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Wie du jemanden brutal verletzen kannst – wenn dir keine Wahl bleibt

Der Selbstverteidigungsexperte Tim Larkin erklärt, warum Gewalt ein Werkzeug und dein Körper eine Waffe ist.
Bearbeitetes Bild | Foto: Stillwaterising | Wikimedia Commons | CC BY-SA 3.0

Als Kind habe ich es mal mit einem Kampfsportkurs probiert. Aber immer wieder die Luft zu schlagen und "Haaiii-Aah!" zu schreien, erschien mir dann wenig sinnvoll, also habe ich es nie zum gelben Gürtel geschafft. Andere Kinder erkämpften sich einen ganzen Regenbogen an Gürteln, vielleicht sogar den schwarzen. Und das ist ja auch toll für diese Kinder. Sie werden garantiert Jackie-Chan-Moves auspacken, wenn ein irrer Axtmörder sie mal angreift. Ihr Axtmörder wird es bereuen, ihnen zu nahe gekommen zu sein, während mein Axtmörder mich einfach umbringen wird. Dumm gelaufen.

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Das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, wie der Experte Tim Larkin Selbstverteidigung sieht. Seine "realitätsbasierte" Methode nennt er "Target Focus Training" – wobei er mit "Target" alle Körperstellen meint, die einen Angreifer brutal verletzen können. Sein neues Buch heißt When Violence Is the Answer: Learning How to Do What It Takes When Your Life Is at Stake und erklärt diese Strategie im Detail. Larkin lehrt darin nichts über Gleichgewicht, Atmung, Fitness oder irgendwelche Moves, die man im UFC-Oktagon sieht. Stattdessen geht es in dem Buch schlicht und ergreifend um urplötzlich eingesetzte, brutale Gewalt.

Wenn du einen gefährlichen Angreifer vor dir hast, empfiehlt Larkin "jegliche Verletzung, die ihm die Funktionsfähigkeit nimmt". Folgende inspirierende Passage fasst seinen Ansatz ganz gut zusammen:

"Ist er stärker als du? Mit einer zerquetschten Kehle nicht mehr. Ist er schneller als du? Nicht mit einem zertrümmerten Knie. Ist er viel gefährlicher als du und hat jede Menge Training, Fachwissen, eine Pistole, einen eisernen Willen? Nicht mit gebrochenem Genick."

Falls du findest, dass das ganz schön arg klingt: Keine Sorge, Larkins Buch hat auch eine philosophische Seite. Der Autor erklärt, er liebe zwar Kampfsport, doch es gehe bei ihm nicht um eine Begegnung im ehrenhaften Kampf. Er argumentiert, dass es nun einmal Situationen gibt, in denen ganz normale Menschen angegriffen werden, und in denen potentiell tödliche Selbstverteidigung völlig legitim ist. Und mithilfe weniger einfacher Prinzipien kannst auch du, egal wie groß und stark du (nicht) bist, ganz ohne Feuerwaffe anderen so gefährlich werden.

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Nach der Lektüre habe ich Larkin kontaktiert und ihn gebeten, mir ein bisschen genauer zu erklären, wie ich (in legitimen Gefahrensituationen) so grausam abgehen kann wie eine Figur von George R. R. Martin.


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VICE: Lassen Sie uns mal ganz allgemein beginnen. Was ist das Grundprinzip, das man befolgen muss, um jemanden brutal zu verletzen?
Tim Larkin: Es ist wirklich ganz unkompliziert. Man muss einfach nur die Grundlagen der Anatomie kennen. Es handelt sich um ein schmerzhaftes Zusammentreffen aus Physik und Physiologie. Du nimmst einen harten Teil deines Körpers und lässt ihn auf einen schwachen Körperteil der anderen Person treffen, der für eine solche Krafteinwirkung nicht gewappnet ist. Ein äußerst simples Konzept.

Haben Sie eine bestimmte Methode eingesetzt, um dieses Prinzip noch genauer auszuarbeiten?
Wir haben Daten über Sportverletzungen studiert. Im Sport resultiert jede Verletzung aus einer Kollision zwischen Menschen, oder einer Kollision zwischen Mensch und Planet. Das sind Kräfte, die Sie und ich ebenfalls zum Einsatz bringen können. Und in unseren Daten kamen etwas mehr als 70 verletzte Körperstellen immer und immer wieder vor.

Können Sie mir ein Beispiel für eine Verletzung nennen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führt, wenn einer von Ihren Schülern angegriffen wird?
Nein. Ich weiß ja jetzt nicht, welche Variablen in dem Fall gegeben sind. Man muss eben die Prinzipien verstehen. Sie fragen mich im Grunde gerade: "Hey, Tim, ich will Multiplizieren lernen, also sagen Sie mir eine Gleichung, die ständig vorkommt." Dann sage ich: "OK, die Gleichung lautet 42 mal 45." Dann ist die Scheiße wirklich am Dampfen und die Gleichung lautet aber 27 mal 32. Die haben Sie aber noch nie ausgerechnet, und dann stehen Sie da.

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Ich hatte allerdings schon viele, die mit einem seitlichen Schlag auf den Hals erfolgreich waren. Das funktioniert deshalb so oft, weil es dort eine Vene, eine Arterie und zwei wichtige Nerven gibt. Wer dorthin schlägt, löst entweder eine vasovagale Reaktion aus – das heißt, der Blutdruck fällt abrupt, was wie ein Dimmschalter fungiert – oder man kann eine Hirnerschütterung verursachen. Wenn es mir nicht so wichtig wäre, eine ordentliche Antwort zu geben, könnte ich also auch sagen: "Versuchen Sie es mit der Halsseite." Aber das wäre ein bisschen unehrlich.

Wie reagieren Sie auf den Vorwurf, sie würden Menschen beibringen, "unfair" zu kämpfen?
Gegen diese Bezeichnung habe ich nichts. Das Problem ist aber, dass man mit solchen Wörtern das Publikum verliert. Die Leute sagen: "Ich bin kein Verbrecher. Ich bin kein schlechter Mensch. Also schaue ich mir sowas auch nicht an." Wenn ich von Gewalt spreche, dann als Werkzeug. Ob die Gewalt gerechtfertigt oder ein Verbrechen ist, zeigt sich darin, wie man sie einsetzt. Ich bringe Leuten bei, Gewalt einzusetzen, die man absolut rechtfertigen kann.

Haben Sie nicht Angst, dass das "Werkzeug", das sie den Menschen in die Hand geben, missbraucht werden könnte?
Die traurige Wahrheit, die den meisten nicht klar ist: Die absoluten Gewalt-Experten, die mit bloßen Händen oder improvisierten Waffen am erfolgreichsten sind, haben keinerlei Kampfsporttraining. Sie sitzen meist im Gefängnis und sehen Gewalt auf sehr pragmatische Art. Eine Fantasy-Einstellung zu Gewalt können sie sich auch nicht leisten. Sie müssen ergebnisorientiert sein. Was funktioniert? Wer diese Frage stellt, sieht das Ganze sehr viel mehr als mechanische Aufgabe.

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Ich denke, oft erwarten Teilnehmer von Selbstverteidigungskursen, dass die Trainer sie zu Bruce Lee machen, und das machen Sie definitiv nicht. Ist das bei Ihren Kursen ein Problem?
Ich zeige den Teilnehmern einen menschlichen Körper, der auf dem Boden liegt, und dann zeige ich ihnen, wie man auf etwas tritt. Daraufhin führen die Leute alle die seltsamsten Versionen eines Stampfens aus. Dann sage ich: "Zeig mir, wie du auf eine Coladose stampfen würdest, um sie zu zerstören und überall Cola zu verteilen." Dann machen sie es und es ist mechanisch perfekt. Sobald sie das Ganze als "Kampfsport" sehen, machen sie lauter seltsames Zeug. Wenn sie sich aber einfach nur eine mechanische Aufgabe vorstellen, gehen sie instinktiv in die richtige Haltung und wissen, wie sie ihr Körpergewicht einsetzen müssen. Es handelt sich um natürliche Bewegungen.

Wenn man Auszüge aus Ihrem Buch ohne den Kontext liest, könnte man meinen, ein Handbuch für komplett Irre in der Hand zu halten. Immerhin empfehlen Sie Menschen, anderen die Augen auszustechen.
Als Antwort darauf habe ich drei verschiedene Szenarien. Hier ist das erste: "Ein Typ kommt in die Bar, schubst mich und sagt, ich sitze auf seinem Platz. Also packe ich ihn am Haar und steche ihm ein Auge aus." Hier ist das zweite Szenario: "Ich halte vor dem Supermarkt. Ich warte zwei Minuten lang, bis endlich ein Platz frei wird. Dann schiebt sich ein Mercedes dazwischen und nimmt meinen Platz. Ich steige aus, ziehe den Fahrer aus seinem Auto, drücke ihn gegen die Motorhaube und steche ihm ein Auge aus … Euer Ehren."

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Ja, bis jetzt bin ich nicht so überzeugt. Das sind echt schlechte Gründe.
Genau, und hier ist Nummer drei: "Er steht in der Bürotür, hat eben schon zwei Kollegen erschossen. Ich sehe, wie er sich hinkauert, um nachzuladen, und stürze ihn zu Boden. Das Erste, was ich sehe, ist sein Auge, also steche ich es ihm aus und beende damit seinen Amoklauf." Darüber lacht keiner mehr.

Das ist jetzt nur ein Beispiel. Gibt es Regeln, wann man so etwas machen sollte, und wann nicht?
Wenn man keine Wahl mehr hat. Das ist das Erste, woran man es festmachen kann. Das Zweite: In meinem Beispiel eben würden die meisten es völlig gerechtfertigt finden, das Magazin einer Feuerwaffe in diese Person zu entleeren. Das sind die Situationen, von denen wir hier sprechen. Momente, gegen die das ganze dumme soziale Zeug, die Kneipenschlägereien und so weiter, völlig verblasst. Das sind Augenblicke, in denen du im Grunde deinem eigenen Mörder bei der Tat hilfst, wenn du nichts unternimmst. Du siehst dich selbst dem Tod oder schweren Verletzungen gegenüber, und in dem Fall gibt es nur eine effektive Lösung, nämlich den menschlichen Körper. Er ist das Einzige, das auch gegen "größer, schneller, stärker" noch ankommen kann.

Ich habe den Eindruck, Ihr Buch ist sowas von gar nicht für Kinder geeignet. Machen auch Kinder bei Ihren Kursen mit?
Ich habe zwei Söhne, 22 und 6 Jahre alt, und 4-jährige Zwillingsmädchen. Mein 22-Jähriger durchlief die Highschool, ohne meine Art des Trainings zu kennen (auch wenn er natürlich wusste, dass es existiert). Erst mit 17 machte er seinen ersten Kurs. Jungs tun sich schon schwer genug damit, durch die Schuljahre zu kommen, ohne dass sie solches Wissen zur Verfügung haben. In meiner Erfahrung sind sie nicht reif genug, um zu verstehen, dass sie Menschen irreparable Schäden zufügen können, wenn sie all diese Dinge wissen. Die Jungs würden vielleicht damit herumspielen, um es zu testen. Meine Töchter? Die kriegen alles beigebracht, sobald sie 11 sind.

When Violence Is The Answer: Learning How to Do What It Takes When Your Life Is at Stake erscheint am 5. September bei Hachette auf Englisch. Hier kannst du das Buch vorbestellen.

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