Antisemitismus

Wir haben Juden gefragt, wie sie es finden, wenn Nicht-Juden die Kippa tragen

"Liebenswert. Aber wir sind doch keine Disneyland-Juden."
Kippa Aktion vor Brandenburger Tor
Foto: imago | snapshot

Da steht der Mann und sieht aus wie ein Cäsar aus dem alten Rom, der für ein Abbild auf einer Goldmünze posiert. Heiko Maas, Anzug, Krawatte und auf dem Kopf: eine selbstgebastelte Kippa aus der Bild-Zeitung. Das neueste modische Accessoire des Außenministers mit den Slim-Fit-Anzügen? Nein, die Papier-Kippa soll ein Zeichen der Solidarität sein.

"Ich kann Juden nicht empfehlen, jederzeit überall in Deutschland die Kippa zu tragen", sagte Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, am vergangenen Sonntag den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Dabei berief er sich auf eine "zunehmende gesellschaftliche Enthemmung und Verrohung" und steigende rechtsextremistische Straftaten. Bild reagierte mit einem feurigen Kommentar von Chefredakteur Julian Reichelt und druckte eine "Kippa zum Ausschneiden" auf ihre Titelseite. Nicht nur der Außenminister griff zur Schere – auch Andreas Scheuer, Philipp Amthor, Heino und andere Prominente unterstützten die Aktion mit eigens geschossenen Kippa-Selfies.

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Grundsätzlich ist es wichtig, sich solidarisch zu zeigen – auch weil Jüdinnen und Juden in Deutschland immer öfter angegriffen werden. Schon im April 2018 gab es die Aktion "Berlin trägt Kippa", bei der etwa 2.500 Menschen Kippa-tragend auf die Straße gingen. Auslöser war damals eine antisemitische Attacke: Ein Syrer hatte mit einem Gürtel auf einen arabischen Israeli eingeprügelt, weil dieser eine Kippa trug. Aber wie finden jüdische Menschen das eigentlich, wenn Nicht-Juden Kippa tragen?

Mirna Funk, Schriftstellerin und Journalistin

Mirna Funk

Foto: Shai Levy

VICE: Wie fandest du die Kippa-Aktion der Bild-Zeitung?
Mirna Funk: Ich dachte: "Das ist der schönste Tag im Leben eines Deutschen!" [Lacht]. Endlich Jude sein! Aus meiner Sicht hatte die Aktion mehr mit den Deutschen selbst zu tun als mit einer Solidaritätsbekundung. In mir hat sie Unbehagen ausgelöst.

Denkst du, dass manche Nicht-Juden nur aus Neugier eine Kippa tragen?
Deutsche bringen ein subtiles Schuldgefühl mit. Wenn sie eine Kippa tragen und in gewisser Weise zu Juden werden, löst sich dieses diffuse Schuldgefühl irgendwie auf. Es fühlt sich besser an, Jude zu sein als Deutscher zu sein. Das ist ganz klar, in Bezug auf die gemeinsame Historie. Wenn Deutsche Kippa tragen, denke ich, dass es viel weniger um ein empathisches Moment geht als um Absolution.

Also kaufst du ihnen ihre Solidarität nicht ab?
Genau.

Was ist problematisch daran, wenn Nicht-Juden eine Kippa tragen?
Die Kippa ist ein Zeichen starker religiöser Zugehörigkeit. Mich erinnert die Aktion daran, wie Medien orthodoxe Juden zeigen, um Juden insgesamt zu verdeutlichen. Ja, die Kippa gehört zu Juden, aber nicht nur. Es gibt auch Juden, die sie nicht tragen oder nicht tragen wollen.

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Findest du es übergriffig, wenn in Deutschland Nicht-Juden die Kippa tragen?
Man muss hier zwischen Nicht-Juden und deutschen Nicht-Juden unterscheiden. Wenn sich ein "Tätervolk" ein jüdisches Symbol aneignet, dann ist das hochproblematisch. Der Holocaust liegt noch nicht mal ein ganzes Menschenleben zurück, und für Juden sind historische Ereignisse nie vergangen. Jedes jüdische Fest basiert auf einem zentralen historischen Ereignis, dem man gedenkt. Und dieses Erinnern ist extrem wichtig im Judentum. Das heißt: Es wird im Leben der Juden kein Datum geben, an dem genug Zeit vergangen ist, um nicht mehr dem Holocaust zu gedenken. Vielleicht wird für Juden deshalb auch kein Zeitpunkt kommen, an dem sie reif dafür sind, dass Deutsche Kippot tragen. Das ist meine Position. Es gibt sicher auch Juden, die das weniger problematisch finden.

Was wäre denn eine bessere Methode, um Solidarität zu zeigen?
Zivilcourage bei antisemitischen Übergriffen und Äußerungen. Das passiert schließlich fast nie. Das wäre richtige Solidarität, im Gegensatz zu 2.000 Berlinern, die mit einer Kippa herumrennen. Die Frage ist: Hilfst du einem Juden, wenn etwas passiert oder guckst du weg? Wenn dein Boss in einem Meeting über das "Finanzjudentum" redet, traust du dich dann, ihm zu sagen: "Alter, du bist ein antisemitisches Arschloch"? Oder setzt du dir danach lieber die Bild-Kippa auf und fühlst dich besser? Solange sich jemand in der Öffentlichkeit antisemitisch äußern kann und alle den Mund halten, braucht auch niemand eine Kippa zu tragen. Wichtig wären außerdem Gesetzesänderungen, die antisemitische Äußerungen noch konsequenter unter Strafe stellen.

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Hast du da ein Beispiel?
Auf einem Plakat von mir wurde mal ein Hitlerbart über meine Oberlippe gemalt. Die Täter haben sich dabei fotografiert, das Foto auf Social Media hochgeladen und mich getaggt. Die wussten, dass ich einen jüdischen Background habe. Ich habe sie angezeigt. Solidaritätsbekundungen gab es dazu nicht. Ich galt als die nervige, stressige Tante, die wegen eines Hitlerbarts einen Aufstand machte. Mein Anwalt riet mir davon ab, vor Gericht zu gehen, denn der Hitlerbart ist eine Grauzone. Hätten die mir ein Hakenkreuz auf die Stirn gemalt, hätte ich vermutlich gewonnen.

Mendel Gurewitz, Rabbiner

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Foto: Grey Hutton

VICE: Wie finden Sie es, wenn sich nun jeder eine Papier-Kippa ausschneiden kann?
Mendel Gurewitz: Ich möchte die Bild-Zeitung dafür nicht kritisieren. Aber ich weiß nicht, wieso das jemand machen sollte. Eine Kippa ist ein religiöses Symbol. Man trägt sie, weil man überzeugter Jude ist. Das hat weniger mit jüdischer Identität als mit jüdischer Religion zu tun. Wenn jemand eine Kippa aufzieht, weil er sich solidarisch zeigen will, ist mir das ein bisschen unangenehm. Aber es ist eine süße Idee.

Was meinen Sie mit "unangenehm"?
Eine Kippa gehört zur jüdischen Religion. Aber ein religiöser Jude muss keine Kippa tragen, er kann auch einen Hut oder eine andere Kopfbedeckung tragen. Wichtig ist, dass sein Kopf bedeckt ist.

Finden Sie es übergriffig, wenn ein Nicht-Jude so ein religiöses Zeichen trägt?
Nein, es ist OK. Wir leben in einem demokratischen Land. Nur: Wenn ich höre, dass sich jemand solidarisch mit mir fühlt, dann reicht mir das. Dazu muss er nicht mit einer Kippa herumlaufen.

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Der Antisemitismus-Beauftragte Felix Klein warnte davor, öffentlich Kippa zu tragen. Wie sehen Sie das?
Was ist die Aufgabe des Antisemitismus-Beauftragten? Ist es sein Job, mir Ratschläge zu geben, wie ich mich als Jude benehmen sollte? Oder sollte er sich um Antisemitismus kümmern? Wenn Antisemiten meine Kippa als Provokation sehen, muss ich dann auch meinen Bart verstecken? Oder muss ich meine Nase operieren lassen, weil sie zu jüdisch aussieht? Die Leute sollen machen, was für sie richtig ist. Wenn jemand eine Kippa trägt, soll er sie weiter tragen und stolz darauf sein.

Klein berief sich auf zunehmende antisemitischen Straftaten. Fühlen Sie sich als Rabbiner bedroht?
Ja, es gibt viele antisemitische Angriffe. Auch ich war Opfer davon. Ich wurde als "Scheißjude" beschimpft oder man rief mir zu: "Scheiß auf Palästina!" Das beeinflusst mich aber nicht, das kann überall passieren. Ich lebe in Offenbach, einer sehr sensiblen Stadt, und trage auch im Alltag eine Kippa. Manche Leute finden das komisch und gaffen mich an. Das spüre ich aber gar nicht mehr. Mein Traum ist, dass wir alle in Frieden leben können. Aber das ist utopisch, weil es immer dumme Leute geben wird. Trotzdem erlebe ich viel mehr Solidarität von netten Menschen als antisemitische Übergriffe. Viele verhalten sich respektvoll und sagen zu mir: "Herr Rabbiner, wir schätzen, dass Sie bei uns sind."

Lala Süsskind, Vorsitzende des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus

Lala Süsskind

Foto: Kai-Uwe Heinrich

VICE: Was hast du gedacht, als du von der Bild -Kippa zum Ausschneiden gehört hast?
Lala Süsskind: Liebenswert, dass man an so etwas gedacht hat. Aber wir sind doch keine Disneyland-Juden. Wenn sich jemand für Demokratie und für alle Menschen einsetzt, sollte er dieses Engagement in seinem Herzen tragen. Das muss man nicht mit einer Kippa zeigen. Wenn ich ein Kopftuch trage, bin ich noch lange keine Muslima. Wenn ich ein Kreuz trage, bin ich noch lange keine Christin. Ich vertrete dadurch nichts. Ich kann mich höchstens einsetzen, wenn jemand belangt wird, weil er rot, grün, schwarz, lesbisch oder schwul ist. Dann kann ich mich gegen Diskriminierung einsetzen. Dafür muss ich aber als Bekennermaterial keine Kippa tragen.

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Was eignet sich denn besser, um Solidarität zu zeigen?
Zum Beispiel Demonstrationen. Demnächst findet wieder der al-Quds-Tag statt [Ein staatlicher Feiertag im Iran, an dem Massendemonstrationen gegen Israel organisiert werden – Anm. d. Red.] Wer sich an den Gegendemos beteiligt, auch ohne Kippa, der sagt damit: "Wir sind für unsere jüdischen Mitmenschen da." Man kann auch an Kundgebungen oder Workshops teilnehmen. Jedenfalls sollte man den Mund aufmachen und nicht nur mit einer Kippa herumlaufen.

Letztes Jahr beteiligten sich etwa 2.500 Menschen an der Aktion "Berlin trägt Kippa". Was ist der Unterschied zur Bastelaktion der Bild ?
Menschen waren aufgefordert, sich an einem bestimmten Platz zu treffen. Die Aktion fand vor dem jüdischen Gemeindehaus statt und wurde stark von der Polizei geschützt. Sich dorthin zu begeben, um für fünf Minuten Solidarität zu zeigen, ist bestimmt eine tolle Sache, weil man weiß: Mir wird nichts passieren. Das ist natürlich etwas anderes, als sich eine Kippa auszuschneiden und damit herumzulaufen. Denn die Gefahr, damit in bestimmten Gegenden komisch angeguckt oder verbal beleidigt zu werden, ist größer, wenn man nicht von Hunderten Polizisten geschützt wird.

Die Debatte wurde durch den Antisemitismus-Beauftragten Felix Klein wieder ins Rollen gebracht.
Ich schätze Herrn Klein sehr, aber was er da von sich gegeben hat, halte ich größtenteils für falsch. Ich würde auch keinem jüdischen Menschen vorschlagen, in bestimmten Gegenden von Berlin eine Kippa zu tragen. Aber er hätte sagen sollen: Wir müssen alles dafür tun, dass jeder Jude überall mit einer Kippa auftreten kann. Er hat meine Glaubensbrüder und -schwestern noch mehr verunsichert, statt sie darin zu bestärken, dass sie nicht allein sind. Wir lassen uns nichts von irgendwelchen Rassisten gefallen. Das hätte Herr Klein sagen sollen.

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Angenommen, du siehst einen Nicht-Juden mit einer Bild-Kippa: Was würdest du ihm sagen?
Machst du prima. Ich würde ihn dafür loben. Was soll ich sonst machen? Ich würde doch nicht sagen: "Zieh das Ding aus, du bist kein Jude, du darfst keine Kippa tragen." Klar kannst du sie tragen. Wenn du glaubst, etwas damit zu bewirken, bitteschön.

Vorhin klangst du nicht so begeistert.
Das bin ich auch nicht. Aber wenn ein Einzelner meint, dass er damit seinen Beitrag leisten kann, dann soll er es machen. Wer bin ich, so etwas verbieten zu wollen? Aber allgemein finde ich, dass man sich lieber auf andere Weise einbringen sollte. Eine Kippa zu tragen, kann höchstens ein erster Schritt sein.

Was kann man noch tun?
Solidaritätserklärungen sind wunderbar, ob sie nun schriftlich oder mündlich erfolgen. Aber wenn man sich körperlich einbringt, in einer Demo oder Gegendemo oder Kundgebung, finde ich das viel besser. Mir ist nicht damit geholfen, wenn Nicht-Juden eine Kippa tragen, während wieder einmal gegen koscheres Schlachten oder Beschneidungen vorgegangen wird.

Miki Hermer, Referentin für Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung

VICE: Was hast du gedacht, als du die Kippa zum Ausschneiden in der Bild -Zeitung gesehen hast?
Miki Hermer: Ich fand es putzig. Da Solidaritätsbekundungen mit der kleinen, aber so wichtigen jüdischen Gemeinschaft in Deutschland rar gesät sind, ist mir mittlerweile fast jedes Mittel recht. Bei Antisemitismus wird meistens nur weggeschaut.

Wie solidarisch ist es denn, wenn Nicht-Juden eine Kippa tragen?
Ich war letztes Jahr bei der Aktion "Berlin trägt Kippa" dabei und sah sehr viele auf den ersten Blick nicht jüdisch zuzuordnende Köpfe, die eine Kippa trugen. In so einem Moment kann das durchaus rührend sein. Letztendlich ist es zwar nicht nachhaltig, aber bevor man die kleinen Pflänzchen mit der das-reicht-nicht-Keule erschlägt, sollten sie doch erst mal wachsen und die Leute ihre Kippa basteln. Ich fände es aber befremdlich, wenn sie gleich wieder weggeschmissen würde, sobald man sie nicht mehr benutzt. Viel wichtiger als die Aktion ist ohnehin ein Satz aus dem Artikel, der dazu in der Bild-Zeitung erschienen ist: "Die Kippa und das Judentum gehören zu Deutschland."

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Was wünscht du dir abgesehen von solchen Aktionen und Kommentaren?
Solidaritätsbekundungen bei antisemitischen Übergriffen sind längst überfällig. Wenn wir so weit gekommen sind, dass man Kippot aus Papier ausschneiden muss, um Solidarität zu zeigen, ist das einfach ein Trauerspiel. Wichtiger wäre ein nachhaltiges Umdenken: dass man Antisemitismus, ob er sich nun im Mantel der vermeintlichen Israelkritik oder in Form von bizarren Verschwörungsmythen äußert, entgegentritt.


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Wie bringt man dieses Umdenken auf den Weg?
In den Schulen sollte man ansetzen, denn dort haben wir besonders große Probleme. Viele Lehrer sind entweder hilflos oder blind, was Antisemitismus angeht. In Schulbüchern geht es entweder um tote Juden oder um den bösen Nahost-Konflikt. Das Problem spiegelt sich auch in der sogenannten Holocaust-Ermüdung wider. Die Schüler sagen: "Boah, müssen wir schon wieder darüber reden?" Sie haben das Gefühl, mit dem Thema überladen zu werden. Dabei taucht der Holocaust in Lehrplänen nicht häufiger auf als andere Katastrophen oder Kriege. Nur über Holocaust und tote Juden zu reden, ist deshalb keine Lösung. Man sollte außerdem mehr über jüdische Vielfalt und jüdisches Leben im heutigen Deutschland aufklären, jüdische Familien begleiten oder mal eine Synagoge besuchen.

Wie problematisch ist Antisemitismus an den Schulen?
Es braucht noch nicht mal einen Juden in der Klasse, um die bekannten Schimpfworte zu hören. "Du Jude" steht in der Jugendsprache für vieles. Ich kenne keine jüdische Familie, die ihre Kinder auf eine staatliche, nicht-jüdische Schule schickt und nicht besorgt ist. Das entsetzt mich, denn die Sorgen dieser Familien werden nicht ernst genommen. Man hofft einfach, dass nichts passieren wird. Und wenn ein antisemitischer Übergriff passiert, verlässt notgedrungen jedes Mal das jüdische Kind die Schule. Nicht die Täter. Manche Direktoren und Lehrer raten jüdischen Familien sogar, die Identität ihrer Kinder zu verschweigen, um Problemen aus dem Weg zu gehen.

Wie können Schülerinnen und Schüler gegen Antisemitismus vorgehen?
Sie sollten ihre Mitschüler darauf hinweisen, dass "Du Jude" kein Schimpfwort ist. Es ist keine Beleidigung, Jude zu sein. Jugendliche können sich solidarisieren, indem sie aufstehen, sich Wissen über das Judentum aneignen oder sogar Gemeinsamkeiten zwischen Juden, Muslimen und Christen erforschen. Das muss erst noch stattfinden. Die Belange der Juden sind der deutschen Mehrheitsgesellschaft immer ein bisschen unangenehm. Wie ein Stein im Schuh. Antisemitismus mit Rassismus zu trivialisieren, beides gleichzusetzen, das ist gängiger als aufzustehen und sich mit Betroffenen antisemitischer Übergriffe zu solidarisieren. Dabei wäre es höchste Zeit, mit Juden zu sprechen statt immer nur über sie.

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