Meinung

Die Debatte über fastende Schüler ist anstrengender als Ramadan selbst

Es ist paradox: Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf. Und trotzdem sorgen sich viele Menschen mehr um die, die einen Monat lang fasten.
Kinder in der Schule
Kinder in der Schule || Symbolfoto: imago | Panthermedia

Stell dir vor, du feierst ein religiöses Fest. Von der Bedeutung her ist es ungefähr so wichtig wie Weihnachten, nur dass man einen Monat lang feiert. Du freust dich sehr darauf, weil jeder Abend besonders ist; deine Freunde und Familie kommen zusammen, ihr esst Datteln, Brot und Suppe. In diesem Monat kannst du dich während des Tages in Selbstkontrolle üben, du versuchst nicht zu fluchen, versuchst, mehr Mitgefühl mit Hungernden und Armen zu entwickeln. Vielleicht bist du auch motivierter zu beten. Klingt toll, oder? Aber jedes Jahr gibt es immer wieder viele Leute, die sich wahnsinnig um dich sorgen.

Anzeige

Es scheint, als ob Islamexpert*innen, Politiker*innen, Lehrer*innen und Journalist*innen seit dem ersten Tag des Ramadan kein anderes Thema haben, das ihnen Kopfzerbrechen bereitet. Zumindest, wenn man die Überschriften so liest:

"Nichts essen, nichts trinken, nichts lernen." "Lehrer sind ratlos: Immer mehr muslimische Kinder fasten an Ramadan." "Falsche Toleranz am Ramadan." "Ramadan beginnt - Lehrer beklagen Probleme im Schulalltag." "Lehrer warnen Berliner Schüler vor dem Fasten."

Es geht den besorgten Mitbürger*innen natürlich nicht darum, dass deine Religion sowieso als Quell allen Übels gesehen wird; als Frau bist du unterdrückt, als Mann gewaltbereiter Täter, wenn nicht sogar Islamist und als Kind bist du das Opfer deiner Eltern.

Genau so ergeht es aber jedes Jahr vielen Muslim*innen in Deutschland. Und man fragt sich, warum es die Menschen scheinbar mehr aufregt, ob muslimische Kinder nun fasten oder nicht – anstatt sich darüber aufzuregen, dass jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut aufwächst.


Auch auf VICE: Warum eine Trans-Jugendliche ihre Schule verlassen musste


Es gibt wirklich größere Probleme als Ramadan

"Kinder müssen regelmäßig trinken und essen, sonst können sie nicht aufmerksam sein, lernen und sich gesund entwickeln. Das gilt generell und natürlich auch im Ramadan", sagt etwa Franziska Giffey, SPD-Bundesfamilienministerin und ehemalige Bezirksbürgermeisterin von Neukölln.

Frau Giffey sagt hier nichts Neues. Selbstverständlich, Kinder müssen regelmäßig essen und trinken. Wir fragen uns an dieser Stelle jetzt nicht, warum sie in diesem Zusammenhang nicht auch kritisiert, dass Schulkinder meistens nur in den Pausen trinken dürfen. Oder warum sie nicht darauf hinweist, dass in deutschen Grundschulen Kinder sitzen, die zuhause nie Frühstück bekommen, die mittags zur Arche gehen und abends erneut. Wie gut kann sich ein Kind konzentrieren, das immer Hunger hat, das in Angst lebt, abgeschoben zu werden, das nicht weiß, ob seine Familie aus der Wohnung geschmissen wird, das befürchten muss, rassistisch behandelt zu werden.

Anzeige

Probleme wie unsichere Aufenthaltsstatus, Gentrifizierung, Rassismus und Armut wirken sich jede Stunde auf ihre Konzentration aus, jeden Tag, jedes Jahr.

Muslim*innen sind nicht automatisch Islamexpert*innen

Von muslimischen Schüler*innen wird außerdem erwartet, dass sie Islamexpert*innen sind, dass sie für "den Islam" oder für alle "Muslim*innen" sprechen. Aber Kinder sind keine Erstsemester-Studierenden der islamischen Theologie. Wird von Weihnachten feiernden Schüler*innen Expertise in Bezug auf das Christentum verlangt? Müssen Sie genau erklären, was der letzte Satz von Jesus Christus war? Wann die christliche Fastenzeit beginnt?

So wirken die Anforderungen an muslimische Schüler*innen wie ungerechtfertigte doppelten Standards.

Dann kommen die pseudowissenschaftlichen Debatten, die man immer wieder hört, gerne auch von Lehrer*innen, die Bestseller über Brennpunktschulen geschrieben haben: Schüler*innen werden aggressiv vom Ramadan – wenn sie nicht kurz vor ihrem Wutausbruch erschöpft oder gar ohnmächtig vom Klassenstuhl fallen. Dazu schrieb der interkulturelle Rat, ein Zusammenschluss mehrerer Religionsgemeinschaften, Kommunen, Gewerkschaften und Migranten- und Menschenrechtsorganisationen, schon vor zehn Jahren: "Dass das Fasten der muslimischen Jugendlichen im Vergleich zu nicht-fastenden Jugendlichen zu einer signifikanten Verschlechterung der Konzentration oder Leistung und zu vermehrter Aggressivität (ein häufiger Vorwurf in diesem Zusammenhang) führen soll, ist … logisch nicht nachvollziehbar."

Anzeige

Ramadan macht so aggressiv wie Weihnachten

Nehmen wir mal an, dass es doch logisch nachvollziehbar ist, dass viele Schüler*innen wirklich aggressiver sind: Vielleicht ist gar nicht ihr Fasten der Grund, sondern dass die Schüler*innen sich andauernd dafür rechtfertigen müssen. Dass sie konstant erklären müssen, dass wirklich alles in Ordnung ist. Stattdessen wäre es doch sinnvoll, zu schauen, wie man auf sie Rücksicht nehmen kann; ob wirklich alle Sportfeste vom Volleyballturnier bis zu den Bundesjugendspielen immer in den heißesten Monaten des Jahres stattfinden müssen; ob Schüler*innen Klassenarbeiten nicht auch zwei Wochen später schreiben können, ob man wirklich demonstrativ beim gemeinsamen Essen in der Schule die Wasserflaschen vor sie stellen muss.

Burhan Kesici, der Islamratsvorsitzende der Bundesrepublik, erklärt, dass dieses Jahr viele Schulen Kindern das Fasten verboten hätten. In mehreren Fällen seien die Kinder sogar im Schulunterricht unter Zwang aufgefordert worden, das Fasten zu brechen.

Wenn die Aggression der Grund für ein gefordertes Verbot ist – müsste man dann nicht alle aggressionsfördernden Feste wie etwa Oktoberfest oder Weihnachten verbieten? Den ganzen Dezember über sind etwa nicht nur Schüler*innen gestresst wegen Weihnachten, sondern auch Ihre Eltern, Großeltern und Freunde. Die ganze Republik muss organisieren, Geschenke kaufen, die Gans vorbereiten. Alle haben Angst zuzunehmen oder haben keine Lust, ihre Familie zu treffen.

Anzeige

Möchte man nur das eine Fest verbieten und das andere nicht? Dann zeigt sich, dass hinter der "Sorge" um die armen muslimischen Kinder vielleicht doch eher ein Weltbild versteckt, das den Islam als Feindbild betrachtet.

Fastende Grundschulkinder

Hessens Justizministerin Eva Kühne-Hörmann möchte verbieten, dass Grundschulkinder zum Fasten gezwungen werden. Aber wie genau will man das überprüfen? Sollen Polizeibeamte das Frühstück beobachten? Oder geschaut werden, ob die Kinder ihren Kakao trinken?

Es dürfen nur Menschen fasten, die "körperlich dazu in der Lage sind". Dazu zählen aber keine Kinder. Das müsste den vielen Islamexpert*innen eigentlich klar sein. Aber vielleicht suchen sie in islamischen Texten nach dem Wort "Grundschulkinder"?

Dazu kommt, dass es so einfach nicht ist: Ich wollte als Kind zum Beispiel unbedingt fasten, weil die Erwachsenen um mich herum auch fasteten. Ich verstand das Konzept nicht ganz. Ständig fragte ich meine Mutter, ob ich denn dieses und jenes essen darf. Meine Mutter sagte immer: "Klar, darfst du." Ich war wie die Kinder, die an Silvester Kindersekt trinken, weil sie auch mitanstoßen wollen, weil das Anstoßen für sie Erwachsenensache ist.

Es gibt sicherlich Eltern, die ihre Kinder zum Fasten zwingen – aber die sind die Ausnahme. Und diese Ausnahmen sollten nicht für Verbote instrumentalisiert werden. Stattdessen sollte es Aufklärungsarbeit geben.

Fasten kann auch Mündigkeit bedeuten

Zu den Lieblingen der deutschen Medienlandschaft, den – aus ihrer Perspektive – kritischen Islamexpert*innen, gehört Seyran Ateş. Auf einer Podiumsdiskussion sagte sie, dass Lehrkräfte keine Islamexpert*innen sein müssen. Aber Lehrer*innen sollten sich mit der Lebenswelt der Schüler*innen auseinandersetzen – vor allem, wenn man sich schon eine Meinung dazu bildet und sich "sorgt". Weiterhin sei es laut Ateş die Aufgabe der Schule, Schüler*innen zu 'mündigen Bürgern' zu erziehen. Damit hat sie absolut Recht. Mündigkeit bedeutet Reflexion und Auflehnung, die Entwicklung eigener Prinzipien. Mündigkeit kann auch bedeuten zu erkennen, wann Leute ihren Paternalismus als Fürsorge tarnen.

Man ist weder mündig noch unmündig, wenn man fastet oder nicht fastet. Es kommt immer darauf an, ob man fastet, weil man es möchte – oder sich vom Umfeld unter Druck gesetzt fühlt, zu fasten. Mündig ist man, wenn man nicht fastet, auch wenn andere Menschen es nicht toll finden und ebenso, wenn andere auf das Fasten negativ reagiert.

Der mündige Mensch lehnt sich gegen die Mehrheitsgesellschaft auf und fastet, wenn er es möchte. Und lässt die Gesellschaft so lange mit sich alleine bis sie anfängt, die Mündigkeit von Muslim*innen anzuerkennen und zu fördern.

Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.