Die jüdische Russin, die nach Amerika flüchtete und den Frauentag erfand
Theresa Malkiel | Illustration: Calum Heath

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Die jüdische Russin, die nach Amerika flüchtete und den Frauentag erfand

Die Feministin Theresa Malkiel verstand schon früh: Solidaritätsbekundungen reichen nicht. Wer etwas verändern will, muss handeln.

In Hunderten Ländern feiern die Menschen am 8. März den Weltfrauentag und richten den Blick auf die Leistungen von Frauen und ihren anhaltenden Kampf um Gleichstellung. Dabei übersehen viele allerdings die radikalen Wurzeln dieses Feiertags und die mutigen Aktivistinnen, die für seine Einführung sorgten. Eine Schlüsselfigur unter ihnen war Theresa Malkiel. Sie arbeitete Anfang des 20. Jahrhunderts in einer New Yorker Kleiderfabrik und führte als sozialistische Gewerkschafterin einen Frauentag ein.

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Der genaue Ursprung des Weltfrauentags ist unklar, aber Malkiels Frauentag war eindeutig sein Vorläufer. Die russische Immigrantin widmete ihr Leben dem Kampf um bessere Bedingungen für Arbeiterinnen und Einwanderinnen. Dabei konzentrierte sie sich auf wichtige Themen wie das Frauenwahlrecht, Einbürgerung und Zugang zu Bildung. Laut der Historikerin Sally M. Miller wissen wenige überhaupt von Malkiel, viele Details ihrer Biografie sind uns nicht bekannt.

Was wir wissen ist allerdings, dass Malkiel eine hartnäckige Frau mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit war. 1891 kam sie mit 17 Jahren nach New York, ihre jüdische Familie war vor dem Antisemitismus in Russland geflohen. Wie viele junge Immigrantinnen hatte sie keine andere Wahl, als ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Sie fand eine Stelle als Kürschnerin in der Textilindustrie. Die Arbeitsbedingungen in dem Gewerbe waren ausbeuterisch: Die Fabriken waren gefährlich überfüllt, 65-Stunden-Wochen waren nichts Ungewöhnliches, Arbeiterinnen mussten von ihrem spärlichen Lohn Nähmaterial kaufen und wurden oft eingesperrt, damit sie keine Pausen machen konnten.


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Malkiel war überzeugt: Diese Ungerechtigkeit würden Frauen nur überwinden, wenn sie vereint dagegen kämpften. Sie wurde zur Gewerkschafterin. Dabei waren ihr Solidaritätsbekundungen nicht genug; es brauchte strategisches Handeln. "Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass Amerika die Träume lediger Immigrantinnen nicht erfüllte", merkt Miller an. "Es war das Leben selbst, das sie radikalisierte."

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Die Aktivistin nutzte ihre ausgeprägtes Talent fürs Schreiben, um den Kampf der Textilarbeiterinnen zu dokumentieren. Dazu erklärt die Historikerin Annelise Orleck vom Dartmough College: "Sie schrieb für die Tageszeitung der Sozialistischen Partei in New York City, als die Blusenmacherinnen 1909 ihren großen Generalstreik hielten." An dem Streik beteiligten sich zwischen 20.000 und 40.000 Frauen, es war bis dato der größte Frauenstreik der Geschichte. "Theresa wollte mit Artikeln über diesen und ähnliche Streiks auf die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen", sagt Orleck.

1910 veröffentlichte Malkiel ihren Roman The Diary of a Shirtwaist Striker. Darin hielt sie den furchtlosen Aktivismus der Arbeiterinnen fest. Ganz vorn steht darin: "Die Autorin widmet dieses Tagebuch liebevoll den namenlosen Heldinnen des Streiks der Blusenmacherinnen." Als es 1911 in einer Blusenfabrik brannte und 146 Textilarbeiterinnen umkamen, lenkte Malkiels Roman zusätzliche Aufmerksamkeit auf die Missstände und half bei der Durchsetzung von Arbeitsrechtsreformen.

Einige der Zehntausenden Frauen, die 1909 in New York am Streik der Blusenmacherinnen teilnahmen, fotografiert im Januar 1910 | Foto mit freundlicher Genehmigung der Library of Congress

Zu den ausbeuterischen Bedingungen in der damaligen Textilindustrie sagt Orleck: "Ja, die Bedingungen waren sehr schwierig, das sind sie aber auch heute noch." Inzwischen hätten viele Entwicklungen die Triumphe der Arbeiterinnenbewegung des frühen 20. Jahrhunderts untergraben. Die Streikenden erkämpften ein maximale wöchentliche Stundenzahl, Bezahlung für Überstunden, Freizeit an den Wochenenden. "All diese Dinge wurden zum Standard, sind heute allerdings nicht mehr selbstverständlich – weder in den USA noch anderswo", erklärt Orleck. Zwischen 2000 und 2015 sei die Zahl der Textilarbeiterinnen und -arbeiter weltweit von 20 Millionen auf 60 bis 75 Millionen gestiegen, das Gewerbe hat sich also mehr als verdreifacht. "Die meisten von ihnen sind Frauen, und sie engagieren sich heute in einem weltweiten Kampf, der stark jenem Kampf ähnelt, über den Theresa Malkiel 1909 schrieb."

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Malkiel trat der Sozialistischen Partei bei und wurde in deren Nationales Frauenkomitee gewählt. Während ihrer Amtszeit führte sie den Women's Day ein, der im Februar 1909 in New York begangen wurde. An jenem Tag versammelten sich 2.000 Menschen vor dem Murray Hill Lyceum in der 34th Street, um Reden von Feministinnen und Sozialistinnen zu hören. Die betonten in ihren Ansprachen den Stellenwert der Gleichberechtigung und die Dringlichkeit des Frauenwahlrechts.

Waren Malkiel und ihre Zeitgenossinnen das, was wir heute als "radikal" bezeichnen würden? "Das waren sie eindeutig", sagt die Politikwissenschaftlerin Deborah Stienstra, die sich eingehend mit feministischen Bewegungen in aller Welt beschäftigt. Sie verweist auf das Lied "Bread and Roses", der in der amerikanischen Arbeiterbewegung sehr bekannt ist.

"In Wirklichkeit bedeutet die Befreiung der Frau die Befreiung des Menschen in ihr." – Theresa Malkiel

"In dem Song geht es darum, dass Frauen Zugang zu Essen für ihre Familien haben, dass sie arbeiten können und diese Tatsache feiern", sagt Stienstra. "Das waren Arbeiterfrauen und nicht Frauen aus der Bourgeoisie. Sie mussten Teil der wirtschaftlichen Produktion sein, um ihre Familie am Leben zu halten." Malkiel heiratete später zwar einen Geschäftsmann und entkam so dem Leben in der Fabrik, doch ihr Engagement nahm deshalb nicht ab.

"Frauenrechte sind Menschenrechte" – lange bevor die modernen Feministinnen der 1980er und 1990er es sagten, stellte Malkiel diesen Zusammenhang her. In einem Essay von 1909 schrieb sie: "Die Frauenfrage ist nicht mehr und nicht weniger als eine Menschenrechtsfrage. In Wirklichkeit bedeutet die Befreiung der Frau die Befreiung des Menschen in ihr."

Was können heutige Frauen von Malkiel und den Rebellinnen ihrer Ära lernen? "Ich glaube, die wichtigste Lektion ist, dass wir gemeinsam stark sind", sagt Stienstra. "Eine einzelne Stimme ist nicht genug. Wir müssen uns zusammenschließen und ausdauernd Widerstand leisten, Unterdrückung bekämpfen und uns für andere einsetzen, die nicht Teil eines solchen Kollektivs sind."

Theresa Malkiel selbst stand für diese Werte. Heute erinnert an diese Ideale ein internationaler Feiertag, den wir zu einem großen Teil ihr zu verdanken haben.

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