Jaime Lannister ist der interessanteste Held aus 'Game of Thrones'
Foto: HBO | Macall B. Polay

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Jaime Lannister ist der interessanteste Held aus 'Game of Thrones'

Vergesst Jon Snow.

Stellt euch vor, ihr wachst ohne Mutter, aber mit einem Vater auf, der keine Ahnung hat, was Liebe ist, oder es zumindest nicht zeigen kann. In einer Welt, in der die Einzigen, denen ihr trauen könnt, eure engsten Verwandten sind. Oder um es in den Worten eurer Schwester, der einzigen Frau, die ihr je geliebt habt, zu sagen: "Jeder, der keiner von uns ist, ist ein Feind." Die Gesellschaft, in der ihr lebt, wird von Eiden und Schwüren zusammengehalten. Wer sie bricht, ist auf ewig geächtet. Trotzdem entscheidet ihr euch auf dem Höhepunkt eines politischen Konflikts, das Richtige zu tun – und rammt dem König, der die Hauptstadt und ihre Bewohner in Schutt und Asche legen wollte, ein Schwert in den Rücken. Ihr rettet Tausende. Warum genau seid ihr nicht der Held der Geschichte?

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Das Finale der siebten Game of Thrones-Staffel hatte viel. Dramatische Drachen-Action, Lügen, (fast) alle Hauptfiguren an einem Ort und eine weitere zum Scheitern verurteilte Liebesbeziehung. (Denn es ist nicht romantisch, wenn es nicht Inzest ist.) Meister-Manipulatoren mussten das Zeitliche segnen, Eiswände auch, und trotzdem war die herzzerreißendste und zugleich befriedigendste Szene eine vergleichsweise ruhige. Jaime Lannister verlässt seine Schwester Cersei, um sich – so scheint es zumindest – den anderen Fraktionen im Kampf gegen die White Walker anzuschließen.

"Endlich!", dürften sich viele von euch gedacht haben. Und tatsächlich zeichnete sich diese Entwicklung schon vor Wochen ab. Trotz angeblicher Schwangerschaft Cerseis, trotz zwischenzeitlicher Lannister-Triumphe und trotz der Versicherung der Königin, die inzestuöse Beziehung zu ihrem Bruder nicht mehr länger geheim halten zu wollen. "Endlich!" aber vor allem auch deshalb, weil der Kingslayer Besseres verdient hat und mittlerweile zu den komplexesten und besten Figuren überhaupt im Game of Thrones-Universum gehört.

Jaime Lannister startete als Klischee. Er ist der Märchenprinz, der den Drachen nicht besiegen kann, sich mit der Prinzessin im Turm einschließt, obwohl die seine Schwester ist, und mit ihr schläft. Gewissermaßen tritt er viele der Ereignisse der Serie überhaupt erst los, indem er Bran Stark aus dem Fenster stößt. Arrogant und absolut unleidlich gibt er eine Karikatur des Prince Charming, die man nur hassen kann. Bis man ihn nicht mehr hassen kann.

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Und es gibt die Momente, die unverzeihlich sind. Auch wenn der versuchte Mordanschlag auf Bran Jahrzehnte her zu sein scheint. Wenn die vollkommen unnötige, aus dem Nichts kommende Vergewaltigung an Cersei über der Leiche des gemeinsamen Sohnes so fehlplatziert und falsch wirkte, dass die Verantwortlichen im Nachhinein behaupteten, es hätte sich um gar keine Vergewaltigung gehandelt – diese Szenen sind passiert und nehmen Einfluss darauf, wie der Zuschauer eine Figur wahrnimmt. Gleichzeitig will die Serie seit schätzungsweise Staffel 3 wirklich, dass wir Jaime Lannister mögen.

Erst wird er von den Starks nach einer Schlacht gefangen genommen, dann soll er von Brienne von Tarth zurück nach King's Landing eskortiert werden. Auf dem Weg dahin verliert er nicht nur seine Hand, sondern riskiert sein Leben für eine Frau, deren Gefangener er bis vor Kurzem noch war. Mit ihr im Bad bricht er schließlich zusammen und zeigt als eine der ersten Figuren des Game of Thrones-Universums überhaupt, dass unsere Perspektive auf die Geschichte Westeros keine objektive ist. King's Landing steht nur deshalb noch, weil Jaime den wahnsinnigen König gerade noch rechtzeitig ausgeschaltet hat. Wieso wird er deswegen verachtet?


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Wir erleben einen arroganten, vermeintlich selbstverliebten Charakter als gebrochenen Mann, besorgten Familienmenschen, als am Boden zerstörten Vater, als unglücklichen Liebhaber, als aufopferungsvollen Freund und als jemanden, der wirklich möchte, dass es denen, die er liebt, gut geht. Selbst seinen Feinden will Jaime nur dann etwas Böses, wenn er glaubt, dass er dadurch andere retten kann. Deswegen schenkt er Olenna Tyrell (Gott sei ihrer Seele gnädig) einen schmerzfreien Tod und ist bereit, sich selbst zu opfern, um Daenerys Targaryen davon abzuhalten, noch mehr seiner Soldaten auf dem Schlachtfeld in Brand zu setzen.

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Mit Jaime Lannister baut die Serie eine Märchenfigur auf, wie sie klischeehafter nicht sein könnte, lässt sie anschließend vor den Augen der Zuschauer zerbrechen und notdürftig zusammengeflickt weiterhumpeln. Um die Reichen und Schönen weint man nicht, wenn sie denn mal fallen. Eigentlich. Dass Jaime zur Identifikationsfigur wird, liegt vor allem daran, dass er einer der wenigen ohne doppelten Boden ist. Inmitten sich stetig verändernder Allianzen, großer und kleiner Lügen, ist er eine der wenigen Personen, die ehrlich sind. Jemand, der nicht von Machthunger, sondern Liebe getrieben ist. Eine Figur, die trotz aller Abgründigkeit, aller Selbstsüchtigkeit und allem Hochmut, wirklich an etwas glaubt, das nicht nur sie selbst ist.

Jaime bleibt dabei immer menschlich. Er hat Angst, wenn er mit dem Unglaublichen (Drachen, Eiszombies) konfrontiert ist. Er tut ausgesprochen dumme Dinge, um andere zu retten und – und das ist vielleicht der sympathischste Zug an ihm: Er weiß das und tut nicht so, als wäre das anders. Wenn Cersei ihm zum Abschied sagt, dass sie wusste, dass er der Dümmste der Lannisters ist, hat das nichts mit dem Kräftemessen zu tun, das sich zwischen ihr und Tyrion abspielt. Es ist das hilflose Nachtreten gegenüber jemandem, der das zu oft gehört hat, um noch wirklich verletzt zu sein.

Jaime ist "dumm", weil er empathisch ist, weil er an etwas glaubt, weil das eigene Überleben nicht das Wichtigste ist und weil es das gar nicht sein kann, weil man mit dieser Einstellung auf keinem Schlachtfeld dieser Welt zur Legende wird. Und weil er Hoffnung hat. Hoffnung auf ein besseres Leben. Nicht den morbiden Zynismus einer Arya, die selbstauferlegte Herrschaftsaufgabe einer Daenerys, die so oft an Allmachtsfantasie grenzt. In diesem Sinne ist er schon beinahe wie Jon Snow, der ebenfalls fest davon überzeugt ist, sich für eine gute Sache einzusetzen. Vielleicht müsste man Snow nur ein paar Jahre an der Seite von Dany geben, bis er ebenfalls desillusioniert und mit gebrochenem Herzen das Weite sucht.

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Nach sieben Staffeln, etlichen emotionalisierenden Momenten, die aus einem vermeintlichen Monster einen empathischen, stellenweise sogar liebenswerten Charakter machen, bleibt eigentlich nur eine Frage: Warum? Warum dieser jahrelange Aufbau einer Figur, wenn sie nicht mehr als eine von vielen Schachfiguren im großen Krieg gegen die White Walker ist?

Game of Thrones hat so viel Zeit mit der Charakterentwicklung von Jaime Lannister verbracht, Szenen, in denen nichts passiert ist, außer dass der Kingslayer eine andere Seite von sich offenbaren konnte. Es wäre absurd, wenn er zum Ende hin keine deutlich wichtigere Rolle spielen würde. Wie diese Rolle aussieht? Das wissen nicht mal die Fantheorie-Experten auf Reddit so genau. Ist er am Schluss vielleicht der versprochene Heilsbringer Azor Ahai, der Westeros vom Night King befreit? Der von einer Hexe prophezeite "kleine Bruder", der Cersei umbringen soll? Oder doch nur der Auslöser dafür, dass sie endgültig wahnsinnig wird?

"Jaime und ich sind mehr als Bruder und Schwester. Wir teilten uns den Mutterschoß, kamen gemeinsam auf die Welt. Wir gehören zueinander", sagt Cersei in der ersten Staffel zu Ned Stark. Auch in Game of Thrones haben wir bisher nur eine Ahnung davon bekommen, was es für die beiden bedeutet, wenn sie ohne einander existieren müssen. In dem Moment, in dem sich Jaime von Cersei löst und vermutlich Richtung Norden reitet, löst sich auch die letzte Menschlichkeit von ihr. Und wenn man Lena Headey in dieser Szene ins Gesicht guckt und versucht, ihren Ausdruck zu deuten, dieses angedeutete Nachlaufen, die leicht erhobene Hand, dann weiß Cersei das auch.

"Jaime, ich heiße Jaime", keuchte Jaime, als er im Bad mit Brienne zusammenbrach und die für den "Kingslayer" nach Hilfe rief. Vielleicht werden wir in der achten und letzten Staffel endlich erfahren, was das bedeutet.

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