Obwohl Aarau in der Mitte zwischen Zürich, Bern und Basel liegt, kennt man als Schweizer Grossstädter das Nachtleben der Aare-Stadt maximal vom Hörensagen. Viel eher fahren die Aarauer in die drei Party-Hotspots. Wir haben es für einmal andersrum gemacht und wollten die Szene von innen erleben, um herauszufinden, wie es sich in der Stadt feiert, von der gesagt wird, sie hätte keine Disco.
Während wir uns vorgenommen haben, mit offenen Ohren und Augen eine Nacht im Aargauer Hauptort zu verbringen, werden mir schon in der zweiten Bar Vorurteile über Zürich entgegengeschleudert. In einer Ecke der schwach beleuchteten Kirchgasse versteckt sich eine alternative Bar namens Garage.
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“Du siehst aus wie eine Zürcherin”, bemerkt ein Gast dort. Er heisst Vali, kommt aus Afghanistan und lebt seit vier Jahren in Aarau. “Deine Kleider passen nicht hierher”, behauptet er. Und überhaupt sei Zürich nicht sein Ding. OK, fair, dann sprechen wir eben über Valis Lieblingsstadt. “Aarau ist klein, aber hier gibt es eine grosse kulturelle Vielfalt”, sagt er.
Vali erzählt weiter: “Hier ist es aber auch nicht immer einfach. Ich finde es schwer, Leute kennenzulernen und Freunde zu finden.” Aber liegt das an Aarau, oder ist das in der ganzen Schweiz so? “Es ist ein Problem der Schweiz”, findet er. “Die Grüppchen sind bereits geformt.”
Die Bar ist klein und eng, es läuft keine Musik, die Leute unterhalten sich leise. Die Grüppchendynamik, von der Vali spricht, spüren wir hier am eigenen Leib: Die Typen an der Bar drehen sich zu uns um. Einige junge Frauen verstummen und schauen neugierig in unsere Richtung. Langes, eindringliches Starren aus allen Richtungen – als wären wir Revolverhelden, die im Western in einen Saloon platzen. Ganz schön awkward, ganz schön Grossdorfstimmung. Wir stellen uns in eine Ecke und verhalten uns unauffällig. “Die Garage gibt sich als sehr tolerant und weltoffen. Bis du im Anzug auftauchst”, flüstert mein einheimischer Kumpel, Pipo, der uns – mich, den Fotografen Dominik Asche und Alex, die schon lange in Aarau lebt – heute Nacht durch die Stadt führt. Als Gastronom und Event-Veranstalter weiss Pipo genau, was in Aarau geht.
Wir bestellen alle ein kleines Bier. Der Barkeeper, Hayel, fragt, was wir hier machen, er habe uns noch nie gesehen. “Eine Reportage über das Aarauer Nachtleben”, antworten wir. Natürlich müssen wir dann noch sagen, dass wir aus Zürich kommen.
“Aarau ist cooler als Zürich”, antwortet Hayel. Er arbeitet seit zwei Jahren hinter der Bar in der Garage. “Zürich ist zu gross und zu aufgesetzt. Hier sind die Leute lockerer und offener.”
Endlich läuft Musik – und dann noch live! Ein rothaariger Sänger und Gitarrist übertönt mit seiner Mischung aus Blues, Country und Rock die Gespräche in der kleinen Bar. Nun kommt endlich Stimmung auf, die Leute drehen sich zu ihm um und klatschen begeistert.
Die Garage ist unser zweiter Eindruck der Stadt. Angefangen haben wir den Abend im Les Amis, einer schicken Bar an der Aare. Die Bar entspricht eher dem Vorurteil, das man gegenüber Zürich hat, als dem Bild einer Kleinstadt wie Aarau: schick und teuer. Einen freien Platz zu finden, ist gar nicht mal so einfach – die Tische müssen reserviert werden. Violettes Neonlicht und grosse Kerzen beleuchten das hohe Gewölbe der ehemaligen Brauerei, in Leder eingebundene Menüs liegen auf allen Tischen. Rindstartar, zahlreiche Sekt- und Weinsorten und sogar ein ansehnliches Zigarren-Sortiment schmücken die Seiten der schweren Bücher. Und natürlich läuft Michael Bublé.
Wir sind skeptisch. Bei Bier, Cola und Wein versuchen Pipo und Alex, uns Aarau schmackhaft zu machen: “Aarau ist viel weniger high class als Zürich”, lautet ihr erster Werbespruch für die Stadt. “Man kann sich anziehen, wie man will”, sagt Alex. Man könne auch alleine ausgehen – irgendwen treffe man immer.
Pipo kennt die Aarauer Nightlife-Szene wie wir Zürcher den Weg zur Langstrasse. Er erklärt, wie die Aare-Stadt zu ihren übertrieben vielen Bars gekommen ist: Früher sei die Kettenbrücke der einzige Club gewesen, wo man in Aarau fett abfeiern konnte. Als der grosse Club vor etwa fünf Jahren geschlossen wurde, machten dafür umso mehr Bars auf. Die Stadt hatte ihre Disco verloren, gewann aber an abwechslungsreichen Alternativen. Der Ruf “Aarau hät kei Disco” entstand nach der Schliessung der Kettenbrücke und wird noch heute in hiesigen Fussballstadien spöttisch skandiert.
Wo jetzt die Bar Les Amis ihren Gästen Privatsäle und Zigarren anbietet, stiegen während Kettenbrücke-Zeiten illegale Technopartys. Die Location hiess damals Klöb. Da sei man nur mit SMS an die Veranstalter reingekommen. Also liefen gleichzeitig zwei fette Partys: eine in der Kettenbrücke, eine im Klöb, nur ein Stockwerk tiefer. Wie konnte das funktionieren? “Der Besitzer der Kettenbrücke hat nie gecheckt, dass diese Partys gleich unterhalb seines Clubs stattfanden”, erzählt Pipo. OK, das ist schon ziemlich cool.
Genau in diesem Moment schlendert der ehemalige Besitzer der Kettenbrücke an unserem Tisch vorbei. Auf das Klöb angesprochen reagiert er verdutzt: “Nein, da waren bestimmt keine Partys. Bloss einige Studentenzusammenkünfte.” Wir lachen und Pipo versucht ihn zu überzeugen, dass es wirklich so war. Er schüttelt ungläubig den Kopf und nippt an seinem Rotwein.
Das Klöb und die Kettenbrücke haben ein Vakuum hinterlassen, dass hauptsächlich Bars geschlossen haben. Dass Aarau kei Disco hät, stimmt zwar nicht, aber für junge Tanzwütige bleibt nicht allzu viel Auswahl. Dazu kommen die strengen Öffnungszeiten: Die meisten Locations müssen um 2 Uhr schliessen, wer bis 4 Uhr aufbleiben will, muss zahlen. “Junge Leute gehen einfach nicht mehr so viel aus. Sie haben gecheckt, dass eine Cola im Bahnhofskiosk zwei Franken kostet und in der Bar fünf”, sagt Pipo. “Deshalb stützt man sich hier noch immer auf die etwas ältere Aarauer Stammkundschaft.”
Stammgäste seien in der Stadt nämlich das Indiz für Erfolg. Die Leute kennen einander und wissen genau, wo man hingeht und wo nicht. Dies sei ein Grund, weshalb sich die Locations kaum verändern. “Man will hier keine Neuheiten”, erklärt Pipo.
Doch die Szene hat noch eine andere Seite, auf der anderen Seite der Aare. Im sogenannten Entennest, einem Plätzchen an der Aare zwischen Schönenwerd und Aarau, steigen im Sommer oft illegale Goapartys. “Die Leute da sind echt verstrahlt. Nicht so mein Ding”, sagt Alex leicht hämisch und lacht.
Nach einer Stunde im Les Amis zieht es uns raus in die Aarauer Altstadt. Überall streunen lachende Grüppchen rum und versammeln sich vor dem Platzhirsch, der bestbesuchten Location der Stadt. Da läuft gerade die Talentshow “Platzhirsch sucht den Superstar”. Auf dem Weg zur Bar wird Pipo Dutzende Male von Türstehern, Gästen und Barkeepern aufgehalten. Alle kennen sich beim Namen und tauschen den heissesten Gossip der Kleinstadt aus. Trotz Kälte wirkt Aarau im Licht der Strassenlaternen und Schaufenster warm und gemütlich.
Im Platzhirsch angekommen checken wir schnell: Die Bar wird ihrem Namen gerecht. Es ist laut und überfüllt, wir quetschen uns an den umstehenden Gruppen vorbei zum einzigen freien Plätzchen in der Bar. Die Mittdreissiger-Crowd ist trinkfreudig, überall stehen Bier- und Prosecco-Gläser.
Leute in Glitzerperücken, Astronautenanzügen und Haifischmasken unterhalten sich laut. “Prost!”-Gebrüll, überschwappende Bierhumpen klirren beim Anstossen. Der Hotspot der Stadt wirkt wie eine kuschelige Alphütte: harte Holztische, weiche Schafspelze, ausgestopfte Hirschköpfe starren leer von den Wänden. “Der Platzhirsch gehörte schon immer zu den meistbesuchten Läden der Stadt”, meint Pipo. Nach einem schrecklichen Cover eines alten Jazz-Songs bahnen wir uns einen Weg durch die Menge, zurück in die kalte Nacht. Auf zur nächsten Location.
Unterwegs unterbrechen Altstadt-Bummler unser Gespräch. “Geht ins Jojo, da läuft eine HipHop-Party”, schlagen sie vor. Party? Ja, bitte! Aber erst gehen wir in die bekannteste Cocktail-Bar der Stadt, das Waldmeier.
Wir hören leise Swing-Musik, als wir die steile Wendeltreppe hochsteigen. Die Retro-Bar ist gut gefüllt, die Barkeeper tragen weisse Hemden, Hosenträger und Fliegen. “Die Drinks hier sind alle von Filmen inspiriert”, sagt Pipo, als wir uns an den Tresen stellen. “Martin”, ruft er über die Bar hinweg, “mach uns doch die schönsten drei Cocktails, die ihr habt!” Ein kurzes Nicken und schon fliegen die Shaker. Martin Garcia hat das Lokal vor vier Jahren eröffnet und arbeitet sowohl vor als auch und hinter der Bar. Dies sei für die Aarauer Gastronomie üblich. “Man will ja selbst sehen, wie die Leute so drauf sind”, erklärt Pipo.
Martin serviert uns die drei Instagram-reife Cocktails: “Das Parfumfläschchen ist vom Film American Beauty, das Getränk im mit Blut beträufelten Schnee ist von Fargo und die Schatztruhe mit Rum ist aus Fluch der Karibik. Zum Wohl!”
Zwei junge Frauen stöckeln an unserem Tisch vorbei. Eine davon, Maria, setzt sich kurz zu uns.
“Wieso ich hier feiern gehe? Weil Aarau Aarau ist”, sagt sie lachend. “Die Leute kennen dich hier. Es interessiert sie, wie es dir geht. Aarauer sind sehr warm und herzlich.” Maria sei schon zahlreiche Male umgezogen und habe auch eine Weile im Ausland gelebt. Dennoch sei sie immer zurückgekommen. “Ich hab mein Herz in Aarau verloren, mich bringst du von hier nicht weg.”
Uns zieht es allerdings ins nächste Etablissement. Auf dem Weg zum Club Boiler kommen wir an der Waage vorbei. Die Waage war vor ihrer Schliessung eine der letzten traditionellen Kneipen der Stadt. “Erich ist eine Ikone“, sagt Pipo über ihren früheren Besitzer. “Ein richtiger Punk.” Die Polizei habe gedroht, die Waage zu schliessen, weil so viele ihrer Gäste in der Stadt rumtorkelten und versuchten, sich an einer beleuchteten Wasserfontäne Zigaretten anzuzünden. Aber Erich habe dagegengehalten.
“Er sagte der Polizei, das wären alles seine Angestellten”, erzählt Pipo. “Er drückte seinen Stammgästen eine WC-Rolle und einen Locher in die Hand und setzte Arbeitsverträge auf, in denen sie als Konfetti-Produzenten deklariert wurden.” Während fast alle anderen Aarauer Bars um zwei Uhr schliessen müssen, konnten die Gäste bis zum Ende der Nacht in der Waage sitzen und jede Stunde mal ein paar WC-Rollen-Konfetti knipsen.
Bei uns gibt es zwar kein Konfetti, aber dafür Party. Der Boiler ist laut Pipo “der einzige Club, den man im Kern der Altstadt als Club bezeichnen kann”. Das niedrige Gewölbe ist mit vielen kleinen Discokugeln und Kronleuchtern geschmückt. Im Boiler finden wir alle 18-Jährigen, die wir bisher vermisst haben. Darunter Vivien und Muriel.
Die beiden 18-Jährigen wohnen in der Nähe von Aarau und sind heute das erste Mal im Boiler. “Wieso wir hier feiern? Das frag ich mich gerade auch”, lacht Vivien. Muriel fügt hinzu: “Bis jetzt gefällt es uns aber gut. Es ist halt sehr familiär.”
Die HipHop-Party ist on fire. Die Kids brüllen die Lyrics zu jedem Song mit und stützen sich mit Wodka-Red-Bull in der Hand am DJ-Pult ab, um nicht umzukippen. Es ist halb eins und die Stadt ist so richtig zum Leben erwacht.
Was bei uns ein After-Party-Dönerschuppen oder der Happy Beck ist, heisst in Aarau Bäckerei R. Schweizer. Die Bäckerei öffnet extra auch nachts und verkauft genau das, wonach sich ein mit Alkohol gefüllter Körper sehnt. Die Nachtflieger stehen jeweils eine halbe Stunde Schlange, um sich salziges Gebäck in den Mund zu drücken.
Die ruhigen Strassen der Altstadt haben sich innerhalb weniger Stunden in eine Partymeile verwandelt. Ein betrunkener Typ liegt flach auf dem Boden, während ihn seine Kumpels auslachen und anbrüllen. Warum machen Zürcher überhaupt so einen den Unterschied zwischen Aarau und der Grossstadt? Hier wie dort glitzern nach einer Night Out Scherben auf der Strasse, während Partygänger zufrieden nach Hause schwanken. Feels like home.
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