Meinung

Hört bitte auf, jeden zweiten Laden "Manufaktur" zu nennen

Eis-Manufaktur. Fritten-Manufaktur. Hundebett-Manufaktur. Steuer-Manufaktur. Maultaschen-Manufaktur. Es nervt!
Ein Mann bearbeitet mit einer Nagelschere einen Holzblock
Screenshot via YouTube aus dem Video "Maker Series: Artisanal Firewood" von CBC Comedy

Als Kind ging ich in den Sommermonaten fast täglich in die Eisdiele meines Heimatdorfs. Die Kugel kostete 50 Pfennig (ich bin alt) und die Eismaschine stand in einem Schuppen neben der Scheune. Heute lebe ich in Berlin, die Kugel kostet, je nach Bezirk, schon mal 1,40 Euro, aber dafür bekomme ich auch Sorten wie Matcha-Cheesecake-Tonkabohne, alles natürlich 100 Prozent "organic" und "hand-crafted". Und natürlich heißt sie nicht Eisdiele, sondern Eis-Manufaktur.

Anzeige

Die Manufaktur ist ein Sehnsuchtsort für die modernen Konsumenten. Wer Produkte aus der Manufaktur bezieht, setzt ein Zeichen gegen die Globalisierung und Fließbandproduktion und darf sich danach für die Dauer einer Eiskugel ganz hyggelig im Herzen fühlen. Wer sich Manufaktur nennt, setzt sich ab von Fließbandproduktion und Massenware und steht für Handarbeit ein. Schließlich kommt schon der Begriff Manufaktur vom Lateinischen "manus" (Hand) und "facere" (erbauen). Er steht für Premium-Produkte, für Spitzenqualität, faire Arbeitsbedingungen, beste Zutaten. Theoretisch.

Praktisch steht Manufaktur inzwischen vor allem für eines: jede Menge Bullshit.


Auch bei VICE: Zu Besuch bei Deutschlands einzigem Grillz-Hersteller


Es ist, als hätte in Deutschland vor einigen Jahren jemand Manufakturen ausgesät, die nun fast täglich aus dem Boden sprießen – vor allem, aber nicht ausschließlich in Großstädten. Es gibt Fahrrad- und Moped-Manufakturen. Hut-, Mantel- und Schuh-Manufakturen. Eis- und Müsli-Manufakturen. Spirituosen-Manufakturen. Möbel-Manufakturen. Frisör-Manufakturen. Fritten-, Maultaschen- und Tofu-Manufakturen. Hundebett-Manufakturen.

Niemand will Eis aus der Eisfabrik

Es ist schwer, ein Produkt zu finden, für das es mittlerweile keine Manufaktur gibt. Probiere es aus: Google ein Produkt zusammen mit "Manufaktur" und das Ergebnis wird dich überraschen. Zum Beispiel die Manufaktur für Grillkohle: "Die Premium Grillbriketts werden aus heimischer Kohle gewonnen und in Deutschland gefertigt und veredelt", heißt es auf der Website. Das ist schon verdammt nah dran an einer Parodie aus dem Jahr 2015, in der es um die handwerkliche Herstellung von Feuerholz ging.

Anzeige

Nicht falsch verstehen: Es ist gut, wenn sich Unternehmen stärker darauf konzentrieren, Produkte an einem Standort und in kleinen Serien herzustellen, so wie es ursprünglich auch die Idee der Manufakturen war. Sie entstanden mit dem Übergang vom mittelalterlichen Handwerk hin zu Produktionsbetrieben, die eine Vielzahl an Spezialisten vereinten, um Waren herzustellen. Im Zuge der Industrialisierung wurden die Manufakturen vielerorts von Fabriken abgelöst.

Viele Unternehmen arbeiten seit jeher im Sinne einer Manufaktur, ohne sich so zu nennen. Erst in den vergangenen Jahren sei es zu einem "explosionsartigen Anstieg" des Begriffs gekommen, zitierte das ZEITmagazin den Verband Deutsche Manufakturen. Auch Google verzeichnet in den vergangenen zehn Jahren einen kontinuierlichen Anstieg des Ausdrucks in den Suchanfragen.

Manufaktur klingt einfach besser. Schließlich will eigentlich niemand Eis aus der Eisfabrik lutschen. Dort kommen die Fürst-Pückler-Schnitten im Achterpack von Lidl her. Aus der Eis-Manufaktur dagegen das vegane Goji-Beeren-Sorbet. Fabrik steht für die böse Globalisierung, für rauchende Schlote. Die Manufaktur für die hippe Hinterhofbäckerei, für dampfende Brote. Dass unser jetziges Leben ohne Fabriken gar nicht möglich wäre und der Prozessor in unseren Computern garantiert nicht in Handarbeit aus der Chip-Manufaktur ("alle 500 Millionen Transistoren in Deutschland verlötet und veredelt") stammt – geschenkt.

Anzeige

Die Sehnsucht nach vorindustriellen Zeiten

Weil Manufaktur kein geschützter Begriff ist, wird er längst nicht nur für handwerkliche Betriebe eingesetzt. Es gibt Design- und Werbe-Manufakturen. Textmanufakturen. Software-Manufakturen. Eine Manufaktur für Wertschätzung. Die "Sturmglanz Black Metal Manufaktur", ein Magazin und Versandhandel für Rockmusik. Steuerberater, die allen Ernstes eine Steuer-Manufaktur betreiben, wobei man sich fragen muss, was hier eigentlich genau hergestellt wird: Steuerbescheide?

Der Aufstieg der Manufakturen mag daran liegen, dass sich kleinere Betriebe tatsächlich wieder auf das Wesentliche konzentrieren und ihre Produktions- und Wertschöpfungskette überdenken und wieder mehr auf Qualität achten. Wenn eure Manufaktur dazugehört: Glückwunsch!

Trotzdem ist und bleibt es vor allem Marketing. Aus dem gleichen Grund, wie die Handelskette Manufactum seit 30 Jahren Produkte wie mit sibirischem Weihwasser gesegnete Klobürsten an Besserverdiener für 70 Euro das Stück verkaufen kann, legitimiert allein der Titel einer Manufaktur höhere Preise. Er suggeriert, dass man aus jedem noch so banalen Produkt etwas Kunstvolles machen kann – man muss es nur drüberschreiben.

An dieser Entwicklung sind wir alle schuld, mich inbegriffen. Die Manufaktur als Wohlfühlort entspringt unserer Sehnsucht nach vorindustriellen Zeiten. Wir wissen, dass unser Planet gerade kolossal abschmiert und wollen was ändern. Also essen wir "local", arbeiten "glocal", trinken "Craft-Beer" und essen "artisanal" – allesamt Buzzwords, die mit dem Aufstieg der Manufakturen einhergehen. Die erhoffte Änderung führt am Ende dazu, dass Begriffe inflationär gebraucht und entwertet werden. So gibt es längst auch Craft Beer von Beck's und ein VW-Werk heißt "Gläserne Manufaktur". So viel dazu.

Aber Matcha-Cheesecake-Tonkabohne ist halt doch ganz geil.

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat