dem endlosen Strom aus Likes, Retweets, Antworten und neuen Followern. Ich bin berauscht von so viel Aufmerksamkeit, ich fühle mich mächtig. Die Masse hört mir zu – und es scheint, als wäre das schon immer mein innigster Wunsch gewesen.

2016: Ich verbringe jeden Tag unzählige Stunden auf Twitter. Kein Wunder, dass ich einsam und depressiv bin. Ich twittere auch das in den Äther, denn die Belohnung lässt nie lange auf sich warten. Meine Follower-Zahl übersteigt 10.000, schwillt immer weiter. Das zeigt mir, dass ich was Besonderes bin, dass ich etwas richtig mache. Ich habe meinen ersten viralen Tweet als Karrieresprungbrett genutzt. Ich schreibe freiberuflich für so ziemlich alle, die mich wollen. Mein Twitter-Brand ist der Schlüssel zu meinem Hustle. Ich date Typen, die mich nicht zurückrufen, dann bezahlen mich Plattformen wie Cosmopolitan und New York Magazine dafür, dass ich mein desaströses Liebesleben breittrete. Ich sehe mich endlich als richtige Autorin, ich feiere mich selbst und fühle mich trotzdem leer. Meine Social-Media-Sucht macht mir langsam Sorgen, aber ich twittere weiter, was das Zeug hält. Wenn ich das nicht täte, sage ich mir selbst, dann könnte ich jetzt nicht von meinen Texten leben. Denn ich habe keine geheimen "Connections" – meine Aufträge kommen von Leuten, die mich auf Twitter gesehen haben. Ich glaube, der Plattform etwas zu schulden. Hat mich der virale Tweet noch berauscht, wird der Gedanke an eine Bringschuld zur Last. Ich will es nicht eingestehen, aber ich habe Angst.

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Ich weiß nicht, wer ich bin, und schäme mich für die vielen Pseudo-Ichs, die ich einem Publikum aus grausamen Fremden vorgesetzt habe.

März 2017: Ich habe einen neuen Job, Politikredakteurin bei VICE. Auch das wäre ohne Twitter bestimmt nicht passiert, immerhin habe ich 40.000 Follower. Das sind sehr viele Klicks für meine Artikel und damit hohe Werbeeinnahmen. Das ist es, was mich wertvoll macht. Als ich aufhöre, jedes Detail aus meinem Leben zu twittern und dafür meine Gedanken zur politischen Lage teile, steigt die Follower-Zahl rasant. Ich schreibe einen aggressiven Meinungsartikel, irgendwer regt sich auf, schon habe ich noch mehr Follower.

2018 kommt in Schwung, mein Leben wird immer geordneter. Ich kann die Risse in meiner persönlichen Marke nicht länger ignorieren. Vollzeitjob, ernste Langzeitbeziehung mit einem wundervollen Mann, dessen Liebe und Gesellschaft mir mehr geben als die Likes Tausender Fremder. Ich habe 79.000 Follower und hasse Twitter trotzdem. Und doch twittere ich unaufhaltsam weiter. Mein Feed ist eine endlose Flut des Negativen, bestürzende Nachrichten, alle schreien einander an – vielleicht werde ich einfach nur älter, aber der ganze Cyber-Zorn erschöpft mich. Jeder Tag fühlt sich an wie ein neues Gamergate. Das Internet ist wütender und giftiger als jemals zuvor. Twitter so unbedacht zu nutzen, wie ich es früher gemacht habe, ist gefährlich geworden. Zum ersten Mal seit Jahren habe ich nicht den Drang, der Welt jeden dummen, flüchtigen Gedanken mitzuteilen. Und ich habe Angst, dass ein Twitter-Monster mich bestrafen wird für alles, was ich im Laufe der Jahre gepostet habe. Meine fiesesten Momente warten nur darauf, sich zu rächen.

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Ich weiß nicht, wer ich bin, und schäme mich für die vielen Pseudo-Ichs, die ich einem Publikum aus grausamen Fremden vorgesetzt habe. Meine persönliche Marke war so groß, so allumfassend – aber ich bin zu einer Person gereift, die ihr Leben nicht mehr auf dem Präsentierteller lebt und bewerten lässt. Kein Wunder, dass sich all die Eves, die ich abgelegt habe, wie Leichen in meinem Keller anfühlen. Alles, was ich je geschrieben habe, ob in sozialen Netzwerken oder anderen Publikationen, spukt in meinem Kopf herum. Es ist zu spät, befürchte ich. Ich habe mich zu einer bombastischen Kunstfigur gemacht und dabei muss ich jetzt bleiben. Ich will hier weg. Es wird Herbst. Ich weiß immer noch nicht, wer ich bin oder sein will. Aber irgendwie klettere ich langsam aus der Grube, die ich mir selbst gegraben habe. Ich gehe meine alten Tweets durch und lösche Hunderte, die mich mit Scham und Reue erfüllen. Anfangs schwimme ich dabei in Selbsthass, aber irgendwann werde ich gleichgültig gegenüber den Eves der Vergangenheit. Sogar ein wenig stolz auf die Entwicklung, die ich in drei Jahren durchlaufen habe. Ich war ein zutiefst depressiver Aufmerksamkeitsjunkie, und heute bin ich eine viel weniger depressive Person, die sich nur manchmal Aufmerksamkeit wünscht. Babyschritte!

Ich bin immer noch auf Twitter. Das fühlt sich an wie eine unausgesprochene Voraussetzung für meinen Job. Mein Verhältnis zur Plattform aber hat sich geändert. Im Januar 2018 twitterte ich 1.033 Mal, im August sind es nur noch 188 Tweets. Darin zeichnet sich meine Genesung ab. Ich bin stolz auf mich, aber dann finde ich es dumm, stolz auf mich zu sein – wie schwer kann es bitte sein, keine 1.000 Tweets pro Monat zu posten? Ich muss oft an ein Zitat des französischen Jesuiten und Philosophen Pierre Teilhard de Chardin denken. Über den "Omegapunkt", sein Konzept vom Endziel der spirituellen Evolution, schrieb er:

"Bleibt eurer eigenen Richtung treu, aber strebt immer nach höherem Bewusstsein und größerer Liebe! Auf dem Gipfel werdet ihr mit allen zusammentreffen, die diesen Aufstieg von unterschiedlichen Richtungen unternommen haben. Denn alles, was aufsteigt, strebt zusammen."

Das fasst das Leben ganz gut zusammen, schätze ich. Die vielen Versionen von mir steigen auf, und ich frage mich gespannt, wer ich bin, wenn sie oben zusammentreffen.

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