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Mode

Vom Laufsteg in die Magersucht: Ein Model rechnet mit der Modeindustrie ab

Ihr Traumjob hätte Victoire Dauxerre beinahe umgebracht. Jetzt will sie nicht länger schweigen.
Foto mit freundlicher Genehmigung von Victoire Dauxerre

In der französischen Modewelt ist Victoire Dauxerre vor allem als "die Hexe" bekannt. Von solchen Anfeindungen lässt sich die 25-Jährige aber kaum beeindrucken. "Mein Ziel ist es momentan, Frauen zu stärken und ein positives Körperbild zu thematisieren", sagt sie mit der typischen Unbekümmertheit einer Pariserin.

Früher stand sie für McQueen, Miu Miu und Philip Lim auf dem Laufsteg, heute ist Dauxerre eine der spektakulärsten Whistleblowerinnen, die die Fashionindustrie je gesehen hat. Sie verpfeift allerdings nicht nur ein paar schwarze Schafe, sondern fackelt direkt den ganzen Laden ab – mitsamt den schönen Couture-Vorhängen und allem, was dazugehört.

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Ihr Buch Size Zero – Ein Topmodel über die dunklen Seiten der Modewelt zeigt die finsteren Abgründe der Industrie. Sie erzählt darin, wie Agenten von ihr forderten, zwei Kleidergrößen in acht Wochen zu verlieren, oder wie eine Modelkollegin bei einer Schau einen Herzinfarkt erlitt und Backstage starb.

Foto mit freundlicher Genehmigung von Victoire Dauxerre

Als Dauxerre von einem Modelagenten entdeckt wird, ist sie eine gesunde und produktive 18-Jährige. Innerhalb von acht Monaten fällt ihr Gewicht von 58 auf 47 Kilogramm. Wie bei vielen Menschen, die unter Magersucht leiden, wächst auch Dauxerre eine feine Haarschicht am ganzen Körper. Auf der Straße fällt sie regelmäßig in Ohnmacht, ihre Periode bleibt aus.

Je mehr Gewicht Dauxerre allerdings verliert, desto mehr Arbeit bekommt sie. Bei einer McQueen-Schau wird sie dafür gefeiert, als einziges Mädchen in ein extra klein geschnittenes Kleid zu passen. Agenten loben sie für ihre abgemagerte Statur und klatschen buchstäblich Beifall. Um dort hinzukommen, hat sie sich monatelang von nicht mehr als drei Äpfeln am Tag ernährt und Abführmittel genommen.

Backstage zur Zeit ihrer Modelkarriere | Foto mit freundlicher Genehmigung von Victoire Dauxerre

Während ihre Karriere durchstartet, geht es mit Dauxerres psychischer Gesundheit bergab. Das Resultat sind ein Selbstmordversuch und ein dreimonatiger Aufenthalt in einer Klinik zur Behandlung von Essstörungen. Heute arbeitet Dauxerre als Schauspielerin. Schönreden oder verheimlichen will sie nichts, wenn es um die Industrie geht, die sie fast ins Grab gebracht hätte.

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"Das ist vertragliche Sklaverei", sagt sie von Paris aus am Telefon. "Als ich das durchgemacht habe, dachte ich mir immer nur: 'Das ist nicht normal, was passiert hier mit mir?'"

Vor allem kritisiert Dauxerre das Geschäftssystem, das viele Models in der Industrie gefangen hält. Sie selbst stammt aus einer gutbürgerlichen, französischen Mittelstandsfamilie, viele junge Models kommen allerdings aus verarmten Gegenden in Russland oder Osteuropa. Dauxerres Privilegien teilen sie nicht. Vor allem Dauxerres Eltern tauchen regelmäßig in Size Zero auf. Sie prüfen ihre Verträge, beschweren sich für sie bei der Agentur und begleiten sie sogar zu Shootings.

"Viele Mädchen kommen aus Russland und können nicht einfach aus dem Modelgeschäft aussteigen, weil sie so viele Schulden haben. Die Agentur bezahlt ihre Flüge und ihre Wohnungen und wenn sie das Geld nicht zurückzahlen können, weil sie nicht genug gearbeitet haben, können sie nicht einfach abhauen", erklärt Dauxerre. "Die müssen weitermachen."

Schonungslos zeigt Dauxerre, wie Agenturen Models in eine Falle locken und ausnutzen. "Die Agentur nimmt 70 Prozent!", sagt sie aufgebracht. Sie habe in acht Monaten ununterbrochener Arbeit lediglich 10.000 Euro verdient. Ihre Agentur hingegen habe mit ihrer Arbeit das zehnfache gemacht. Neben der finanziellen Ausbeutung, treten Model-Agenten regelmäßig als Komplizen bei den schlimmsten Missbrauchsfällen der Industrie in Erscheinung – darunter auch sexuelle Übergriffe und Tätlichkeiten.

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In Size Zero charakterisiert Dauxerre den Agenten, der sie entdeckt hat, als korrupt, manipulativ, inkompetent und frauenfeindlich. Seb ermuntert die Mädchen zu Hungern, damit sie sich einen Wettstreit um die wenigsten Kilos liefern. Irgendwann hört Dauxerre auf, seine Anrufe zu beantworten, und löst sich komplett von ihm. "Jetzt sitzt er im Gefängnis. Er hat sieben Mädchen vergewaltigt", sagt sie. "Einige waren unter 18. Die Polizei hat mich angerufen und gefragt, ob mir das auch passiert sei."

Dauxerre sagt, dass junge Models in der Modeindustrie besonders anfällig für Missbrauch seien – zum Teil auch, weil sie chronisch unterernährt sind. "Du bis 15 oder 16 und weit von deiner Familie entfernt. Du bist so schwach, weil du niemals isst. Du kannst kaum laufen, manchmal kannst du nicht mal mehr denken. Du wirst dumm, weil du keine Energie mehr hast und die Menschen um dich herum manipulieren dich und sagen dir, was du tun sollst." Dauxerre sagt, dass Seb regelmäßig versucht habe, sie von ihrer Familie zu trennen. "Seb hat mir immer wieder gesagt: 'Ruf nicht deine Familie an. Ich bin jetzt deine Familie, du musst mir vertrauen.'"

Size Zero ist so stark, weil Dauxerre vor niemandem haltmacht. Sie stellt die grundlegenden Probleme der Modewelt bloß: Ständig beharrt man dort darauf, dass Models nicht gefährlich unterernährt, sondern natürlich dünn sind – selbst wenn sie an einer Überdosis Diätpillen sterben. "Von außen sieht es vielleicht so aus, als wäre alles super und Models hätten perfekte Körper und würden ständig Brownies essen", sagt Dauxerre, "aber das ist alles falsch. Das gibt es nicht. Ich habe mit Models gesprochen – ich kenne sogar die Victoria's Secret Mädchen und es stimmt einfach nicht."

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Victoire Dauxerre heute | Foto mit freundlicher Genehmigung von Victoire Dauxerre

Einer der eindringlichsten Momente in Size Zero ist die Stelle, in der Dauxerre, die sich seit Monaten nur von Obst ernährt hat, durchdreht und ihre Mutter anbettelt, ihr ein Brathähnchen mitzubringen:

Die Warterei war nicht auszuhalten. Und ständig sagte diese kleine Stimme: "Hör auf zu essen", während mein Magen sagte: "Iss, du bist hungrig." Als sie mit dem Hühnchen zurückkam, fiel ich darüber her und aß es mit meinen Fingern, stopfte es mir in den Mund, verschlang es bis auf die Knochen, um meinen Hunger zu stillen, die Leere in mir zu füllen, meinen Schmerz zu lindern und die kleine Stimme zum Schweigen zu bringen. Lange hielt das aber nicht an. Die Stimme begann wieder zu schreien: "Du bist zu fett. Hör auf zu essen. Du bist zu fett."

Heute geht es Dauxerre besser, der Industrie hat sie trotzdem nicht verziehen. Ohne die Einmischung ihrer Familie, davon ist sie fest überzeugt, hätte ihre Geschichte ein weitaus böseres Ende genommen.

Zum Zeitpunkt ihres geringsten Gewichts | Foto mit freundlicher Genehmigung von Victoire Dauxerre

"Ich wäre wahrscheinlich drogensüchtig", sagt sie. "Ich würde weiter modeln und einen Haufen Drogen nehmen, wie es manche berühmte Models tun. Koks, damit ich von drei Äpfeln am Tag leben kann. Vielleicht wäre ich auch tot."

In seiner drastischen und manchmal brutalen Schilderung des Modelalltags sollte Size Zero Pflichtlektüre für jede sein, die über eine Modelkarriere nachdenkt. "Ich wünschte, ich hätte so ein Buch gelesen, bevor ich Model wurde", sagt Dauxerre. "Das Buch ist für das Mädchen, das ich mit 17 oder 18 war. Es ist für sie."

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