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Der "neue Darwin" liefert erste Beweise, dass aus Chemie und Energie Leben entstehen kann

Wir haben mit dem kontroversen Star-Wissenschaftler Jeremy England über seine neuen Studien gesprochen, die die Evolutionsforschung auf den Kopf stellen könnten.
Bild: Jeremy England

Es ist nicht übertrieben, die Frage, an der Jeremy England forscht, das wohl größte Rätsel der Menschheit zu nennen: Wie ist das Leben auf die Erde gekommen?

In zwei neuen Studien zeigt das Wunderkind der Evolutionsforschung erstmals Beweise für seine ziemlich radikalen Theorien: Die Entstehung des Lebens sei nur die logische Konsequenz der Gesetze der Thermodynamik. Das Leben auf der Erde soll demnach nicht durch Zufall entstanden sein, sondern durch Atome, die sich spontan selbst organisieren. Evolution erkläre zwar die Entwicklung, nicht aber den eigentlichen Zündfunken, der Leben entstehen lässt.

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Jeremy England gilt als einer der vielversprechendsten Physiker unserer Zeit. Der 35-Jährige studierte in Harvard, Oxford und Stanford und leitet heute eine Arbeitsgruppe an der renommierten Bostoner Universität MIT. Das Magazin Ozy bezeichnete England 2015 als "den Mann, der Darwin überbieten" könnte, denn mit seiner hochmodernen Forschung über den physikalischen Ursprung des Lebens gilt er als revolutionärer Wissenschaftler – auch, weil er die Definition von dem, was wir Leben nennen, grundsätzlich in Frage stellt.

Worum ging's in den Studien?

Vor allem die Studie, die in der Wissenschaftspublikation Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS) veröffentlicht wurde, sorgt für Aufsehen. In der Studie mit dem etwas sperrigen Titel "Spontaneous fine-tuning to environment in many-species chemical reaction networks" beobachte Englands Forscherteam eine spezielle, am Computer simulierte Mischung aus 25 Chemikalien.

Auf diesen bunten Chemikalienbrei wirken je nach Versuchsaufbau unterschiedliche Energiequellen ein. In den meisten Fällen strebt das Gemisch dabei eine vorhersehbare Balance zwischen den Chemikalien an, ein chemisches Gleichgewicht. Wenn aber bei bestimmten Versuchsaufbauten extrem viel Energie auf die Chemikalien losgelassen wird, passiert etwas völlig anderes: "Das System entdeckt einen Weg, die Energie aufzunehmen, und sich in einem speziellen Ungleichgewichts-Arrangement aufrechtzuerhalten", heißt es in der Studie.

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Das Gemisch passt sich also den Umständen an, sodass es immer effizienter Energie aufnehmen kann. Das titelgebende "fine-tuning" passiert und die Atome beginnen, sich ganz von selbst zu organisieren. Und genau das stellt Darwins Evolutionstheorie so sehr auf den Kopf. Schon bevor die Evolution ihren Lauf nimmt, passen sich die kleinsten Teilchen an ihre Umgebung an.

Überraschend sei dabei die rapide Geschwindigkeit des Fine-Tunings, erklärt England in einer Mail an Motherboard Deutschland. Im Prinzip würden die Elemente des beobachteten Gemischs versuchen, so schnell wie möglich die effektivste Form zu finden, auf ihre Umwelt, also die Energieeinwirkung, zu reagieren. "Und sobald ein Modell positives Feedback erhält, übernimmt es die Organisation des ganzen Systems", erklärt England in seiner E-Mail.

Auch Englands andere Studie, veröffentlicht in den Physical Review Letters (PRL), kommt zu ähnlichen Ergebnissen.

Und was bedeuten die Studien jetzt für die Evolution?

Das Wissenschaftsmagazin Quanta (Link aktuell kaputt, hier der Artikel auf Wired) hat mit einer Reihe von Wissenschaftlern über Englands Ergebnisse gesprochen. Eine "Pionierstudie" nennt es beispielsweise Michael Lässig, der sich als Professor an der Universität Köln mit ähnlichen Fragen wie England beschäftigt und gespannt darauf ist, "was das für das Leben bedeutet".

Es könnte eine Menge sein. Denn Lebewesen, vom simpelsten Bakterium bis zum Menschen, befinden sich in ähnlichen Arrangements, die nicht im chemischen Gleichgewicht sind, wie der Chemikalien-Mix in Englands Versuchen. Wenn wir atmen, Energie verbrauchen, oder Abfallprodukte absondern, interagieren wir mit unserer Umwelt. Lebewesen, die im chemischen Gleichgewicht sind, sind tot. Konsequent weitergedacht, zeigen die Studien von Jeremy England also, dass der Ursprung des Lebens auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten beruhen könnte.

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Atome, die unter bestimmten Umständen unter dem Einfluss von Energiequellen, wie etwa dem Sonnenlicht, stehen, würden sich tunen: Anpassen, weiterentwickeln und nach und nach Strukturen bilden, die immer besser Energie aus ihrer Umgebung ziehen können. Je besser sie das können, desto wahrscheinlicher wird nach einer früheren Studie von England auch ihre Selbstreproduktion. Und von da ist es nur noch ein ganz kleiner Schritt bis zur Entstehung des Lebens.


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Das erklärt natürlich immer noch nicht ganz, warum die Entwicklung des Lebens auf der Erde eine logische Konsequenz und nicht doch nur ein großer Zufall gewesen sein soll. Laut England ist die Entwicklung von sich selbst organisierenden Atomen hin zu komplexeren Strukturen "überraschend wahrscheinlich", solange genug Versuche mit unterschiedlichen Energiepunkten durchgeführt werden, so die Studie. Je komplexer und vielfältiger das System – wie etwa die Erde – desto wahrscheinlicher wird also auch das Fine-Tuning.

Chemische Gemische sind noch keine Lebewesen

Soweit jedenfalls die Theorie. Denn das, was England aktuell aufzeigt, sind nur kleine, sehr vereinfachte Systeme, die sich nach seinen Theorien entwickeln. "Wir brauchen Netzwerke aus chemischen Reaktionen, die aufstehen und ihren Entstehungsort verlassen können", so die Physikerin Sara Walker, die sich mit der Entstehung des Lebens befasst, gegenüber Quanta. Kurz: Solange da jetzt nicht wirklich Lebewesen – so klein sie auch sein mögen – in den Laboren von Jeremy England entstehen, kann man nicht mit hoher Sicherheit sagen, dass hier wirklich der Ursprung des Lebens entdeckt wurde. Das maßt sich England selbst aber auch nicht an.

"Ich will nicht behaupten, eine zweifelsfreie Antwort darauf zu haben, wie Leben entstanden ist", erklärt England gegenüber Quanta. England und seine Forscher zeigen eher den "Werkzeugkasten", der die Entwicklung früher Lebensformen überhaupt erst möglich macht. Dabei könnte sich mehr als bisher angenommen von selbst aus durch Energieeinwirkung entwickeln "und dann wird mit dem Darwinschen Mechanismus optimiert", so England.

Im Klartext: Das Leben ist demnach kein Zufallsprodukt und auch kein Wunder, sondern nur die logische, zwingende Folge von physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Darwins Vermächtnis – der Baum des Lebens, der durch natürliche Auswahl und Selektionsprozesse die Entwicklung aller Lebewesen vom Schimmel auf dem Joghurt bis zum Wombat erklären kann – würde sich erst danach anschließen.

"Der nächste Schritt ist es, komplexere Beispiele zu entwickeln, in denen dieses spontane Fine-Tuning stattfinden kann", erklärt Jeremy England. "Je 'herausfordernder' die Umgebung, desto mehr wird ein erfolgreiches Fine-Tuning wie eine Lösung aussehen für ein rechnerisches oder adaptives Problem, das wir klären wollen."

Das Problem, für das England die Lösung sucht, ist der Ursprung des Lebens auf der Erde. Und der erste Schritt zu einer möglichen Lösung ist jetzt getan worden.