Eine Software des BAMF bringt Menschen in Gefahr
Ausgabe der Dialektanalyse-Software des BAMF | Hintergrundbild: imago | CHROMORANGE || Collage: Motherboard

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Eine Software des BAMF bringt Menschen in Gefahr

Syrien, Ägypten? Oder doch aus dem Irak? Zwei Minuten und der Computer spuckt ein Ergebnis aus. Unsere Recherchen zeigen: Die Sprachanalyse-Software des BAMF macht Fehler – genau wie die Menschen, die sie bedienen.

Hajar erwartete nur eine weitere Befragung, als er an einem wolkigen Novembertag in einer norddeutschen Kleinstadt beim Amt erscheint. Es ist der vierte Termin seines Asylverfahrens, doch der Sachbearbeiter stellt diesmal keine Fragen. Stattdessen legt er eine Handvoll Bilder vor dem 31-Jährigen auf den Tisch, eins zeigt ein idyllisches Haus mit Garten, in dem eine Frau mit zwei Kindern spielt. Hajar soll in seiner Muttersprache beschreiben, was er sieht. Er bekommt einen Telefonhörer in die Hand, dort soll er reinsprechen. Dann läuft die Aufnahme für ein inzwischen tausendfach eingesetztes Analysesystem des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das Hajars Dialekt ermitteln und herausfinden soll, woher er kommt. Nach zwei Minuten piepst es, die Aufnahme ist vorbei. Der Sachbearbeiter drückt die Raute-Taste und sagt Hajar, dass er wieder gehen kann. Dann berechnet ein Computer, woher Hajar stammen könnte – und entscheidet so darüber mit, ob er in Deutschland bleiben kann, oder nicht.

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Diese Computertests sind beim BAMF inzwischen Routine, nachdem das Sprachanalysesystem ab März 2017 getestet und seit dem Herbst 2017 bundesweit eingeführt wurde. Dabei war von Anfang an klar, dass die Software niemals die Wahrheit über Hajar verraten würde.

Der Computer sagt, er spreche Türkisch, zu 63 Prozent. "Wieso Türke? Ich kann doch gar kein Türkisch!", sagt Hajar, als er das Ergebnis in den Händen hält. So aber steht es auf dem Ergebnisbericht. Danach die Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Muttersprachen. Mit einer Restwahrscheinlichkeit von 22 Prozent könnte seine Muttersprache auch Hebräisch sein, heißt es auf dem BAMF-Zettel. "Hebräisch, was ist das?", fragt Hajar. Sein Dolmetscher erklärt ihm, dass Menschen in Israel Hebräisch sprechen. "Keine Ahnung, wie die da drauf kommen", antwortet Hajar und lacht bitter. Hajar heißt eigentlich anders. Weil Hajar noch in einem Prozess wegen seines Asylverfahren steckt, haben wir seinen Namen und einige Details seines Falles abgeändert.

"Jemand hat meinen Vater angerufen und gesagt: 'Geht nach Erbil, die IS-Terroristen sind bald bei euch.'"

Über zwei Jahre wartet er schon auf die Entscheidung seines Asylantrags, als das BAMF die Sprachanalyse durchführt. Zwei Jahre, in denen Hajar darauf hofft, ein neues Leben in Deutschland beginnen zu können. Hajar sagt, er kommt aus der Autonomen Region Kurdistan, sie liegt im Irak. 2014 übernahm dort der IS die Kontrolle. "Jemand hat meinen Vater angerufen und gesagt: 'Geht nach Erbil, die IS-Terroristen sind bald bei euch.' Wir sind dann ganz schnell abgehauen. Eine Stunde später waren sie bei uns im Dorf", erzählt Hajar. Doch obwohl der IS wieder vertrieben ist, kann er nicht zurück, die Machtverhältnisse ändern sich ständig. Erst eroberten Kurden das Gebiet zurück, dann kam die irakische Armee. Hajars Heimat ist immer noch umkämpft, mittlerweile mischen sogar türkische Truppen im Konflikt mit.

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Die Sprachanalyse soll ein Hinweis darauf sein, das Hajar lügt und gar nicht aus diesem Kriegsgebiet kommt. Er ist der Einzige aus seiner Familie, der es geschafft hat, nach Deutschland zu flüchten. Darüber, was mit seinen Eltern, Onkeln, Tanten und Geschwistern passiert ist, will er nicht sprechen, kann er nicht sprechen. Doch wer sich die jahrelangen Kriegswirren seiner Heimatregion anschaut, kann die Antwort erahnen. Obwohl andere Dokumente und Indizien in Hajars Akte und seine Anhörung zeigen, dass er dringend Schutz in Deutschland bräuchte, lehnt das BAMF seinen Asylantrag wenige Wochen nach der Sprachanalyse ab.

Die BAMF-Software kann viel zu wenig – und sie dürfte oft gar nicht eingesetzt werden

Maßgeblich für Hajars Ablehnung muss die 120-sekündige Sprachaufnahme aus dem November sein – eine Sprachaufnahme, die es nie hätte geben dürfen. Denn Hajar spricht den kurdischen Dialekt Sorani. Das bestätigte auch der Dolmetscher bei seiner Erstanhörung beim BAMF im Sommer 2016. Sorani ist eine kurdische Sprache, sie steht dem Deutschen wesentlich näher als dem Türkischen, denn beide werden zur indoeuropäischen Sprachfamilie gezählt. Bier heißt auf Sorani "bîra", Kartoffel "kartol". Aber das weiß die BAMF-Software nicht. Denn sie beherrscht kein Sorani.

Es dürfen nur Antragstellende geprüft werden, die angeben, eine Sprache zu sprechen, die die Software auch kennt. Das geht aus einer Dienstanweisung des BAMF hervor, die durch eine Informationsfreiheitsanfrage öffentlich wurde. Sie gibt den Mitarbeitenden der Behörde eine Liste von Sprachen an die Hand, die die Software erkennen können soll: verschiedene arabische Dialekte, Deutsch, lateinamerikanisches Spanisch, Paschtu, Dari und 15 weitere. Keine einzige kurdische Sprache steht auf dieser Liste.

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Gegenüber Motherboard bestätigt das BAMF, es kämen "derzeit lediglich Antragsteller in Betracht, die einen der arabischen Großdialekte (Maghrebinisch, Ägyptisch, Irakisch, Levantinisch und Golf) sprechen, beziehungsweise angeben, diesen zu sprechen". Offenbar sind sich nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dessen bewusst. Ausnahmen gebe es jedoch, wenn Antragsteller mehrere Sprachen sprechen würden, so das BAMF.

Ein ehemaliger BAMF-Entscheider berichtete Motherboard von dem Chaos, das im BAMF in den Jahren 2015 und 2016 durch die vermehrte Ankunft von Schutzsuchenden herrschte. "Es gab Druck, der von oben nach unten durchgegeben wurde", sagt er. Es sei an seiner Außenstelle zwar niemand gezwungen worden, bestimmte Quoten zu erfüllen, aber es kursierten Zielvorgaben von etwa zwei Entscheidungen pro Tag. "Manche Entscheider haben die Antragssteller bei den Anhörungen in 30 Minuten abgespeist", erzählt er, und hätten so fünf bis sechs Menschen pro Tag angehört.

Die Sprachanalyse war für das BAMF wohl zu verlockend, denn das Verfahren macht weniger Arbeit als zähe Befragungen und Dokumentanalysen und es verspricht schnelle und vorgeblich eindeutige Ergebnisse. Ergebnisse, mit denen die BAMF-Mitarbeiter ihrer Vorgabe näher kommen, möglichst viele Anträge in möglichst kurzer Zeit zu bearbeiten.

Die BAMF-Zentrale auf einem ehemaligen Kasernengebäude in Nürnberg | Bild: imago | Future Image

Auch wenn mittlerweile viel weniger Menschen nach Deutschland kommen als noch vor zwei Jahren, sind die Quotenvorgaben erhalten geblieben. Mitarbeiterprotokolle, die Welt veröffentlichte, zeigen: Den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen wird immer wieder gesagt, dass sie eine Quote von zwei Entscheidungen pro Tag zu erfüllen haben. Erfüllen sie diese nicht, werden sie ermahnt: "Eine Steigerung der Produktivität ist dringend erforderlich", hören sie dann, oder "Eine Bearbeitungszeit von mehr als einer Stunde wird als kritisch erachtet."

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Falsche Asylentscheidungen gefährden Menschenleben

Wenn im BAMF aus Zeitnot, Unwissenheit oder Nachlässigkeit eine falsche Entscheidung getroffen wird, ist das mehr als ein bürokratisches Versehen. Jede falsche Ablehnung im BAMF kann die Zukunft von Menschen zerstören und sie in Gefahr bringen. Wenn die Entscheider sich blind auf den Computer verlassen, setzen sie damit im schlimmsten Fall das Leben eines Menschen aufs Spiel.

Hajars Herkunft hätte nicht von einer Software, sondern von einem menschlichen Gutachter analysiert werden müssen. Tatsächlich war ein solches Gutachten sogar geplant. Um seine Muttersprache zu ermitteln, wurde Hajar schon viele Monate vor der Softwareanalyse in dieselbe Behörde einbestellt und von einer BAMF-Mitarbeiterin eine halbe Stunde lang befragt. "Da lagen fünf Seiten mit Fragen vor der Frau, das wurde alles aufgezeichnet und sie hat die ganze Zeit mitgetippt", erinnert sich Hajar. Doch die Aufnahme ist nie einem Gutachter vorgelegt worden. Laut Hajars Akte stornierte das BAMF den Auftrag.

Diese Gutachten kosten die Behörde Zeit und Geld, daher arbeitete das BAMF im Jahr 2017 an einer Automatisierung der Sprachanalysen und beschaffte eine Software der Firma Nuance. Wer in Deutschland Asyl bekommen will, muss in einer der über ganz Deutschland verteilten Außenstellen oder Ankunftszentren einen Antrag stellen. Um die Software in all diesen Niederlassungen einsetzen zu können, gab die Behörde im Jahr 2017 bis zum April 2018 rund 383.000 Euro aus und testete damit im ersten halben Jahr 9.883 Menschen, wie aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage hervorgeht.

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Als "weltweit einzigartig" bezeichnete der damalige IT-Chef des BAMF die Software bei ihrer Vorstellung in Bamberg. Das BAMF sei "Vorreiter bei der Erschließung innovativer Technologien", erklärte der inzwischen zum Vizepräsidenten des BAMF beförderte Markus Richter dort. Im Juni 2018 gewann das "Sprachbiometrische Assistenzsystem" einen Preis für das "Beste Digitalisierungsprojekt 2018" in der öffentlichen Verwaltung.

Ende Oktober 2017 erhielten die Referatsleiter der Behörde die Anweisung, alle Fälle, in denen ein Sprachgutachten bereits beschlossen wurde, erneut zu prüfen. Das geht aus einer weiteren Informationsfreiheitsanfrage hervor. Nach Möglichkeit sollten sie durch das automatische Verfahren übertragen werden. Das Ziel: "offenen Verfahren damit zur Entscheidungsreife" zu verhelfen, wie es in Behördendeutsch heißt. Das bedeutet: Es soll schneller feststehen, ob der Antrag angenommen wird oder ob der Geflüchtete Deutschland wieder verlassen soll. Hajars Aslyantrag war eines dieser "offenen Verfahren", die das BAMF abhaken wollte.

Einsatzhäufigkeit der Sprachsoftware visualisiert

Die Größe der Kreise zeigt, wie häufig die Sprachanalyse-Software in den verschiedenen BAMF-Außenstellen eingesetzt wurde. In Eisenhüttenstadt kam sie 895 mal zum Einsatz, gefolgt von Gießen und Heidelberg mit je 540 Fällen. Alle Zahlen zu den BAMF-Niederlassungen findet ihr in einer Tabelle weiter unten im Text | Datenvisualisierung: Motherboard || Karte: Leaflet | © OpenStreetMap contributors

Wie oft die Software eingesetzt wird, hängt stark von der Außenstelle ab. Während sie in Düsseldorf zwischen September 2017 und April 2018 vier Mal zum Einsatz kam, wurde die Sprachanalyse in Eisenhüttenstadt im gleichen Zeitraum mit 895 Geflüchteten durchgeführt. Offensichtlich entscheiden die verschiedenen BAMF-Niederlassungen eigenständig, wie häufig die Software eingesetzt wirde.

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Das BAMF behauptet, die Analysen würden lediglich als Anhaltspunkt genutzt, am Ende entscheide ein Mensch. Sie seien nie "die ausschließliche Quelle für die Klärung der Identität oder Herkunft", sagt die Behörde gegenüber Motherboard. Die Dialekterkennung leiste jedoch "einen hilfreichen Beitrag für die Feststellung von Identität sowie der Herkunft" und liefere "Anhaltspunkte für die Glaubhaftigkeit der Aussagen des Asylsuchenden". Doch die Gefahr ist groß, dass die Entscheider das Ergebnis einer fehlerhaften Software als willkommene Verfahrensabkürzung nutzen. Genau das ist bei Hajar passiert.

"Das BAMF erkennt an, dass 20 Prozent der Analyseurteile falsch sind", sagt Bijan Moini. Er ist Anwalt und arbeitet bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte, die mit Klagen gegen Grundrechtsverletzungen vorgehen will. In der Praxis könne es trotzdem passieren, dass die Sprachanalysen den Fall allein entscheiden, sagt Moini: "Die Entscheider suchen Arbeitserleichterung, sie stehen unter starkem Druck, viele Entscheidungen in kurzer Zeit zu Fällen. Softwareanalysen suggerieren den Entscheidern, dass das, was da ausgespuckt wird, auch richtig ist." Letztlich würden die Fehlerquoten einfach ignoriert.

Warum es ein Problem ist, dass die Software menschliche Gutachter verdrängt

"Software ist für Sprachanalysen völlig ungeeignet", sagt Lutz Rzehak. Er erstellte mehrere Jahre lang Sprachgutachten für das BAMF und sollte in Zweifelsfällen helfen, die Herkunft von Geflüchteten zu bestimmen. Die Software brauche riesige Mengen an Vergleichsdaten, um zu funktionieren, sagt Rzehak, der als Dozent an der Berliner Humboldt-Universität arbeitet, im Gespräch mit Motherboard. "Ein guter Gutachter muss regelmäßig in die Regionen fahren, denn die Sprache ändert sich ständig."

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Rzehak sieht noch ein Problem bei der Analysesoftware: "Wie ein Mensch spricht, kommt immer auch auf die Situation an. Darauf, ob man in einem formellen Gespräch wie einer Anhörung sitzt oder einfach nur locker vor sich hin erzählt." Dabei sei es wichtig, die richtigen Fragen bei der Herkunftsbestimmung zu stellen, sagt Rzehak. Die Fragen sollten Geflüchtete dazu bringen, bestimmte regional unterschiedliche Begriffe zu benutzen: "Wenn man Menschen aus Afghanistan fragt, womit sie als Kind gespielt haben, kennen sie noch Murmelspiele. Im Iran spielen mittlerweile fast alle Kinder mit Computern." Religiöse Daten und Feste seien ein anderer Anhaltspunkt, woher ein Mensch kommt: Wie lange dauert das Fest am Ende der Fastenzeit? Welche Heiratsbräuche gibt es? Müssen die Menschen einen Brautpreis zahlen?

Der Computer kann keine Nachfragen stellen

Auch wenn Menschen in ihrem Leben in anderen Ländern gelebt haben, könnten semantische und syntaktische Hinweise Aufschluss geben, woher sie ursprünglich stammen. Aber Rzehak gibt zu Bedenken: "Kein Sprachwissenschaftler würde sagen, dass man die Nationalität oder Staatsbürgerschaft einer Person bestimmen kann. Man kann lediglich herausfinden, wo die Person sozialisiert wurde."

Ob die BAMF-Sprachsoftware all das berücksichtigen kann, wissen wir nicht. Wie genau sie funktioniert, ist ein Betriebsgeheimnis, das weder das BAMF noch die Herstellerfirma Nuance verraten wollen. Klar ist aber, dass die Software den Geflüchteten keine Fragen über lokale Eigenheiten stellen kann und dass sie nicht all die kleinen Details und Fallstricke kennt, mit denen menschliche Sprachgutachter arbeiten.

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In wie vielen Fällen die Sprachanalysen maßgeblich dazu beitragen, wie ein Asylantrag entschieden wird, lässt sich nicht nachvollziehen. Die Information, aus wie vielen Analysen aktenrelevante Hinweise hervorgingen, wie es im Behördensprech heißt, sei als "Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch" eingestuft, antwortet das BAMF auf Nachfrage von Motherboard. Das gleiche gelte für Auswertungen, wie oft die Sprachanalyse die Angaben der Asylsuchenden bestätigte oder ihnen widersprach.

Entscheider können die Ergebnisse nicht richtig interpretieren

Den Umgang mit der Dialektanalyse-Technik sollen die BAMF-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter in einer eintägigen Schulung zu den technischen Assistenzsystemen lernen. Dass das ausreicht, um überhaupt zu lernen, wie man die Software richtig bedient und ihre Ergebnisse interpretiert, ist fragwürdig. Denn die Sprachanalyse-Software ist nicht das einzige Programm, das das BAMF angeschafft hat, um die Herkunft von Geflüchteten zu bestimmen.

In den letzten zwei Jahren besorgte sich die Behörde drei weitere Tools, die versprechen, die Asylverfahren zu beschleunigen und zu verbessern: ein System zur automatischen Transkription arabischer Namen in lateinische Buchstaben, Geräte zur Registrierung von Personen mit Fingerabdrücken und biometrischen Gesichtsbildern und ein Tool, das die Daten von Smartphones und anderen Geräten der Geflüchteten ausliest, hergestellt von einer Firma, die auch Spionage-Tools für Geheimdienste entwickelt. Für all diese IT-Systeme zusammen ist eine Schulung von lediglich vier Stunden vorgesehen – inklusive praktischer Übungen. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Frage der linken Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke hervor.

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Bildschirm mit Fingerabdruck

Das Fingerabdruck-System des BAMF | Bild: BAMF

Die kurze Schulung hat Folgen, das zeigt auch Hajars Fall. Die ohnehin unzulässigen Ergebnisse wurden auch noch fahrlässig interpretiert: Laut Auswertungsbogen ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass Hajars Muttersprache Türkisch ist. Doch die Wahrscheinlichkeit liegt bei nur etwa 60 Prozent. Ein Prozentsatz, der statistisch so gering ist, das er eigentlich bedeutungslos ist.

Das sagen zumindest Handreichungen anderer Behörden, die zum Beispiel beim Abgleich von Handschriften schon länger mit statistischen Auswertungen arbeiten: Laut einer Veröffentlichung des BKA sind Wahrscheinlichkeiten unter 75 Prozent bei Auswertungen als "indifferent" anzusehen, auf ihrer Grundlage kann also keine stichhaltige Aussage getroffen werden. Für das BAMF reicht es offenbar, "wenn die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Dialekts gegenüber anderen wahrscheinlichen Dialekten im Ergebnisbericht überwiegt", um die Ergebnisse zu verwenden, antwortete die Behörde auf Nachfrage.

Falsche Analyseergebnisse sind kein Einzelfall

Falsche Analysen wie bei Hajar sind kein Einzelfall. Mehrere Anwälte berichten uns von Antragsstellern, die laut ihres Auswertungsbogens mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit deutsche Muttersprachler sein sollen. Die Software war auch schon Thema im Untersuchungsausschuss Breitscheidplatz. Dort berichtete der Anwalt Stephan Hocks von Äthiopiern oder Syrern, die der Computer als deutschsprachig markierte. Die Tests würden dann wiederholt. Das funktioniert aber nur in Fällen, wo die Ergebnisse so offensichtlich falsch sind. In allen anderen Fällen stehen die Antragsteller als Lügner da, mit weitreichenden Folgen.

Es gibt nur wenige Betroffene, die über ihre Erfahrungen reden wollen. Einige von ihnen haben Angst, dass das BAMF versucht, sie auszuspionieren. Andere befürchten, Nachteile bei ihren Asylanträgen zu erfahren, wenn sie sich öffentlich äußern.

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Wenn ihr Informationen über die IT-Systeme des BAMF habt oder selbst davon betroffen seid, könnt ihr die Autorin per E-Mail kontaktieren. Motherboard wird auch in Zukunft weiter zu dem Thema recherchieren.

"Verdacht des Einzelentscheiders" – warum, steht nicht in der Akte

Khalil – auch seinen Namen haben wir geändert – ist ein weiterer von tausenden Geflüchteten, die eine Sprachanalyse beim BAMF machen mussten. Seine Geschichte zeigt, was noch alles schief gehen kann mit dem Computerprogramm. Auch Khalils Computeranalyse dürfte es den Vorschriften zufolge gar nicht in seine Akte geschafft haben, denn bereits die Aufnahme lief schief. Khalil berichtet davon, dass die BAMF-Mitarbeiterin, die seinen Test durchführte, Probleme mit dem System hatte: "Sie konnte das Gerät nicht richtig bedienen, beim ersten Mal hat es gar nicht funktioniert. Die Aufnahme wurde dann abgebrochen. Beim zweiten Mal hat sie auf irgendwelchen Knöpfen rumgedrückt, bis es geklappt hat."

Aber geklappt hat es nicht, zumindest nicht so ganz. Die Aufzeichnung dauerte weniger als eine Minute, davon sprach Khalil gerade einmal 26 Sekunden in den Telefonhörer. Eigentlich sollen es mindestens zwei Minuten sein, um ein aussagekräftiges Ergebnis zu erzielen, steht in einer Dienstanweisung des BAMF. "Die korrekte Umsetzung gewährleisten die zuständigen Mitarbeiter des Asylverfahrenssekretariats", sagt das BAMF gegenüber Motherboard. Aber auch Sprachproben von unter zwei Minuten seien nicht automatisch unbrauchbar, so die Behörde weiter. Die reine Sprachdauer solle aber zumindest etwa eine Minute betragen. Khalils Aufnahme ist davon weit entfernt. Klar ist: Im Zuge unserer Recherchen sind wir auf mehrere Fälle gestoßen, in denen das Sprachanalyseprogramm nicht ordnungsgemäß eingesetzt wurde und falsche Ergebnisse geliefert hat. Zum Teil wurden sie daraufhin ignoriert, zum Teil aber auch für die Entscheidungen verwendet.

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26 Sekunden – und der Asylantrag wird abgelehnt

Menschen in einem Geflüchteten-Camp in Syrien

Menschen werden im Jahr 2014 aus einem Geflüchteten-Camp in Syrien evakuiert | Bild: imago | Xinhua

Die 26 Sekunden hat das BAMF sogar so in Khalils Akte eingetragen, neben dem Ergebnis der Sprachanalyse: Laut Computer soll er mit circa 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit einen ägyptischen Dialekt sprechen. Levantinisches Arabisch – seinen Heimatdialekt als syrischer Palästinenser – hielt das Programm für ziemlich unwahrscheinlich. Dabei sprechen alle anderen Angaben in seiner Akte dafür, dass Khalil tatsächlich syrischer Palästinenser ist, auch wenn er bei seiner Ankunft in Deutschland keinen syrischen Pass dabei hatte. Weil die palästinensischen Geflüchteten keine syrische Staatsbürgerschaft bekommen, stellt das UN-Hilfswerk UNRWA ihnen Identitätspapiere aus, die sie als Geflüchtete ausweisen. Khalil brachte diese Papiere und die Heiratsurkunde seiner Eltern mit nach Deutschland, als er im Jahr 2016 hier ankam. In seiner Asylakte sind keine widersprüchlichen Aussagen in seiner Anhörung vermerkt. Nur "Verdacht des EE", des Einzelentscheiders, steht – ohne weitere Angaben – in einem der vielen Schreiben. Warum es diesen Verdacht gibt und worin er besteht, hat ihm niemand mitgeteilt.

Ein Freund von Khalil, der mit ihm in einer Bäckerei in Syrien gearbeitet hat, vermutet, dass es an Khalils Hautfarbe liegt. "Für einen Syrer ist er ziemlich blass, vielleicht haben sie ihm deshalb nicht geglaubt", mutmaßt er. Nachvollziehen lässt sich das nicht, Khalil wurde niemals auf die Zweifel angesprochen, sein Entscheider beschloss, den Sprachtest durchzuführen.

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"Offensichtlich unbegründet" ist die schlimmste Form der Ablehnung

Zwei Wochen nach dem Sprachtest erhält Khalil die Ablehnung seines Asylantrags. Er sei "offensichtlich unbegründet", sagt das BAMF. Diese Form der Ablehnungen sind für die Betroffenen besonders schlimm, wie Bijan Moini erklärt. Der Betroffene gilt als ausreisepflichtig. Viel Zeit, zu widersprechen, hat er nicht: "Ein Geflüchteter muss innerhalb einer Woche Rechtsmittel einlegen und sogar einen Eilantrag stellen, wenn er nicht sofort abgeschoben werden will", sagt Moini.

Khalil gelang es mit Hilfe von Unterstützerinnen, diese Fristen einzuhalten. Bis sein Verfahren entschieden wird, darf er in Deutschland bleiben. Sprachkurse machen oder arbeiten gehen darf er wegen der Ablehnung jedoch nicht.

Nicht alle Geflüchteten haben das Glück, bei ihren Asylverfahren von Freiwilligen oder Anwältinnen unterstützt zu werden. Durch die vielen Verfahren wird es immer schwieriger, überhaupt spezialisierte Anwälte zu finden, die Kapazitäten haben. Sie fallen durch das Raster und werden – womöglich zu Unrecht – abgeschoben.

Das BAMF muss fast die Hälfte aller angefochtenen Asylablehnungen revidieren

Auch Hajar hatte Glück: "Nachdem die Ablehnung kam, war ich sehr traurig. Aber dann habe ich meine Anwältin gefunden und ich bin sehr froh, dass sie da ist." In seinem Verfahren entdeckte seine Anwältin noch mehr Auffälligkeiten. Das Bundesamt nimmt an, dass sein Pass eine Fälschung sei. Sein Führerschein, der ebenfalls geprüft wurde, erwies sich jedoch als echt. Doch das Ergebnis für seine Fahrerlaubnis traf erst ein, nachdem seine Ablehnung bereits verschickt war.

Solche und andere Fehler gibt es beim BAMF massenhaft: In 44 Prozent aller vor Gericht angefochtenen Asylablehnungen bekamen die Geflüchteten letztlich Recht und durften bleiben. Immer mehr Asylsuchende gehen vor Gericht, in den ersten drei Quartalen des Jahres 2017 gingen 273.000 Klagen bei den Gerichten ein.

Hajars Chancen für seine Klage dürften gut stehen, die Fehler des BAMF sind in seinem Verfahren offensichtlich. In seine alte Heimat zurückzukehren, ist wegen der andauernden Konflikte keine Option für ihn. Auch deshalb ist er wütend auf das BAMF und die deutschen Behörden, sagt er: "Bei uns gibt es viele Probleme, es herrschen Krieg und Chaos – genau wie in Syrien. Das ist doch hier auch bekannt."

"Nach dem Praktikum hat er gesagt, dass ich für eine Ausbildung bleiben kann."

Deshalb kämpft Hajar weiter dafür, in Deutschland bleiben zu können und lernt intensiv Deutsch. Wenn er mit dem Übersetzer auf Sorani spricht, rutschen ihm immer wieder Phrasen wie "zum Beispiel" auf Deutsch in die Sätze. Schon vor über einem Jahr hat er ein Praktikum bei einer Autolackiererei in der Gegend gemacht. "Ich habe vorher im Irak ein Jahr lang als Automechaniker gearbeitet, daher dachte ich, ich will auch in Deutschland etwas mit Autos machen", sagt er.

Man merkt Hajar an, dass er sehr stolz darauf ist: "Das ist ein großer, bekannter Betrieb." Dass auch der Übersetzer die Werkstatt kennt, freut ihn. "Mein Chef ist sehr freundlich, er unterstützt mich sehr viel. Nach dem Praktikum hat er gesagt, dass ich für eine Ausbildung bleiben kann."

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