Die Suche nach der Drogenkultur der DDR und der Nachwendezeit hat mich ausgerecht neben die wohl ironischsten Bauruine des Westberliner Bezirks Wedding geführt. Hier, beim Rathaus, befindet sich in einem roten Backsteingebäude hinter großen Glasfenster die Galerie Wedding. In dieser findet auf einen Samstag und im Rahmen der Ausstellung „Aufbau Ost” von Henrike Naumann die Veranstaltung „Acid Einheit” statt. Ausblicke auf „Extreme Jugendkulturen der Neunziger” wurden mir versprochen.
Als ich mir um kurz vor halb vier meinen Weg vom Leopoldplatz durch das samstägliche Getümmel der Müllerstraße bahne, wirkt die Galerie, mit der vor der Tür rauchenden Mitte-Boheme fast ein wenig fehlplatziert. Ist die Müllerstraße doch einerseits fest in der Hand der shoppenden Familien und der Rathaus Vorplatz, soweit er wegen o.g. Baustelle zugänglich ist, andererseits von einem zu dieser Uhrzeit mindestens schon angetrunken Publikum bevölkert. Von innen strahlt die Galerie im Charme circa jedes Kinderzimmers, in dem ich mich in den 90ern aufgehalten habe. Hässliche Neon-Farben in geometrischen Muster, früher Ikea Style. Was natürlich alles Teil der von Henrike Neumann inszenierten „post-otherness” ist.
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Ob dieser Begriff überhaupt Sinn macht, frage ich mich kurz, erinnere mich dann aber, dass ich beschlossenen hatte mich nicht mehr über den Poststrukturalistischen Sprachwahnsinn aufzuregen. Sollen sie doch ihren Spaß mit Wörtern haben. Im folgenden Panel Drogen und die Wiedervereinigung unterhalten sich Christian Gesellmann, Lysann Buschbeck und Olaf Held auch erfreulicherweise deutlich unaufgeregter und anekdotischer über ihre Erfahrungen mit diesem doch recht aufgeladenen Thema.
Die Party geht los, die Polizei schaut weg
Schon bei der Eröffnung und Vorstellung der Teilnehmer durch den ehemaligen Sachsen und Journalisten Christian Gesellmann werde ich erstmals überrascht: Drogen hätte es vor der Wende in der DDR kaum gegeben, sagt Gesellmann.
Ernsthaft? Gar keine?
In der folgenden Unterhaltung zwischen ihm und dem Regisseur Olaf Held wird diese Aussage dann doch noch ein wenig relativiert. Gesoffen hätte man, viel Schnaps. Ich hatte vorher irgendwas von einem fast doppelten Pro-Kopf-Konsum im Vergleich zur BRD gelesen, gerne auch in Kombination mit Faustan, einem damals frei erhältlichen Beruhigungsmittel. Darüber hinaus kannte Held auch Gruftis, die Reinigungsmittel geschnüffelt hätten. Welches wisse er allerdings nicht. Hauptsächlich hätte aber Ahnungslosigkeit geherrscht, jenseits der über westliche Popkultur wahrgenommen lyrischen Überhöhung des Konsums im Osten.
So wäre Held einmal mit einem Freund in Ungarn unterwegs gewesen, nachdem sie gehört hatten, dass dort Cannabis am Straßenrand wachsen würde. Ohne eine Vorstellung davon, wie diese mystische Pflanze denn aussehen würde, rauchten sie dann einfach alles, was sie am Straßenrand fanden, ohne großen Rauscherfolg allerdings.
Die ersten wirkliche Kontakte zu härterem Stoff habe der Filmemacher dann über Freunde, die Westberlin wohnten, geknüpft. Die wirkliche Beschleunigung des Konsums sei aber erst durch die Wende gekommen: „Wir hatten das Gefühl wir mussten alle [Drogen-]Szenen erstmal nachholen—aber zusammen!” Für eine kurze Zeit herrschte eine Quasi-Anarchie. Der massenhafte Leerstand von Immobilien erlaubte ihnen, ständig wechselnde Ort zum feierlichen und berauschten Zusammenkommen zu finden. Die vom Wechsel des politischen Systems überforderten Ex-Vopos, die jetzt Teil der gesamtdeutschen Polizei waren, hätten nie darauf regiert—ob das Haus jetzt nicht doch wieder irgendein Wessi gekauft habe, um da Diskothek zu machen? Der Durchgriff der Staatsmacht kehrte in Sachsen zumindest erst wieder mit der Übernahme des Bayrischen Polizeigesetzes 1993 ein. In dem knapp dreijährigen Fenster dazwischen hingegen ging, laut Held, so einiges. Auch danach wären Probleme für Clubs und die in ihnen beherbergten Feier- und Rauschwütigen eher aufgrund neuer Bauverordnung entstanden, denn aufgrund groß angelegter Drogenrazzien. Präventionskampagnen und hartes polizeiliches Vorgehen kamen erst später, in den 90ern auf.
Derweil stellt sich bei mir als Zuhörer bereits die erste körperliche Erinnerung an die 90er ein: Die extrem ungemütliche IKEA-Katalog Bestuhlung, auf der Platz zu nehmen war, führt zu leichten Anflügen eines Krampfes im rechten Oberschenkel.
Für die Jugendlichen war die Zeit ein Abenteuer
Von nun an rutsche ich alle fünf Minuten in eine andere, gleich unbequeme Position. Währenddessen erzählt die zweite Diskussionsteilnehmerin, die Fotografin Lysann Buschbeck, über eine Gruppe von Dresdener Jugendlichen, die Sie vom Ende der 90er bis Mitte der 00er fotografisch begleitete. Diese Jugendlichen befanden sich auf der—im Vergleich zur Club und Feierszene—weniger glanzvollen Seite der sozialen Umwälzungen, welche die Wiedervereinigung im Osten mit sich brachte. Familiäre Strukturen, die am Verlust der Jobs zerbrachen, und Kinder, die sich im Gesellschaftsumbruch unbeobachtet am Reiz Kriminalität ausprobieren können.
Die hätten ein wirklich abenteuerliches Leben gelebt, erzählt Buschbeck. Vom Pferde stehlen an der Elbe, bis hin zu wöchentlich wechselnden leerstehenden Wohnungen, in denen sie rumhängen und Zeug konsumieren konnten. Episodenweise zeigen auch Kontakte der Jugendlichen zur Nazi Szene, wie der ideologische Nährboden in Sachsen in den 90ern aussah. So berichtete ihr einer der Jugendlichen: „Wir sind als Kiffer in die WG gegangen, dann alle rechtsradikal geworden, aber als Kiffer wieder raus [gekommen].” Beschleunigt hat sich die Drogenkarriere dann allerdings in staatlichen Betreuungsverhältnissen. Vom Kiffen und Saufen hin zum den Eigenkonsum finanzierenden Chrystal-Meth-Ameisenhandel, also Chrystal zu billigen Kursen auf tschechischen Vietnamesenmärkten kaufen, zu Fuß über die Grenze zurück und möglichst weit westlich wieder verkaufen. Der harte Stoff fungierte hier auch als Abgrenzung zu vorherigen Generation, denn Saufen würden nur die Asis, sie selber würden ja alles Ayndere nehmen. Ein Befund der beim Blick auf Distinktionsrituale so mancher heutiger drogenaffiner Subkulturen sicherlich auch heute noch seine Wahrheit hat.
Ich schaue aus dem Fenster der Galerie auf die immer noch das Wetter genießenden Alkis vor dem Rathaus und denke, dass das doch mal ein Thema für dieses „Othering” wäre. Macht aber wieder niemand.
Romantisierung einer-, Perspektivlosigkeit andererseits
Aus den auf Abenteuer erpichten Kids, wurden gelangweilte Dealer, fährt Buschbeck fort, die den ganzen Tag zu Hause rumhängen und auf Kundschaft warten. Was eigentlich damals wie heute die spezielle Faszination von Chrystal in einem Milieu ausmacht, welches weniger aufs 24/7-Funktionieren als beispielsweise Bundestagspolitiker aus ist, bleibt der Spekulation überlassen. Das schlimmste was man sich in Zwickau, Plauen oder sonst wo vorstellen könne, so Gesellmann, sei es doch, die ganze Zeit wach zu bleiben. Mein Herz geht auf. Endlich, das Ossi-Bashing, auf das ich gewartet habe. Kann ich jetzt sogar zitieren und hinterher sagen: War ja selbst ein Ossi, der das gesagt hat.
In der inzwischen fürs Publikum geöffneten Diskussion geht es immer wieder um die Rolle der Familie und die Belastungen, die diese Bindungen in Ostdeutschland nach der Wende erfuhren. Dabei wird ein Unterschied in den Geschichten von Held und den von Buschbeck begleitenden Jugendlichen deutlich. Die Generation von Held, die während der Wende bereits alt genug war, die Chancen zu ergreifen, die Leerstand und ein gewisser Mangel an der Durchsetzung staatlicher Regeln und Vorschriften boten, hatte ein Experimentierfeld zur Verfügung, das sie weitestgehend ergriff. Bis heute sorgen die daraus entstandenen Erzählungen für eine innige Romantisierung der wilden, frühen 90er, insbesondere in Berlin, in denen alles ging und möglich war. Gleichzeitig legten jenen Jahre und die in ihnen aufkommenden Umwälzungen eben auch den Grundstein für eine gänzlich andere, traurigere Erfahrung der nachfolgenden Generation Ost, die mitunter zwischen ökonomischer und kultureller Perspektivlosigkeit, zerrütteten Familien und einem Überangebot an Chrystal ihr Auskommen suchen musste.
In Mittweida wurde vor einigen Jahren dieser Aufklärungsfilm gedreht—mit der Tonspur aus „Christiane F.”
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