„Abtreibung war eine Schande“—die illegale Abtreibung meiner Oma

Im Jahr 1971 fasste meine Oma Anna den Entschluss, abzutreiben. Zu dieser Zeit waren Schwangerschaftsabbrüche in Österreich und Deutschland nur in ganz bestimmten Situationen erlaubt. Wenn die Schwangerschaft oder die Geburt das Leben der Mutter bedrohte, zum Beispiel. Ansonsten waren Abtreibungen gesellschaftlich geächtet und wurden strafrechtlich verfolgt.

Die Siebziger waren eine Zeit, in der Frauen nicht zugetraut wurde, eine so wichtige Entscheidung alleine zu treffen. Außerdem war es durchaus üblich, das potenzielle Leben eines Kindes höher zu werten als das einer schon lebendigen Frau. Aus Salzburg stammt das Sprichwort: „Weibersterben—Kein Verderben. Rossverrecken—Bauernschrecken.” Für die Kirche waren—beziehungsweise sind—Schwangerschaftsabbrüche Mord und widersprechen dem Sechsten Gebot: Du sollst nicht töten. Der österreichische Abtreibungsparagraph vor der Fristenlösung stammt ursprünglich noch aus der Zeit Maria Theresias und sah in manchen Fällen die Todesstrafe vor. Im Nationalsozialismus gab es einen Spagat zwischen Abtreibungsverbot für vor allem deutsche Frauen und Zwangsabtreibungen. Neben der Ideologie und Moral war sowohl für Maria Theresia als auch im Dritten Reich eine möglichst hohe Geburtenrate wichtig für die Armee.

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Heute ist das Recht auf Abtreibung in Österreich, Deutschland und der Schweiz vor allem für junge Frauen längst selbstverständlich. Dabei kämpfen Frauen in Polen beispielsweise noch gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze. Auch in den USA gibt es immer wieder Diskussionen. Zuletzt forderte US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump Strafen für Frauen, die abtreiben—nur um die Aussage kurze Zeit später wieder zurückzunehmen. In Wien findet jedes Jahr der Marsch für die Familie mit Slogans wie „Abtreibung ist Mord” statt und der Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen ist selbst in Österreich keine Selbstverständlichkeit. Im Vergleich zu früher können wir uns aber dennoch glücklich schätzen.

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Anna hatte zum damaligen Zeitpunkt schon zwei Kinder, eines sechs, eines fünf Jahre alt. Das jüngere Kind ist meine Mutter. „Wir hatten einen Lebensplan. Die Wohnung war schon ein wenig eng”, erklärt Anna. Wahrscheinlich hätte man es trotzdem hinbekommen, aber: Sie wollte das Kind einfach nicht. Die 3000 Schilling (ungefähr 218 Euro) für eine Abtreibung waren zwar ein kleines Vermögen für die Familie, aber immer noch billiger als ein weiteres Kind großzuziehen. Ihr Gynäkologe, der die Schwangerschaft feststellte, wenig verständnisvoll, als Anna ihm gestand, dass sie das Kind nicht haben wollte: „Jetzt haben’S zwei, dann haben’S halt noch eins!”

Bis in die 60er Jahre wurden Schwangerschaftstests mit Hilfe von südafrikanischen Krallenfröschen durchgeführt. Dabei wurde ein wenig Harn der Betroffenen in den Lymphsack des Frosches gespritzt. Lag eine Schwangerschaft vor, so produzierten die männlichen Frösche nach einigen Stunden Spermien und die weiblichen legten Eier. Anfangs konnten Frauen den Test in Apotheken machen lassen und dort auch ihr Ergebnis abholen. Zumindest so lange, bis die Ärztekammer und andere Institutionen Druck machten, wie Christian Fiala, Gründer des Wiener Museums für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, erzählt. Es sei nicht angebracht gewesen, dass Frauen selbstständig die Möglichkeit eines Schwangerschaftstestes hätten. Vielmehr mussten Frauen zum Arzt gehen und persönlich nach dem Ergebnis des Tests fragen.

Das revolutionäre Schwangerschaftstestmittel Duogynon kam Anfang der 70er Jahre auf den Markt. Duogynon war eine Tablette, die innerhalb von ein paar Tagen die Regelblutung auslöste, wenn keine Schwangerschaft vorlag. Doch auch diese war verschreibungspflichtig. „Erst mit den modernen Tests, die Frauen selbst machen konnten und die dann auch im Drogeriemarkt verkauft wurden, haben Frauen die Selbstbestimmung erlangt”, sagt Fiala gegenüber Broadly.

Das ist Anna heute. Foto von der Autorin

„Ich weiß nicht mehr, wie wir den Arzt gefunden haben.”, erzählt Anna. Seinen Namen erfuhr sie jedenfalls nie. Es war reines Glück, dass sie an jemanden mit medizinischer Ausbildung geriet. Anna weiß bis heute nicht, welche Methode der Arzt verwendet hat: „Gefragt habe ich nicht und er hat nicht gesagt, was er macht”. Durch die Narkose bekam sie den Eingriff nicht mit und wachte nur leicht blutend auf. Heutzutage müssen Frauen vor einem Schwangerschaftsabbruch darüber aufgeklärt werden, was bei der Prozedur passiert. Anna hingegen war ahnungslos bei einem fremden Mann auf sich allein gestellt—und hat sich aufgrund der ohnehin schon schwierigen Situation nicht getraut, zu fragen.

Die Enkeltochter einer Wiener Engelmacherin—so wurden früher Menschen genannt, die illegal Schwangerschaftabbrüche vornahmen—berichtet von zwei Methoden, die ihre Großmutter für die Schwangerschaftsabbrüche verwendete. Als „sanfte”, dafür langwierigere Methode zweckentfremdete sie einen Darmkatheter und führte ihn zum Muttermund. Die vom Katheter aufgesogene Luft öffnete die Fruchtblase, was einige Tage dauern konnte. Für eine sofortige Beendung der Schwangerschaft zog sie die Gebärmutter mit einer Zange vor, öffnete sie mit sogenannten Küretten und kratze die Gebärmutter aus. Heutzutage werden chirurgische Schwangerschaftsabbrüche üblicherweise mit einer Saugcourettage durchgeführt. Dabei entfernt die Saugcurette das Gewebe aus der Gebärmutterhöhle. In den ersten Wochen ist auch ein Abbruch durch Medikamente möglich.

Schlimme Schmerzen habe ich nicht gehabt, aber mir ist es schlecht gegangen. Psychisch.

Durch den Mangel an legalen Schwangerschaftsabbrüchen sahen sich damals viele Frauen dazu gezwungen, selbst abzutreiben. Sie haben beispielsweise mit einer glühend-heißen Stricknadel die Fruchtblase selbst zum Platzen gebracht. Manche versuchten, mit extrem heißen Bädern oder bestimmten Kräutertees der Schwangerschaft entgegen zu wirken. Die Enkelin der Engelmacherin erzählt außerdem von einer Frau, die sich aus dem Fenster gestürzt hatte, um nicht mehr schwanger zu sein. Dabei brach sie sich beide Fußknöchel, die Schwangerschaft aber blieb.

„Schlimme Schmerzen habe ich nicht gehabt, aber mir ist es schlecht gegangen. Psychisch.” Anna hat ihre Entscheidung alleine getroffen. Das war hart für sie, wie sie mir erzählt. Freundinnen hatte sie keine, mit ihrer Mutter konnte sie auch nicht reden. Und ihr Ehemann hätte insgeheim schon gerne ein drittes Kind gehabt, auch wenn er nicht versuchte, sie umzustimmen. Nach dem Abbruch meldete sich Anna für drei Tage in der Fabrik, in der sie damals halbtags arbeitete, krank. Ihr Mann unterstützte sie in diesen Momenten nicht. „Das waren ganz andere Zeiten”, sagt sie heute fast entschuldigend.

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In Österreich, Deutschland und der Schweiz gilt heute die Fristenregelung, die besagt, dass ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten zwölf Wochen ab der Empfängnis—oder im Falle der Schweiz ab der letzten Periode—straffrei bleibt, sofern eine Beratung durchgeführt wurde. In besonderen medizinischen Fällen kann auch nach der Frist abgetrieben werden. Vor der Fristenregelung war in allen drei Ländern nur die medizinische Indikation anerkannt. Straffrei war der Abbruch also nur, wenn eine große Gefahr von gesundheitlichen Schäden für die Schwangeren bestand.

Nach dem zweiten Weltkrieg verwässerte sich die Definition der medizinischen Indikation, nachdem in den Besatzungsgebieten massenhaft Frauen vergewaltigt wurden. Überhaupt lag die Interpretation der Größe der Gefahr beim behandelnden Arzt. In der Schweiz ist die Fristenlösung zwar erst seit dem Jahr 2002 im Gesetz verankert, faktisch war es allerdings für viele Frauen auch davor möglich, das Gutachten für einen legalen Abbruch zu bekommen, da der Gesundheitsbegriff oft sehr liberal ausgelegt wurde.

In Österreich erkämpften Frauenrechtlerinnen und die SPÖ-Frauen die Fristenlösung entgegen den starken Widerstand der ÖVP, der Kirche und Teilen der eigenen Partei. Sie strebten eigentlich eine vollständige Streichung des Abtreibungsparagraphen (damals §144), also vollständige Straffreiheit an, brachten dies aber nicht durch. Das Gesetz zur Fristenlösung ist seit 1975 in Kraft.

Jede Frau muss das für sich selbst entscheiden.

Deutschland folgte 1976 mit einem Gesetz, das eine Indikationsregelung vorsieht, tatsächlich aber die Fristenregelung beinhaltet. Die SPD und FDP setzten sich für die Fristenregelung ein und der Bundestag entschied 1974 mit einer knappen Mehrheit von 14 Stimmen dafür. Nachdem die CDU/CSU Klage einreichte, wurde sie aber für vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt.

Der österreichische Abtreibungsparagraph §144 sah vor der Reform schwere Strafen vor. Für eine versuchte Abtreibung konnte eine „Frauensperson” bis zu einem Jahr eingesperrt werden. Bei einem erfolgreichen Schwangerschaftsabbruch sogar bis zu fünf Jahren. Susanne Riegler, Autorin und Regisseurin der Dokumentation Der lange Arm der Kaiserin, habe ich gefragt, was Anna passiert wäre, hätte sie jemand verraten. „Die Rechtsprechung war in den 70ern schon relativ milde. Es gab wenige Verurteilungen, die alle bedingt ausgesprochen wurden.” Gefängnisstrafen gab es praktisch gar nicht. Die Beweislage vor Gericht war immer schwierig. Am häufigsten hätten Zeugenaussagen der Männer zu einer Verurteilung geführt.

Hätte Annas Mann sie also verraten, wäre sie wahrscheinlich vorbestraft worden. Dass sie schon zwei Kinder hatte, hätte sich wohl mildernd ausgewirkt. „Man darf das trotzdem nicht unterschätzen”, meint Riegler, „Abtreibung war eine Schande und immer gesellschaftlich sanktioniert.”

Ich bin stolz auf meine Oma. Weil sie sich damals schon ihr Recht herausgenommen hat, über ihren eigenen Körper zu verfügen. Weil sie die Abtreibung ohne Unterstützung durchgestanden hat. Und nicht zuletzt, weil sie heute offen darüber redet, obwohl Abtreibung noch immer ein tabuisiertes Thema ist. Sie schämt sich aber nicht. „Jede Frau muss das für sich selbst entscheiden”, ist sie überzeugt.