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Ellwangen zeigt, wie wenig Empathie für Flüchtlinge übrig geblieben ist

Wir nehmen sie nicht mehr als Menschen, sondern nur noch als "Sicherheitsproblem" wahr.
Symbolfoto: imago | Christian Mang 

Weißt du noch, was du letzten Montag um halb drei Uhr morgens gemacht hast? Solltest du dir dringend einprägen, denn genau zu dem Zeitpunkt haben rund 150 afrikanische Asylbewerber in einer kleinen Flüchtlingsunterkunft in Baden-Württemberg den deutschen Rechtsstaat (*1949-†2018) kaputtgemacht. Zumindest, wenn man den Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit glaubt, die daraufhin folgten.

Das ist natürlich Unsinn. Der deutsche Rechtsstaat ist durch den Widerstand der Ellwanger Asylbewerber gegen eine Abschiebung weder mit einem Schlag kaputtgemacht worden, noch ist er in den letzten Jahren irgendwie langsam erodiert. Was seit 2015 aber tatsächlich erodiert ist: jegliche Empathie, die die deutsche Öffentlichkeit Flüchtlingen entgegenbringt. Das zeigt die Debatte, die die Ereignisse in der Unterkunft Ellwangen losgetreten hat.

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Die Bild fragt, wann Polizisten in die Luft schießen dürfen

Was tatsächlich passiert ist: Gegen 2:30 Uhr in der Nacht zum Montag verhafteten vier Polizisten einen 23-jährigen Togolesen in der Unterkunft, um ihn nach Italien abzuschieben. Die Beamten hatten den Mann offenbar schon in Handschellen in einen Streifenwagen gesteckt, als eine aufgebrachte Menge von 150 Asylbewerbern die Beamten umringte, teilweise anfing, auf die Streifenwagen einzuhämmern und schließlich drohte, das Wachhaus der Unterkunft zu stürmen. Wie die taz mittlerweile herausgearbeitet hat, hat niemand die Polizisten körperlich angegriffen – dass die Beamten sich trotzdem so bedroht fühlten, dass sie den Gefangenen schließlich wieder freigaben, ist aber auch nachvollziehbar.


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Als das bekannt wurde, war klar: Deutschland ist am Ende. Der CSU-Innenminister Horst Seehofer nannte die Aktion einen "Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung", FDP-Chef Christian Lindner bekam öffentlich Angst, dass "ein Mob" Ellwangen zu einem "rechtsfreien Raum" gemacht habe. Und die Bild stellt die Frage, die uns allen am nähesten liegt, wenn jemand ein Auto beschädigt: "Wann dürfen Beamte in die Luft schießen?" Weiter rechts wurde es noch deutlicher: "Das ist erst der Anfang", schrieb AfD-Fraktionschefin Alice Weidel auf Facebook: "Der Rechtsstaat wird von seinen Gästen mit Füßen getreten." Und im Verschwörungs-Magazin Compact schrieb Jürgen Elsässer von der "Zäsur von Ellwangen", die nur eines bedeute: "Die Invasoren haben den Bürgerkrieg erfolgreich begonnen." Wie gesagt: Wo warst du, als der große Krieg losging?

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Aber auch die Leute, die nicht gleich von Bürgerkrieg, sondern "nur" von der Bedrohung für den Rechtsstaat sprechen, sollten nochmal tief Luft holen. Der Rechtsstaat ist in Gefahr, wenn er seine eigenen Regeln nicht mehr beachtet – nicht, wenn ein paar Leute sich der Polizei widersetzen. Die Asylbewerber in Ellwangen haben sich nicht "gegen den Staat verbündet" (Tichys Einblick), sondern gegen vier Polizisten, die einen von ihnen um halb drei Uhr morgens aus dem Bett holten und abschieben wollten. "Ich hatte Angst, dass sie uns alle mitnehmen", hat ein Bewohner in einem Interview erklärt. Mit dem Widerstand waren sie vielleicht nicht im Recht, und man kann die verzweifelte Geste je nach Einstellung "zivilen Ungehorsam" oder "illegale Gefangenenbefreiung" nennen, aber: Dass Menschen sich der Staatsgewalt widersetzen, passiert die ganze Zeit, in allen möglichen Situationen, ohne dass sie damit jedes Mal den Rechtsstaat sprengen wollen. Verrückter Gedanke, aber: Die Staatsgewalt ist sogar daran gewohnt, dass nicht jeder bei seiner Verhaftung freiwillig mitmacht. Und sie weiß darauf zu reagieren: Drei Tage später stürmten mehrere hundert Polizisten und Spezialkräfte mit solcher Wucht in die Unterkunft, dass an Widerstand gar nicht mehr zu denken war.

Ankerzentren? Das können wir den Polizisten nicht antun

Einige linke Politiker kritisieren den Einsatz jetzt als zu hart. Kann sein, aber andererseits: Das ist nun mal der Job der Polizei. Viel deprimierender ist die zweite Debatte, die dieser Einsatz jetzt ausgelöst hat: die Debatte darüber, wie man in Zukunft verhindert, dass Flüchtlinge in ihren Unterkünften Aufstände anzetteln.

Nachdem alle – von der CSU bis zu Cem Özdemir von den Grünen – der Polizei ausgiebig dafür gedankt hatten, dass sie unseren Rechtstaat verteidigt haben, geht es jetzt nur noch darum, wie man so etwas in Zukunft verhindern kann. Auf der einen Seite gibt es da Menschen wie Horst Seehofer, die immer mehr Härte und die Internierung von Asylbewerbern in riesigen "Ankerlagern" fordern.

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Auf der anderen Seite steht zum Beispiel die Grüne Irene Mihalic, die gegen die Lager ist, denn: "Da entsteht eine Dynamik und ein Gewaltpotenzial, und das alles auch auf dem Rücken der Einsatzkräfte der Polizei." Und weiter: "Auch vor dem Hintergrund sollte die Bundesregierung ihre Pläne für Ankerzentren noch einmal grundsätzlich überdenken." Das sieht die Gewerkschaft der Polizei (GdP) übrigens genauso: Man sei doch "keine Lagerpolizei", schreibt sie in einem Brief an die Bundestagsfraktionen. Klar sei doch, dass in solchen Lagern "ein erhebliches Aggressions- und Gefährdungspotenzial heranwachsen" würde. Der wichtigste Grund, Tausende Menschen nicht in riesigen Lagern zusammen zu pferchen, ist also: Das können wir den armen Polizisten nicht antun.

Die ganze Debatte zeigt, wie die deutsche Öffentlichkeit Flüchtlinge mittlerweile sieht: als ein Sicherheitsproblem, das es zu minimieren gilt. Vor allem die Afrikaner und Afghanen, die mit wenig Chancen auf Asyl in den Lagern hocken, werden immer mehr zum anonymen Haufen, auf dem bei zu großer Konzentration leider "Aggressions- und Gefährdungspotenzial" wächst wie auf einem Berg Wut-Humus. Wo die Wut und die Verzweiflung herkommen und wie man daran arbeiten kann, das fragt schon lange niemand mehr. Stattdessen ist das Land gekränkt, dass man Tausende Menschen nicht einfach monatelang in irgendwelche Lager stecken und da vergessen kann.

Die einzigen, die Yussif O., den Auslöser des Ganzen, je nach seiner Meinung gefragt haben, waren bizarrerweise Journalisten von der Bild. Komischerweise erzählt der nichts von seinen Plänen, den deutschen Rechtsstaat mit einem riesigen Bürgerkrieg zu überziehen. Stattdessen erzählt er von Macht- und Ratlosigkeit und davon, wie Italien ihn kurz nach seiner Ankunft "rausgeschmissen" hat und dass er nicht verstehen kann, warum er nicht in Deutschland bleiben darf. "Ich will hier für meine Zukunft arbeiten", sagt der 23-Jährige. "Ich weiß nicht, was sie jetzt mit mir machen.“

Das können wir dir sagen, Yussif: Du wirst abgeschoben.

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