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Buch

Das anonyme Tagebuch einer Frau, die von ihrem Vater vergewaltigt wurde

"Als Kind kann man nicht entkommen. Und dann, als ich es konnte, war es zu spät."

Was bedeutet es, etwas zu wollen? Momentan wird viel über "Verlangen" gesprochen, vor allem über das "weibliche Verlangen". Doch die Romantik dieses Begriffs verschleiert die reale Auseinandersetzung mit dieser Empfindung, ihrer Unmittelbarkeit und ihrer Unkontrollierbarkeit. Ein Verlangen erzeugt den Eindruck einer Andeutung, die ebenso sinnlich und vage wirkt. Etwas zu wollen, ist dagegen kühn und direkt – oder zumindest wirkt es so.

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Ganz so einfach wie diese Emotion klingt, ist sie aber nicht. Was, wenn du etwas willst, das dir "schadet"? Was, wenn du gleichzeitig zwei entgegengesetzte Dinge willst? Wenn du verstehst, warum du etwas willst, aber auch weißt, dass es schlecht für dich ist? Wenn du verstehst, welche psychologischen und soziologischen Einflüsse hinter deinen Wünsche stecken, von denen du weißt, dass du sie nicht haben solltest, aber dennoch hast?

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The Incest Diary sind die anonymen Memoiren einer Frau, die diese Woche beim New Yorker Verlag Farrar, Strauß and Giroux erschienen sind und viele Fragen aufwerfen, ohne sie beantworten zu wollen. Das dünne Büchlein schildert ebenso erdrückend ruhig wie brutal klar Situationen aus dem Leben der Autorin, die im Alter zwischen drei und 21 Jahren von ihrem Vater missbraucht wurde. Die aufwühlendsten Momente sind allerdings nicht die schrecklichen und oftmals gewalttätigen Beschreibungen der Vergewaltigungen. Es sind die körperlichen und seelischen Qualen, denen die Autorin ausgesetzt war, weil sie ihren Vater "wollte".

Gleich zu Beginn des Buchs spricht sie von dem "Märchen des Vater-Tochter-Inzests" und beschreibt ein Problem, das sie genauer beleuchtet, aber nie auflöst: "Die Töchter sind all das, was man von ihnen erwartet. Sie sind entsetzt von den sexuellen Annäherungsversuchen ihres Vaters und tun alles in ihrer Macht stehende, um der Situation zu entkommen. Aber ich habe das nicht getan. Als Kind kann man nicht entkommen. Und dann, als ich es konnte, war es zu spät. Mein Vater kontrollierte meine Gedanken, meinen Körper, meine Wünsche. Ich wollte ihn. Ich ging nach Hause. Ich kam zurück, weil ich mehr wollte."

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Die Erzählung der Autorin bewegt sich in der Zeit vor und zurück. Grafische Beschreibungen setzt sie dabei sehr bewusst ein. "Die ersten beiden Nächte konnte ich nicht aufhören zu masturbieren und daran zu denken, dass mein Vater ganz nah war", schreibt sie über das erste Mal, als sie "Sex mit [ihrem] Vater" in dem Strandhaus ihrer Familie hatte. "Ich konnte nichts anders. Ich wollte, dass er in mein Zimmer kommt und mich fickt – und gleichzeitig wollte ich es nicht. In der dritten Nacht hat er es dann getan."


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Sie beschreibt unzählige Momente, in denen ihr Vater sie bedroht, verletzt und vergewaltigt hat, sie beschreibt aber auch die emotionalen und körperlichen Folgen. Sie erzählt, wie sie von ihrem Vater an einen Stuhl gefesselt oder in ihren Schrank gesperrt wurde und wie dankbar sie war, als er sie wieder rausließ. Sie erzählt, wie sie ihren Vater und ihre Mutter beim Sex erwischt hat und neidisch wurde. Sie erzählt, wie sie immer wieder kleine Mädchen zeichnete, die von Gebäuden aufgespießt wurden. Dass sie wegen Unterleibsschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, dass sich ihre Lehrer immer besorgt zeigten, aber nichts unternommen haben und dass auch ihre Mutter, die depressiv und von Pferden besessen war, nichts unternommen hat.

Sie erzählt, dass sie sich bei der Familie eines Kindheitsfreundes immer einsam fühlte, "ein Vater, der nur ein Vater war und eine Tochter, die nichts weiter als eine Tochter war." Dass ihre Mutter sagte, sich zu wünschen, dass die Autorin niemals geboren worden wäre. Von der Affäre, die sie während ihrem Jahr in Chile mit einem sehr viel älteren Mann hatte, eine Situation, die wieder von Familienangelegenheiten und Geheimnissen geprägt war und die sie selbst als "Rückkehr zum Ort des Verbrechens" bezeichnet. Sie erzählt, dass sie lernte, "wie ich meinen Körper verlassen konnte", als sie nach einer Verabredung von einem Kollegen vergewaltigt wurde. Wie sie im Verlauf ihrer zwölfjährigen Ehe versuchte, sich ein "Heim ohne Sex" einzurichten. Und schließlich spricht sie auch von einem Moment der Erlösung, der sie allerdings auch wieder zurück zum Inzest führte. Der Erfahrung, der sie niemals entkommen konnte.

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Die Autorin kommt mehrfach in Situationen, in denen sie sich anderen anvertraut – einem Familienfreund, ihrer Mutter oder ihrer Großmutter. Es sind Momente, die auch dem Leser Hoffnung geben. Die Erzählerin wird von den Menschen, denen sie von ihren Erlebnissen erzählt, ignoriert oder nicht ernstgenommen. Oder aber sie lässt in ihren Erzählungen Einzelheiten aus, die die Situation weniger schlimm wirken lassen, als sie in Wirklichkeit ist. (Dass "Belästigung" ein irreführender Euphemismus ist, wird in diesen Momente besonders deutlich.)

Zu Beginn des Buchs erzählt sie, wie sie ihren Vater konfrontiert hat. Der entschuldigt sich daraufhin wiederholt und begann zu weinen. Doch dann folgte ein Anruf.

Er sagte, dass ich nicht länger seine Tochter wäre, wenn ich meine Anschuldigungen nicht zurücknehmen würde. Er sagte mir, dass ich für ihn gestorben wäre. Ich kann nur davon ausgehen, dass er mit einem Anwalt gesprochen und deswegen das Wort "Anschuldigungen" verwendet hat. Deswegen hat er den Inzest nicht zugegeben, sondern abgestritten.

Dasselbe erzählte er auch Familie und Freunden. Der Großvater der Autorin versuchte sogar, sie in eine psychiatrische Anstalt einweisen zu lassen. Ihr Bruder erlitt einen Nervenzusammenbruch, für den sie sich selbst verantwortlich machte. Schließlich nahm sie ihre "Anschuldigungen" wieder zurück und sagte, dass sie wohl von jemand anderem vergewaltigt worden sein muss.

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Die folgenden Darstellungen würden diese Behauptung lächerlich wirken lassen, wenn es nicht so unglaublich traurig wäre. In einem Vorwort zu dem Buch erklärt der Herausgeber Lorin Stein die Entscheidung des Verlags, das Buch zu veröffentlichen: Abgesehen davon, dass es ein "Kunstwerk" und hoffentlich auch "eine Quelle der Hoffnung und der Bestätigung für andere" sei, schreibt er, dass "die Situation, die das Buch beschreibt (obwohl es das Thema schon seit ewigen Zeiten in Kunst und Mythen behandelt wird) nur selten in dieser Form beschrieben wurde: von jemandem, der es erlebt hat."

"Ich habe viele Einzelheiten ausgelassen, um anonym zu bleiben. Doch das Wesentliche habe ich nicht verändert."

The Incest Diary weist tatsächlich einige Ähnlichkeiten zu anderen Geschichten über Inzest auf: die Verschwiegenheit, die Scham, die Spezifität der psychologischen und sozialen Folgen. Doch die Tatsache, dass die Autorin den Inzest und die Folgen unerbittlich in den Mittelpunkt stellt, unterscheidet ihre Arbeit von vielen anderen. Inzest wird häufig als zugrundeliegende Motivation oder Erklärung für ein bestimmtes Verhalten herangezogen, steht aber nur selten im Mittelpunkt.

Dafür gibt es natürlich Gründe: Inzest wird noch immer stark tabuisiert und auch die Entscheidung der Autorin, anonym bleiben zu wollen, ist nicht weiter überraschend. In einer einführenden Anmerkung zu dem Text schreibt sie: "Ich habe viele Einzelheiten ausgelassen, um anonym zu bleiben. Doch das Wesentliche habe ich nicht verändert. Ich bitte den Leser, meinen Wunsch, anonym zu bleiben, zu respektieren."

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Trotz allem waren die ersten Reaktionen auf das Buch enttäuschend konservativ und stellten vor allem den vermeintlichen Skandal oder den Schaden, den es verursachen könnte, in den Vordergrund. Eine Überschrift lautete: "Die Herausgeber von Harry Potter veröffentlichen die Memoiren eines Mädchens, das 18 Jahre lang von ihrem Vater missbraucht wurde." (Bloomsbury veröffentlicht das Buch in Großbritannien, ansonsten hat das Buch allerdings nicht das Geringste mit Harry Potter zu tun.) Eine Redakteurin von Globe and Mail weist auf die "verstörenden" Memoiren Tiger, Tiger von Margaux Fragosos hin, die 2011 erschienene sind, und sagt: "Die Kritiker haben [ Tiger, Tiger] vernichtet, weil das Buch mit Kinderpornografie gleichzusetzen war. Sie haben sich zurecht gefragt, wer so etwas lesen würde. Es ist sehr wahrscheinlich, dass viele Leser von The Incest Diary dieselbe instinktive Reaktion haben werden. Das Buch ist ausgesprochen plastisch, was es höchst problematisch macht."

Lisa Schwarzbaum von Newsweek nannte das Buch "eine überaus marktfähige Ergänzung zu dem lukrativen Geschäft mit Memoiren über Heilungen und Genesungen. Außerdem verfügt es über eine zusätzliche Öffentlichkeitswirkung, weil es ein Buch ist, das Menschen in die Ecke schleudern wollen, aber auch weiter empfehlen wegen dem Schock und dem Ekel, die diese Erfahrungen auslösen."

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Der Vorwurf, es handle ich hierbei lediglich um einen wohlkalkulierten Skandal, beleidigt die Autorin und alle anderen Menschen, denen etwas derart Schreckliches zugestoßen ist. Der Verlag scheint das Buch noch nicht einmal groß zu vermarkten, sondern versucht es für sich sprechen zu lassen. (Ich habe von dem Buch erfahren, als vor knapp einem Monat eine Druckfahne in meine Wohnung flatterte. Es gab aber noch nicht einmal eine Pressemitteilung, die einer Neuerscheinung normalerweise immer beiliegt, vor allem wenn es um die traumatischen Memoiren einer Frau geht.)

Vor allem aber machen sie deutlich, dass nur wenige Menschen wissen, wie man über Inzest sprechen kann – und warum dieses Buch so wichtig ist.

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