Die Lieblingsdichterin des Internets: Patricia Lockwood kann mehr als Sexwitze
Porträt von Ethan Guice

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THE LOOKING GLASS ISSUE

Die Lieblingsdichterin des Internets: Patricia Lockwood kann mehr als Sexwitze

Ein virales Gedicht über ihre Vergewaltigung machte sie berühmt. In ihrem neuen Buch erzählt sie von ihrem Leben als Tochter eines Priesters.

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Zwischen den verfallenen Grabsteinen und knorrigen Eichen des Bonaventure Cemetery in Savannah, Georgia, sitzt die Dichterin Patricia Lockwood. Ihre schlaksigen Glieder hat sie vorsichtig auf der Picknickdecke arrangiert, um nicht die Flasche Pfefferminzschnaps umzustoßen, die sie zu unserem Lunch mit-gebracht hat. Es ist ein milder Februartag an der Südstaatenküste und sie trägt Hüftjeans, einen Pulli, der ab und zu ihren Bauch hervorblitzen lässt, und eine Choker-Kette. "Ich weiß nie, wie ich mich für Interviews anziehen soll", sagt sie. "Ich kriege eine Art Outfit-Störung und denke: ‚Ich kann meinen Bauch zeigen, ich bin Tara Reid, es ist 2006, alles ist möglich!'" Ihre dunklen Wimpern scheinen von ihren Bambi-Augen zu tropfen. Ihr Lachen ist ein schallendes Gackern, wo man ein schulmädchenhaftes Kichern erwartet. Mit ihrem sommersprossigen Porzellanteint und ihrem Rosenknospenmund wirkt sie wie ein Wesen aus den Werken von Hans Christian Andersen. Sie ist eine versierte Dichterin, die Geopolitik mit dre­ckigen Witzen verbinden kann, doch ihre Zeichentrickschönheit lenkt mich davon ab.

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Ich mache nur Witze. Die 34-Jährige hat bereits zwei Gedichtbände veröffentlicht, doch bis ich sie in ihrer Wohnung im Zentrum Savannahs abhole, hat sie ausschließlich mit "Typen" persönliche Interviews gehabt. Das hat eine Reihe alberner Beschreibungen ihres Gesichts nach sich gezogen. Jesse Lichtenstein schrieb etwa 2014 in einem Porträt für das New York Times Magazine, Lockwood gleiche mit ihren "großen Augen, Apfelbäckchen und dem Pixie-Schnitt einer frühen Disney-Erfindung, vielleicht einem Geschöpf des Waldes". Lockwood schlägt vor, ich könne doch auch "was Bescheuertes ablassen", nur so zum Spaß. Sie sagt, Männer "schreiben über dich, als wärst du eine Obstschale oder so was. Ich finde, wenn sie mich schon mit einem Tier vergleichen müssen, dann wäre ein Opossum wohl das treffendste. Und ich meine nicht mal die putzigen aus dem Wald." Auf dem Bild zu dem Artikel im New York Times Magazine sehe sie aus "wie ein Milchmädchen, das versucht, die Sonne zu vapen".

Die Vorurteile hören aber nicht bei Lockwoods Aussehen auf. Weil sie ein ironisches Bewusstsein für Literatur, Geschichte und Religion mit sexy Internetsprache kombiniert, wird sie gern auf gewisse absurd-erotische Gedichttitel reduziert: "The Whole World Gets Together and Gangbangs a Deer", "Search ,Lizard Vagina' and You Shall Find", "The Father and Mother of American Tit-Pics" (in Letzterem geht es um Walt Whitman und Emily Dickinson). Für den New Yorker ist sie "massentauglich" (nie gut), die "Nationaldichterin von Twitter" und "ein Musterbeispiel brillanter Albernheit"; das New York Times Magazine nannte sie "Königin der Schmuddel-Metaphern". Neben ihrem beliebten Twitter-Account ist es ihr 1.200 Wörter langes autobiografisches Gedicht "Rape Joke", das sie bekannt gemacht hat. Lockwood erstaunte nicht nur damit, dass sie überhaupt ein Gedicht viral gehen ließ, sondern auch durch den bissigen Humor, mit dem sie ein derart unlustiges Thema behandelte.

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Lockwood sagt, meist heiße es, ihre Arbeit handle von "Sex, Gender und Metamorphosen", was "wahrscheinlich zutrifft", aber "auf dem Sex-­Anteil reiten sie wirklich herum". In dem Band Motherland Fatherland Homelandsexuals, der auch "Rape Joke" enthält, geht es tatsächlich um diese Themen. Doch Lockwood lässt ihre Figuren auch fast psychedelische Verwandlungen durchlaufen und liefert düstere Kommentare zu so diversen Themen wie Kindheit und Pubertät, Natur, Umweltzerstörung, Elternschaft, Krieg, Schreiben und Poesie. Wer denkt, in ihren Texten ginge es um Sex, lässt sich zu sehr von Slang-Bezeichnungen für Erektionen ablenken. Lockwood nutzt die Sprache des Sex, um über alle anderen Aspekte ihrer Welt zu sprechen.

Ihr im Mai erscheinender Memoirenband Priestdaddy zeigt noch deutlicher, wie sich diese poetischen Inhalte zueinander verhalten. Doch Lockwoods Leben ist inzwischen von einer dichten Mythologie umrankt, die das neue Buch nicht unbedingt zerstreuen wird. Sie hat nicht studiert und dafür die meiste Zeit ihres Lebens, wie es bei Lichtenstein heißt, "in Proust'scher Attitüde jeden Tag stundenlang an ihrem ‚Bett-Schreibtisch' geschrieben". Die Leser liebten dieses Detail: Endlich eine richtige Autorin, die richtig schrieb! Lockwood bestätigt, dass es den "Bett-Schreibtisch" noch gibt. Als ich die Behauptung nebulöser Autoritäten zitiere, man solle nicht im Bett arbeiten, reagiert sie mit aufgesetzt wütenden Ausrufen, die typisch Lockwood sind: "Scheiß' auf die! Die erzählen alles Mögliche. Sie sagen auch, man soll die ADVERBIEN streichen! Das ist BULLSHIT!"

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In Priestdaddy geht es vordergründig um Lockwoods Jugend mit einem Vater, der es dank einer Gesetzeslücke geschafft hat, trotz Ehefrau und fünf Kindern katholischer Priester zu werden. Daneben arbeitet das Buch noch eine ganze Reihe biografischer Ereignisse ab, von denen jedes ein eigenes Buch verdient hätte. In einer Szene, die für mich den dramatischen Höhepunkt darstellt, entdeckt sie, dass es in ihrer ehemaligen Heimatstadt ein Atommüllendlager gibt. Die Erzählung springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit, eingerahmt von den neun Monaten, die Lockwood vor Kurzem mit ihrem Mann Jason Kendall im Pfarrhaus ihrer Eltern in Kansas City verbracht hat. Kendall sah Lockwood als Genie und unterstützte sie gern finanziell, doch als er aufgrund einer Augen-OP nicht arbeiten konnte, verließen die beiden ihr geliebtes Savannah und zogen ins ländliche Herz der USA. "Wir haben kein Geld und sind erschöpft", schreibt sie über ihre Rückkehr ins Elternhaus. "Wir folgen einer langen Tradition und verlassen uns auf die Gnade der Kirche, die für mich auf dieser Welt nur in besonders patriarchaler Form existiert. Sie läuft herum, flucht und nennt mich Bit. Sie shreddet gerade oben auf einer Gitarre, direkt neben dem Zimmer, in dem wir jetzt eine Weile schlafen werden."

Dieser Rahmen hilft Lockwood, zwischen Kindheitsanekdoten und ihren Gedanken zu Glauben, Feminismus, Geld und circa zwölf anderen Themen hin- und herzuwechseln. Ihre Familie zog oft um: In Fort Wayne, Indiana, geboren, verbrachte sie den Großteil ihrer Kindheit und Jugend abwechselnd in Cincinnati und St. Louis – hauptsächlich weil ihr Vater "ein Verrückter war, der sich ständig mit Bischöfen anlegte". Sie wurde als Kind auf Anti-Abtreibungsdemos geschleppt, war Mitglied einer Jugendgruppe namens God's Gang, begleitete ihren Vater auf seinen Jagdausflügen und hing mit Nonnen und Bedürftigen ab. Mit 16, schreibt sie, unternahm sie einen Selbstmordversuch und fiel vom Glauben ab. Als Atheistin sieht sie sich trotzdem nicht. "Der Glaube", sagt sie mir, "ist verflochten mit meiner DNA, meiner Art zu denken, meiner Bilderwelt." Mit 18 bot man ihr einen Studienplatz am St. John's College in Maryland an. Zwei Wochen vor ihrer geplanten Abreise rief ihr Vater sie jedoch in sein Arbeitszimmer. Während "die pompöse, empörte Stimme von Rush Limbaugh aus dem Radio und die betrunkene Koboldstimme von Bill O'Reilly aus dem Fernseher dröhnten", sagte er ihr, die Familie könne es sich nicht leisten. Wenig später kaufte ihr Vater sich eine Gitarre, die für Paul McCartney angefertigt worden war. "Später", schreibt sie, "zog ich eine kühle, literarische Freude aus der Vorstellung, dass mir die höhere Bildung von einem nichts ahnenden Beatle gestohlen worden war." Der gemeinsame Sinn für Humor – "extrem absurd und immer auf der Kippe zu Hysterie oder Wahn" – sei für Lockwood und ihre Geschwister eine Art Überlebensstrategie gewesen, sagt sie.

Dieser Humor mag Lockwoods andere Talente gelegentlich überschatten, doch sie triumphiert damit über das, was sie "das Unaussprechliche" nennt. Wie die Lockwood-Mythologie im Allgemeinen kommt auch Priestdaddy immer wieder auf ihren Aschenputtelaufstieg zurück. Enttäuscht darüber, nicht studieren zu dürfen, wandte sie sich der Dichtergemeinde im Internet zu – und postete zunächst vor allem "Gedichte über Meerjungfrauen, die ihre Jungfräulichkeit an Jesus verlieren (Metapher)". Sie traf Kendall mit 19 in einem dieser Foren, wenig später machte er ihr einen Antrag, und sie zogen gemeinsam durchs Land. Er arbeitete für Zeitungen und sie arbeitete in Restaurants und Buchläden, wenn es absolut nötig war. Ihr war klar, dass ihr ohne Uniabschluss auch in Zukunft wenig anderes übrig bleiben würde. "Die Leute reden, als wäre ‚Studentenarmut' keine richtige Armut, weil sie vorübergehend ist", sagt sie. "Aber was, wenn du nicht weißt, dass du da wieder rauskommst?"

Erst jetzt scheint klar, dass Lockwood sich da keine Sorgen machen muss. Sie und Kendall sind letztes Jahr nach Savannah zurückgezogen, und Priestdaddy übertrifft alle Erwartungen. Der Erfolg bringt auch unangenehme Aspekte mit sich – platte Kritiken, unzutreffende Vergleiche mit Disney-Geschöpfen – doch diese helfen ihr, noch mehr von ihrer "gestörten Energie" in ihre Arbeit zu stecken. Lockwood hat schon so viel im Kopf, dass Gedanken über ihr Image keinen Platz haben: "Ich finde nicht, dass das überhaupt was mit mir zu tun hat."

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