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Reproduktive Rechte

Abtreibungsgegner-Rhetorik ist im deutschen YouTube-Mainstream angekommen

Mr. Wissen2Go fordert im Rahmen eines sozialen Experiments dazu auf, abtreibende Frauen zu bestrafen – und bekommt neben Morddrohungen schockierend viel Zustimmung.
Foto: unsplash.com | Pexels | CC0

Am Mittwoch, dem 5.4., lädt der YouTuber MrWissen2go ein Video mit dem Titel "Ist Abtreibung Mord? #mirkosmeinung" hoch. Mirko Drotschmanns Kanal zählt über 480.000 Abonnenten und ist in der Kategorie Education & Science beim diesjährigen Webvideopreis nominiert. Außerdem produziert der Journalist mit Zeitreise2go aktuell ein Format für den MDR. Er weiß, wie man komplexere Inhalte für eine junge Zielgruppe verpackt – und dass auch ernsthaftere Diskurse auf YouTube eine knallige Überschrift brauchen.

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Wer dann allerdings auf das Video klickt, wähnt sich plötzlich auf einer Kundgebung selbsternannter Pro-Life-Aktivisten. In dem mittlerweile gelöschten Video zeigt Drotschmann Abtreibungsszenen, fordert Strafen für abtreibende Frauen und spricht bei der Beschreibung der "populärsten" Abtreibungsmethoden ganz bewusst von "Leichenteilen". Wem diese Rhetorik bekannt vorkommt: Sie findet sich auf dutzenden Abtreibungsgegner-Websites, die mit dramatischen Bildern und Halbwahrheiten mehr emotionalisieren, als informieren wollen. Das Bild der Frau, die gefälligst auszutragen hat, was da in ihrem Leib sprießt – jetzt auch im weitestgehend ideologiefreien YouTube-Mainstream zwischen Schmink-Tutorials und Let's Plays.

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Via Twitter gießt der Familienvater zusätzlich Öl ins Feuer. Auf die Frage danach, wo denn seiner Meinung nach Parallelen zwischen Mord und Abtreibung beständen, antwortet Drotschmann: "Es gibt Mordmerkmale, die durchaus zutreffen. Heimtücke zum Beispiel. Oder Grausamkeit." Die Reaktionen schwanken zwischen Fassungslosigkeit, Wut und überraschend viel Zustimmung.

Deswegen veröffentlicht MrWissen2go zwei Tage später das Video "Abtreibung Mord? Mein Ernst? | Reaktion". Scheinbar überrascht spricht er darüber, wie negativ seine Aussagen aufgenommen wurden und dass er explizite Morddrohungen erhalten habe. Auf Nachfrage von Broadly sagt Drotschmann, Beleidigungen wegen kontroverser Inhalte durchaus gewohnt zu sein. Dass ihm jemand "dezidiert schildert, wann und wie er mich umbringen möchte", sei allerdings noch nicht vorgekommen. Bisher sei er vor allem aus dem "rechtsextremen Spektrum" kritisiert worden. An seinem Abtreibungsvideo hingegen hätten sich vor allem Linke und feministische Aktivist_innen gestört. Die Frage danach, ob #mirkosmeinung in diesem Fall wirklich seinen Standpunkt beschreibt, beantwortet er im Follow-up-Video mit "Jein".

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Ich wollte analysieren, was passiert, wenn jemand eine Position vertritt, die von der intellektuellen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird. Im Nachhinein betrachtet, war das ein Fehler.

Um das direkt klarzustellen: Mirko Drotschmann ist Abtreibungsgegner und hat auch keine Probleme, das zuzugeben. Was er allerdings nicht sein möchte, ist ein Frauenfeind. Broadly gegenüber erklärt er, durchaus zu unterstützen, dass jede Betroffene für sich selbst entscheiden muss, ob sie ein Kind austrägt oder nicht. Die rechtliche Regelung in Deutschland bezeichnet er als "in dieser Hinsicht gut". Wie es dann zu dem unsäglichen ersten Video kommen konnte? Er wollte da mal was ausprobieren.

Bewusst, sagt Drotschmann, habe er "die provokante Rolle des 'advocatus diaboli'" angenommen und "die Position eines erzkonservativen militanten Abtreibungsgegners wiedergegeben". Sein Ziel sei es gewesen, die Leute zum Diskutieren anzuregen, zwei Wochen lang seine Position zu verteidigen und daraus dann Rückschlüsse für ein Video zum Thema "Meinungsfreiheit" zu ziehen. "Darin wollte ich analysieren, was passiert, wenn jemand eine Position vertritt, die von der intellektuellen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird und welche Reflexe damit einhergehen", schreibt er per Mail. "Im Nachhinein betrachtet, war das ein Fehler."

Mit seinem zweiten Video möchte er Schadensregulierung betreiben, sich erklären. Die Debatte sei wichtig, betont er mehrfach im Video, weshalb er eine tiefergehende Diskussion lostreten wolle. Ein im Grunde lobenswertes Ziel, insbesondere in Zeiten, in denen Frauen weltweit für ihre reproduktiven Rechte auf die Straße gehen. Inwiefern das mit emotionalisierenden Bildern und fragwürdiger Rhetorik passieren soll, wird allerdings nicht deutlich. Zusätzlich problematisch bleibt die Frage, wie seine Kernzielgruppe mit dieser Art von Content umgehen.

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US-Satiriker Stephen Colbert gab für The Colbert Report ebenfalls den erzkonservativen Muster-Republikaner. Der Unterschied: Es war eine klare Parodie auf amerikanische Rechtspopulisten, gerichtet an eine erwachsene Zielgruppe. Der bewusst "zugespitzte" Vortrag von MrWissen2go hingegen unterscheidet sich weder formal, noch im Vortrag von den Videos, in denen er über Burka-Verbote, Linksextremismus oder Landtagswahlen spricht. Dass er im Ursprungsvideo erklärt, wie das mit der Befruchtung eigentlich funktioniert, macht außerdem deutlich, wie sehr sich seine Zielgruppe alterstechnisch von der Colberts unterscheidet.

Wer Themen anfasst, die so polarisierend sind wie die ethische und moralische Vertretbarkeit von Abtreibungen, muss ihr Ausmaß verstehen. Dass Drotschmann dies dramatisch unterschätzt hat, sieht man zu Beginn seines Follow-up-Videos. Als er sich überrascht davon zeigt, einen solchen Shitstorm geerntet zu haben, "und das nicht, weil ich auf meinem Kanal etwa über ein religiöses Thema gesprochen habe oder über ein politisches. Nein, weil ich über Abtreibungen gesprochen habe." Tatsächlich ist die Diskussion um Abtreibungen beides – sowohl politisch, als auch religiös motiviert. Wer an einem ernsthaften Diskurs über Abtreibungen interessiert ist, kann diese Faktoren nicht ausklammern.

Das zeigt sich übrigens besonders deutlich am Umfeld des Mannes, mit dem Drotschmann zum Thema Abtreibung "vollkommen einer Meinung" ist, wie er es im Ursprungsvideo formulierte: Donald Trump. Dessen republikanische Kollegen sorgten in den vergangenen Wochen für Schlagzeilen, weil sie Frauen vorschlugen, für Abtreibungen "in den Zoo" zu gehen oder Vergewaltigungen als "Gottes Wille" deklarierten. Vizepräsident und "Mann Gottes" Mike Pence unterstützt Zeit seiner politischen Karriere das selbsternannte Pro-Life-Movement und war erheblich daran beteiligt, den Zugang zu Abtreibungen für Frauen in ganz Amerika einzuschränken.

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In den Mails, die mich bis heute erreichen, wird das, was ich gesagt habe, gelobt. Nach dem Motto: 'Gut, dass es mal jemand offen ausgesprochen hat.'

Wenn Trump also davon spricht, Frauen für Abtreibungen zu bestrafen, bedient er damit eine Rhetorik und Überzeugung, die in seiner Partei weit verbreitet ist und von großen Teilen der Wählerschaft erwartet wird. Seine Parteikollegen argumentieren oftmals religiös. Trumps Positionen zum Thema Abtreibung hingegen könnten durchaus als politischer Schachzug gesehen werden, um eine der republikanischen Kernwählerschaften – erzreligiöse Konservative mit einem Geschlechterrollenbild aus dem vorletzten Jahrhundert – an sich zu binden.

Das wiederum zeigt auch: Drotschmann wollte zwar bewusst eine "unpopuläre" Position einnehmen – so unpopulär ist die aber leider gar nicht. Nicht nur in den USA, sondern auch im deutschsprachigen Raum. Das zeigt sich in den Kommentaren, aber auch in der Tatsache, dass die allgemeine Rückmeldung zum Video laut dem YouTuber selbst zu 50 Prozent positiv gewesen sei. "In den Mails, die mich bis heute erreichen, wird das, was ich gesagt habe, gelobt", erklärt er uns. "Nach dem Motto: 'Gut, dass es mal jemand offen ausgesprochen hat.'"

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Mittlerweile hat der 31-Jährige sein ursprüngliches Video auf "privat" gestellt. Er möchte nicht, dass es von irgendjemandem "ohne Kontext", also ohne seine Richtigstellung, gesehen wird. Gegenüber Broadly bedauert er ausdrücklich, sollte er jemanden mit seinen Äußerungen verletzt haben. Den Leuten, die ihn schon für das Ursprungsvideo gefeiert haben, scheinen sich an der nachträglichen Neueinordnung des Gesagten nicht zu stören. Sie nehmen aus "Abtreibung Mord? Mein Ernst?" vor allem eine Sache mit: Die Gutmenschen haben wieder zugeschlagen und eine weitere Person zensiert, deren Meinung ihnen nicht passt. Sad.

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"Ein Armutszeugnis der Gesellschaft, wenn eine Meinung klein gemacht wird durch Gewalt und Drohungen. Chapeau!" heißt es unter dem Video. Der Kommentar hat über 500 Likes.

Was auch immer mögliche Schlussfolgerungen für das gesellschaftskritische Projekt sein mögen, wir bieten an dieser Stelle gerne direkt selbst eine an: Reproduktive Rechte sind kein soziales Experiment und am lautesten "diskutieren" oft die, die nicht betroffen sind. Abtreibung ist anscheinend ein Thema, zu dem es sehr viel Redebedarf gibt, also lasst uns darüber reden. Aber bitte nicht so.

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Titelfoto: unsplash.com | Pexels | CC0