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Reinheitsgebot

Ich war einen Tag lang Müllsheriff für die Deutsche Bahn

An der Wand kleben die blassgelben Überreste einer ehemals vollen Blase. Ich übergebe mich nur nicht, weil ich dann meine eigene Kotze melden müsste.
Alle Fotos (wenn nicht anders angegeben): Eva L. Hoppe

Meine Haltung beim Putzen fasste eine Freundin einmal so zusammen: "Dreck, den man nicht sieht, ist sauber."

Klar, ich habe einen Stuhl, der unter einem Klamottenberg versinkt (wer hat den nicht?), verstaubte Regalbretter, die gewischt werden wollen (hat auch jeder) und eine chronische Vorliebe dafür, die Hälfte meines Mitternachtssnacks im Bett zu verteilen. Aber so ist das eben als Student.

Ich lebe in einer WG mit fünf Mitbewohnern. Wenn unser Putzplan versagt, merke ich das zuerst an den Fotos in unserer WhatsApp-Gruppe – Bilder von dreckigem Geschirr, vollgestopften Wäschekörben, Haarfusseln, Bartstoppeln. WhatsApp eignet sich perfekt, um passiv-aggressiv zu meckern, ohne danach Augenkontakt haben zu müssen. Und das hat mittlerweile die Deutsche Bahn auch verstanden.

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Die Bahn führte letztes Jahr ebenfalls einen digitalen Meckerkasten auf WhatsApp ein. Reisende können zugemüllte Ecken fotografieren und per Kurznachricht melden. Danach schickt die Bahn ein Reinigungsteam, das den Schmutz entfernt. Ziel sei es, die Bahnhöfe nachhaltig sauberer zu machen und ein direktes Feedback der Reisenden zu bekommen, erzählt mir eine Sprecherin der Bahn. Seit Anfang 2017 gibt es den Service an Bahnhöfen in Berlin, Hamburg und Hannover. Bis Ende März 2018 sollen bundesweit weitere 240 Bahnhöfe dazukommen.

Mir war Müll immer relativ egal. Herumliegende Kaffeebecher bemerke ich kaum, abgerissene Plakate oder Sperrmüll stören mich nicht. Vielleicht habe ich den Müll akzeptiert. Vielleicht verbinde ich das verdreckte Image auch einfach mit Berlin. Ich war also nicht sehr begeistert, als mir meine Redaktion befahl, meine Unordnung zu überwinden und einen Tag lang Müllsheriff für die Deutsche Bahn zu spielen. Aber was, wenn es mir gut tut? Könnte ich dadurch meine Disziplin pushen, meinen Blick für den Abfall unserer Wegwerfgesellschaft schärfen? Das Experiment war mir die Sache wert.

Das Profilbild des Bahn-Dreck-verpetz-Services bei WhatsApp zeigt ein DB-Logo. "Uns können Sie die schmutzigsten Dinge anvertrauen", lautet die Statusmeldung. Was für "schmutzige Dinge" ich alles melden kann, steht da allerdings nicht. Ich interpretiere das frei und marschiere los.

Berlin Alexanderplatz: "Ein junger Reinigungsmann schleppt sich vorbei. An seinem Eimer steht: 'Ich liebe mein Leben.'"

Für mein Debüt wähle ich den Alexanderplatz. Berliner verbinden ihn mit Diebstählen, Gewalt und einem grottigen Weihnachtsmarkt. Als ich aus der S-Bahn steige, dauert es exakt 15 Sekunden, bis ich die erste Tat beobachte. Zwei Jugendliche sprinten die Treppen hoch und stürzen in die Bahn. Davor pfeffern sie noch etwas Weißes in die Seitenrille der Treppe. Als ich dem nachgehe, entdecke ich einen McDonald’s-Soßenbehälter und zerknülltes Papier. Angefeuert durch mein neues Pflichtgefühl, fotografiere ich beide Tatobjekte und sende sie mit dem Standort (Treppe zu Gleis 3, S-Bahn Alexanderplatz) und einer empörten Klage über die Jugend von heute an die Deutsche Bahn.

Mein erster Fall: Fast-Food-Reste von jugendlichen Tätern.

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Mein unbekannter Bahn-Kollege ist als "online" angezeigt, lässt mich aber zwei Minuten zappeln. Dann verschwindet der Status. Mein rechtes Auge zuckt. Ich fühle mich wie ein quengeliger Teenager, der gerade einen Korb von seinem Teenager-Schwarm kassiert hat. Zehn Sekunden später meldet sich die Bahn: "Danke für Ihre Nachricht. Wir kümmern uns um Ihr Anliegen." Ich fühle mich durch den Standardtext abgespeist.

Neun Minuten später schreibt die Bahn erneut: "Vielen Dank für Ihre Meldung und die Bilder! Keine Sorge, dafür sind wir ja da! :-)" Sie hätten die Kollegen informiert, ich könne nun die Sauberkeit des Bahnhofs mit Schulnoten bewerten. Obwohl ich noch beleidigt bin, gebe ich wegen des Smileys eine gnädige 2-.

Nicht nur ich bin zufrieden: "Wir bekommen durchgehend positives Feedback", sagt die Sprecherin der Bahn. Seit dem Start letztes Jahr seien mehrere tausend WhatsApp-Nachrichten in Berlin eingegangen. Vier Kollegen checken abwechselnd die Meldungen. Wen genau ich die nächsten Stunden vollspamme, konnte sie mir nicht sagen

Als ich weitergehe, strömt eine Gruppe plappernder Spanier aus einer S-Bahn. Während drei Frauen wild Richtung Anzeigetafel gestikulieren, setzen sich die Männer auf eine Bank. Neben ihnen entdecke ich zwei leere Bierflaschen und eine zerknüllte Schachtel Zigaretten. Bevor ich sie melden kann, schnappt mir ein Pfandsammler die Beute weg. Weitere Männer klappern die hinteren Gleisabschnitte nach Flaschen ab. In gewisser Weise sorgen wir alle für Ordnung, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Ich nicke dem Pfandsammler kollegial zu. Er guckt irritiert zurück und trottet weiter.

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Seit dem Start der Aktion sind mehrere tausend Nachrichten eingegangen

Weil wir gewissermaßen stumm unser Territorium eingeteilt haben, gehe ich runter zu den U-Bahnhöfen. Verglichen zu oben sieht es hier aus wie im Kinderzimmer eines pubertierenden Teenagers: Kaffeebecher, Verpackungen, sogar ein Schuhkarton erbricht sich aus einem Mülleimer. Auf dem Boden flattern Papierfetzen, auf den Imbisstischen im Gang liegen zerknüllte Servietten und Essensreste. Neben dem BVG-Kundencenter entdecke ich einen KFC-Eimer, benutzte Eisstiele und mehrere Zigarettenstummel. Da die U-Bahnhöfe eigentlich BVG-Gebiet sind, will ich nicht petzen. Aber ich werde schwach und schicke ein Foto.

Die Bahn antwortet, dass sie in diesem Bereich leider keine Befugnisse habe. Die BVG habe "ihren eigenen Reinigungszyklus". Wie zur Demonstration schleppt sich ein junger Reinigungsmann an mir vorbei, schwarzes Cap, orangefarbene Warnweste, ein Wagen mit Wischmopp und Allzweckreinigern. An einem Eimer klebt ein Sticker: "Ich liebe mein Leben."

Ostbahnhof: "An der Wand kleben die blassgelben Überreste einer ehemals vollen Blase."

Schnell erobert die Deutsche Bahn die Spitze meiner WhatsApp-Chats. Freunde beschweren sich, dass ich online sei, aber nicht antworte. Ich spare mir den Versuch, ihnen meine Mission zu erklären, und fahre weiter zu meinem nächsten Ziel: dem Ostbahnhof.

Die meisten Menschen besuchen den Ostbahnhof nur, wenn es nicht anders geht. Viele verbinden mit dem Bahnhof Betrunkene, die mit hängenden Schultern und leerem Blick durch die Gänge wandern, an Obdachlose vor der Bahnhofsmission oder verballerte Berghain-Gänger im McDonald’s.

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"Ich übergebe mich nur nicht, weil ich dann meine eigene Kotze melden müsste."

Als ich aussteige, bemerke ich zuerst den gelben, fleckigen Warnstreifen im Boden. Durch die Glaskuppel sieht der Himmel aus wie das trübe Wasser eines ungeputzten Aquariums. Es ist ordentlich, aber nicht sauber: kein herumliegender Müll, dafür über Jahre plattgetretene Kaugummis, Zigarettenstummel, Staub. Trotzdem wirkt es so, als ob der Dreck irgendwie zum Ostbahnhof gehört wie die Verspätung zur Deutschen Bahn. Ich verlasse das Gleis ohne Fortschritte.

Durch die weiteren Gänge verfolgt mich ein miefiger Geruch. Zwei jungen Frauen stehen vor den Bahnhofs-Schließfächern, mit einer Hand stopfen sie ihre Taschen ins Fach, die andere Hand halten sie sich vor die Nase. Der Grund für den Gestank ist eine vollgepisste Ecke, die wie eine Mischung aus Raststättenklo auf der A7 und Klamotten nach einer Woche Dauercampen riecht. An der Wand kleben die blassgelben Überreste einer ehemals vollen Blase, daneben sind braune Spritzer, die wie der Streuschuss einer vollgekackten Schrotflinte aussehen. Ich übergebe mich nur nicht, weil ich dann meine eigene Kotze melden müsste. Würgend schieße ich ein Foto.

Um mich zu beruhigen, gehe ich nach draußen. Während andere Zigaretten qualmen, melde ich ihre Zigarettenstummel. Weil ich keinen Ärger will, tue ich so, als würde ich tindern.

Berlin Hauptbahnhof: "Auf den polierten Mülleimern spiegelt sich der Umriss meines neuen, neurotischen Ichs."

Als letztes Station fahre ich zum Berliner Hauptbahnhof. Anzugträger und Kostümträgerinnen hetzen zu ihren Business-Meetings, chinesische Touristen schießen Selfies vor der Säule aus übergroßen Ritter-Sport-Tafeln. "Arm, aber sexy" ist Berlin hier nicht.

Im Erdgeschoss stehen alle paar Meter Mülleimer, die in drei Sprachen beschreiben, was man alles reinschmeißen darf: Restmüll, Papier, Verpackungen, Glas. Keine Zigaretten. Mein Finger schwebt über dem Handydisplay wie die Hand eines Cowboys über seinem Revolver. Und ich finde: nichts. Keine überquellenden Mülleimer, keine Burger-Schachteln, keine klebrigen Böden.

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Der Hauptbahnhof ist so steril-sauber, dass es fast unheimlich wirkt. Aber nur fast

Während ich mich fassungslos umschaue, bemerke ich, dass neben mir noch andere Menschen den Bahnhof nach Müll abscannen. Männer mit orangefarbenen Warnwesten und türkisfarbenen Handschuhen. Routiniert schieben sie silberne Container mit der Aufschrift "Mülltaxi" vor sich her. Und obwohl die Mülleimer noch halbleer sind, tauschen sie die Säcke aus. Ich fühle Konkurrenzdruck. Ich ziehe weiter und entdecke einen unbenutzten Tampon unter einer Bank, den ich sofort melde.

Angetrieben von diesem kleinen Erfolg kämpfe ich mich an Männern in Sportsakkos vorbei, Eltern mit Kinderwägen, Senioren. Viele sehen aus, als würden sie sich mit erhobenen Fäusten für Mülltrennung einsetzen. Dann wirft eine kostümtragende Frau ihre Cola-Pfandflasche in den Restmüll. Ich unterdrücke den Wunsch, sie statt der Flasche zu melden.

Im Obergeschoss strömt helles, sphärisches Licht durch die Glaskuppel. Der Boden ist so steril-sauber, dass es fast unheimlich wirkt. Der Hauptbahnhof ist eines von Berlins Vorzeigeprojekten. Jedes Jahr gibt die Bahn einen zweistelligen Millionenbetrag für saubere Bahnhöfe aus. Mit seinen Boutiquen und Drogerien ist der Berliner Hauptbahnhof aber mehr als ein einfacher Umsteigebahnhof – er ist auch ein Schauplatz. In Homeland hätten Terroristen hier beinahe einen Giftgas-Angriff durchgeführt. Als im Dezember letzten Jahres eine neue ICE-Strecke eröffnet wurde, feierten Angela Merkel und Nico Rosberg im Foyer. Und als die Deutsche Bahn im Januar einen neuen Reinigungsroboter testete, beschmierte ein Bahnmitarbeiter den Bahnhofsboden extra mit Ketchup und Mayo, weil er sonst zu sauber gewesen wäre.

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Ausgerechnet Taubenkot versaut mein perfektes Bild des Hauptbahnhofs

Ein Reinigungsmann schlendert an mir vorbei und fegt imaginären Staub. Während ich wieder zur Rolltreppe trotte, spiegelt sich auf der Oberfläche der polierten Mülleimer der Umriss meines neuen, neurotischen Ichs.

Auf der Rolltreppe befinde ich mich noch in zufriedener Trance, als mein perfektes Bild des Hauptbahnhofs Risse bekommt. Die halbe Rolltreppe ist voller Taubenkot! Neben mehreren Stufen ist auch die Metallleiste an der Seite beschmiert. Den Tatort adäquat zu fotografieren, ist schwierig. Weil die Rolltreppe fast höhnisch weiterfährt, sind die Bilder verwackelt. Es hilft nichts, ich muss den vorbeiziehenden Kot filmen. Die Bahn antwortet wenige Minuten später und versichert mir, dass die Beseitigung schnellstmöglich erfolgt.

Fazit:

Auch wenn ich morgen mit extra Karmapunkten aufwache, fühle ich mich insgesamt nicht wie ein besserer Mensch. Eher wie ein Spießer, der die Deutsche Bahn zugemüllt hat und seinen Handyspeicher an Fotos von vollgepissten Ecken verschwendet. Für die Deutsche Bahn ist ein klinisch-reines Gleis das Idealbild. Bisher schafft sie diese Atmosphäre aber nur an Bahnhöfen, die ohnehin schon sauber sind. Bei den anderen Bahnhöfen konnte ich auch als Müllsheriff nicht das Image polieren.

Übrigens war ich am nächsten Morgen nochmal beim Hauptbahnhof, diesmal nur als Passagier. An der Rolltreppe klebten noch die Überreste des gemeldeten Taubenkots, aber als Kot war er nicht mehr identifizierbar. "Dreck, den man nicht sieht, ist sauber", denke ich. Und wenn das auch die Deutsche Bahn denkt, brauche ich ja kein schlechtes Gewissen zu haben.

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