Mit Enthaltsamkeit zur großen Liebe – funktioniert das?
Illustration by Grace Wilson

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Sex

Mit Enthaltsamkeit zur großen Liebe – funktioniert das?

"Geschlechtsverkehr hat noch nie jemandem geholfen", sagte der griechische Philosoph Epikur. Und auch heutzutage verzichten junge Menschen über längere Zeit ganz bewusst auf Sex.

Über tausende von Jahren wurden uns die Vorteile von sexueller Abstinenz von Philosophen, Schriftstellern, Künstlern und Päpsten gepredigt. Im dritten Jahrhundert vor Christus stellten Stoiker und Epikureer die sexuelle Leidenschaft als etwas absolut Irrationales dar – eine Krankheit, die das Gleichgewicht der Seele und der eigenen Befindlichkeit bedrohe. "Geschlechtsverkehr hat noch nie jemandem geholfen und man hat Glück, wenn man keinen Schaden davon trägt", sagte der antike griechische Philosoph Epikur.

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Das Problem ist nur, dass sich Sex einfach ziemlich gut anfühlt.

Trotzdem gibt es selbst heute, im Zeitalter der Kondome und modernen Verhütungsmittel, noch religionslose, aphilosophische Menschen, die den Drang verspüren, ihre Seele zu retten, indem sie Geschlechtsverkehr für mehrere Wochen, Monate oder sogar Jahre abschwören.

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Stellt Sex eine Bedrohung für die Romantik und die Menschheit dar? Wenn ja, was ist an dem Akt der Penetration dann so transformierend und verhängnisvoll – wenn man Geschlechtskrankheiten und ungeplante Schwangerschaften mal einen Moment lang beiseite lässt? Der Kern der Übung scheint zu sein, seine eigenen Bedürfnisse nach vorne zu stellen, indem man die Ablenkung durch Sex und – was noch wichtiger ist – den sozialen Ballast, der damit einhergeht, einfach ausmerzt. Auf diese Weise, so die Theorie, sind wir vielleicht in der Lage, uns selbst und unsere inneren Antriebe etwas klarer zu betrachten. Einer selbstbekennenden, sexuell emanzipierten und radikalen Feministin wird dadurch vielleicht klar, dass ihr Sex doch etwas bedeutet, obwohl sie jahrelang versucht hat, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie ganz entspannt mit Gelegenheitssex umgeht. Andererseits stellt ein Mann, der in den 15 Jahren seiner sexuellen Aktivität von einer Beziehung in die nächste übergegangen ist, vielleicht fest, dass er auch mal gerne allein wäre. Vielleicht kauft er sich eine Fleshlight oder sucht sich ein neues Hobby – Sticken oder Zwergponys zum Beispiel.

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Einige Menschen geben Sex aber auch in der Hoffnung auf, dadurch eine stabile, längerfristige Beziehung zu finden, weil sie sich über Jahre nur mit mittelmäßigen Affären abgemüht haben. Im Januar hat der Drehbuchautor Tom Young ein Essay in der Washington Post veröffentlicht, in dem er all die Erfahrungen schildert, die er gemacht hat, als er ein Jahr lang auf Sex verzichtet hat. Er hatte die Hoffnung, dass ihm die Abstinenz die Gelegenheit geben würde, "eine emotionale und romantische Basis für eine längerfristige Beziehung aufzubauen." Es ist bekannt, dass Sex unsere Urteilsfähigkeit vernebelt, meint Young, und indem er Sex aus seinen Beziehungen verbannt, hoffte er, vielleicht mehr Erfolg bei der Suche nach der großen Liebe zu haben.

Vor ein paar Jahren hat mir mein Mitbewohner erzählt, dass er das Interesse an einer Frau in der Regel nicht so schnell verliert, wenn sie nicht sofort miteinander schlafen, selbst wenn die Chemie da ist und sie es beide wollen. Ich habe spöttisch gelacht, als er mir das gesagt hat. Wenn zwei mündige Erwachsene einvernehmlichen Sex miteinander haben wollen, warum sollte man sich dann dagegen wehren? Nur um das Interesse des anderen künstlich zu erhalten? Ich konnte diese Logik nicht ganz nachvollziehen, aber seine Worte haben mich auch Jahre später noch immer nicht losgelassen. Ich schlafe auch nach wie vor mit Menschen, die ich will, wenn ich will, aber die große Liebe scheint einen großen Bogen um mich zu machen. Werden wir von Sex sabotiert? Ist Geschlechtsverkehr der gemeinsame Nenner all unserer vertrackten, enttäuschenden Beziehungen?

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Ähm, ja – aber ist Sex auch die Quelle allen Übels?

Dr. Megan Fleming, klinische Psychologin und Sexualtherapeutin, sagt, dass ein Sexentzug helfen kann, dysfunktionale Beziehungsmuster zu durchbrechen und Klarheit zu schaffen. "Wenn wir uns selbst beim Sex interessanter finden als in einer Beziehung, oder Sex als Mittel zum Zweck nutzen, weil wir denken, es sei der einzige Weg, eine Beziehung zu finden, dann ist es vielleicht sinnvoll, eine Pause einzulegen und komplett von vorn anzufangen", sagt sie. "Es ist immer wichtig, die Beweggründe für unser Verhalten zu betrachten und zu prüfen, ob sie so funktionieren, wie wir wollen. Vielleicht hast du das Gefühl, dass bestimmte Verhaltensweisen so nicht für dich funktionieren? Vielleicht erreichst du damit nicht das, was du willst? Oder vielleicht werden deine Bedürfnisse dadurch nicht befriedigt? In diesem Fall solltest du einen Schritt zurück machen. Eine Pause einzulegen, könnte da durchaus sinnvoll sein."

(Dennoch würde Fleming im Zweifel immer davon abraten, auf Selbstbefriedigung zu verzichten – insbesondere, wenn der eigene Sexualtrieb sowieso schon sehr gering ist. "Wenn man keine besonders robuste Libido hat, dann ist es eine Sache, eine Pause von Sex zu machen. Ich würde die Person aber immer eher dazu ermutigen, ihren Körper zu erforschen und sich selbst zu befriedigen", sagt sie. "Wenn man das Feuer nicht am Lodern hält, könnte es noch schwieriger werden, wenn man wieder bereit ist, es zu tun.")

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Young hat durch sein Experiment letztendlich keine feste Beziehung gefunden. Allerdings, sagt er, hat er eine klarere Vorstellung davon entwickelt, was ihm an einem potenziellen Partner wichtig ist. Zudem hat er ein ehrlicheres Bild davon bekommen, inwiefern ihn Sex beeinflusst.

"Ich habe noch nicht ganz herausgefunden, wie ich mit Sex umgehen soll, aber ich habe gelernt, Rahmenbedingungen festzulegen und Erwartungen zu formulieren, um mich emotional zu schützen", schreibt er. "Man kann lernen, angenehmen und respektvollen Gelegenheitssex zu genießen, dabei ist es aber auch entscheidend, mit seinem Sexpartner zu kommunizieren und sicherzustellen, dass man dasselbe möchte."

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Die Logik ist dieselbe, wie wenn man einen Monat lang auf Alkohol verzichtet: Es bedeutet nicht, dass Alkohol von Natur aus schlecht ist, aber ein Entzug kann unser Verhältnis zu Alkohol verbessern, weil ungesunde Verhaltensweisen ans Tageslicht kommen und uns unter Umständen klar wird, inwieweit wir Alkohol brauchen oder als Krücke nutzen. Einigen Menschen fällt es darüber hinaus nicht immer leicht, Sex und Alkohol voneinander zu trennen. Die bildende Künstlerin und Schriftstellerin Molly Soda hat in Sex kein Laster gesehen, als sie 2016 bewusst entschied, enthaltsam zu bleiben. Sie bemerkte allerdings, dass viele ihrer sexuellen Begegnungen durch Alkohol und ihre Suche nach Bestätigung motiviert waren.

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"Mir wurde klar, dass viele meiner sexuellen Beziehungen durch Alkohol angefeuert wurden, was in vielerlei Hinsicht nicht unbedingt einvernehmlich ist. Sex kann, ganz besonders für Frauen oder Femmes, auch eine sehr seltsame Erfahrung sein – eine Erfahrung, bei der wir Männern die Macht überlassen", sagt Soda. "Ich glaube auch, dass die Art und Weise, wie wir über Gelegenheitssex sprechen, vielen Menschen die Möglichkeit gibt, ihrer Verantwortung gegenüber anderen Menschen und der Definition von Beziehungen zu entkommen."

Soda hat festgestellt, dass es viele Vorteile haben kann, auf Sex zu verzichten. Sie hatte auf einmal mehr Zeit, sich auf sich selbst zu konzentrieren. Zudem wurden ihre Beziehungen zu Frauen stärker und weniger kompliziert. "Wenn man sich innerhalb bestimmter sozialer Gruppen, gesellschaftlicher Kreise, Szenen oder Altersgruppen bewegt, kreuzen sich die Wege oft", sagt sie. "Jeder schläft mit jedem. Ich glaube, dass dadurch ein bizarrer, unausgesprochener Wettkampf zwischen den Frauen entsteht."

Darüber hinaus hat Soda auch bemerkt, dass sie Sex eigentlich gar nicht als so beiläufig empfindet, wie sie immer dachte – auch wenn es anderen vielleicht so geht.

"Ich glaube, oft bekommen wir gesagt, dass es sich [beiläufig] anfühlen sollte, weshalb [wir] unsere Gefühle irgendwie beiseite schieben", sagt Soda. "Jeder Mensch ist anders und möchte auf unterschiedliche Weise und aus unterschiedlichen Gründen berührt werden. In meinem Fall habe ich festgestellt, dass ich oft Sex habe, weil ich die Bestätigung brauche oder mich langweile und mich irgendwie ablenken möchte. Nicht, weil ich in dem Moment unbedingt Sex haben möchte."

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Soda sagt auch, dass sie irgendwann während ihrer einjährigen Enthaltsamkeit einen Punkt erreicht hat, an dem sie nicht mehr mit ihrem Gegenüber schlafen musste, um sich ihm verbunden zu fühlen. Sie hat gelernt, dass sie lieber bis fünf Uhr morgens wach blieb und redete. "Wenn ich mich mit jemandem unterhalte, behalte ich die Kontrolle und die Macht – das ist wahrscheinlich irgendein komischer Fimmel von mir", meint sie, "aber ich weiß auch nicht: Es gibt mir die Möglichkeit, mich ein klein wenig mehr auf die Situation zu konzentrieren."

Ausgerüstet mit einem ganz neuen Bewusstsein für sich selbst, war Soda dann wieder bereit für Sex und hat sich ein Tinder-Profil angelegt.

"Ich werde Sex haben", sagt sie. "Ich weiß nur noch nicht, wann."