Wie "Raven gegen Deutschland" viele Linke zu Electro brachte

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Wie "Raven gegen Deutschland" viele Linke zu Electro brachte

Vor zehn Jahren veröffentlichten Egotronic einen Song, der die Sicht auf Party und Electro innerhalb der antideutschen Szene verändern sollte.

Egotronic live im Club Amp in Münster anno 2008. Foto von Felix Wirtz/Bierschinken.net , bearbeitet

Dieser Text erscheint als Teil unseres internationalen Spezials "Dancing VS the State". Dafür blickt THUMP eine Woche lang in den USA, UK und Deutschland darauf, wie Staaten versuchen, elektronische Musik zu beschneiden und zu regulieren, und wie sich die Szene politisch positioniert.

"Raven gegen Deutschland" war für mich der Auslöser, sich mit politischen Themen auseinanderzusetzen. Wenn ich ehrlich bin: Beim ersten Hören dachte ich noch, "Raven" sei ein Name – aber mein Gott, ich war 13! Hätte ja auch Sinn ergeben: Eine Person namens "Raven" ist gegen Deutschland. Naja, so ganz war das der Sinn des Lieds dann doch nicht.

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Damals, 2013, war das Lied von Egotronic schon über sechs Jahre alt. Seine Wirkung hält aber bis heute an. Den Text zu "Raven gegen Deutschland" hatte Egotronic-Kopf Torsun bereits im Vorjahr verfasst. Laut seiner Autobiographie Raven wegen Deutschland (sic) verlief der Entstehungsprozess zusammengefasst so:

2006 gab es in diesem Land vermehrt Angriffe von Nazis auf Linke und "ausländisch" aussehende Personen. Zu einer Tanzdemonstration, die sich gegen diese Naziangriffe richtete, nahmen Torsun und einige Freunde mit einem eigenen Laster teil. Neben Transparenten hatten sie auch ein paar Pappschilder dabei. Auf denen stand, in Anlehnung an die legendären Slime-Zeilen "Deutschland muss sterben, damit wir leben können": "Deutschland muss sterben, damit wir raven können".

Wenige Tage später beschloss Torsun, die Parole in "Raven gegen Deutschland" umzuwandeln und daraus einen Song zu basteln. Aus dem autonomen 90er-Schlachtruf "Wir haben euch was mitgebracht: Hass, Hass, Hass!" wurde "… Bass, Bass, Bass!". Der Electro-Beat stampfte und groovte dazu minimal.

Ein "Antifamusikvideo", das jemand zum Song "Raven gegen Deutschland" gebastelt hat

Als das Lied vor zehn Jahren herauskam, war es eines der ersten Lieder, die elektronische Partymusik mit Politik verbanden und gleichzeitig auch eine gewisse Popularität erzielten. "Für mich persönlich war die Aussage: Ja, wir feiern. Ja, wir tun das exzessiv. Und nein, wir sind dennoch nicht bereit, unseren Frieden mit den bestehenden Verhältnissen zu machen", erzählt Torsun heute.

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Auch viele aus der Szene hätten "Raven gegen Deutschland" gefeiert. Dabei war lange Zeit elektronische Musik in vielen linken Veranstaltungsorten ungern gesehen – trotz bekannter engagierter Acts wie Atari Teenage Riots. "Zu Beginn der 90er, als ich richtig begann, politisch aktiv zu werden, waren lediglich alkoholgetränkte AZ-Partys wirklich geduldet", erinnert sich der Egotronic-Gründer. "Techno und Chemie waren damals noch furchtbar unbeliebt." Doch die Szene, schildert er, habe sich mit der Zeit gewandelt, so dass sie bereits bei Veröffentlichung des Liedes deutlich offener war für die elektronische Musik war.

"Techno und Chemie waren noch furchtbar unbeliebt, als der Song herauskam." – Torsun

"Die Koks und Pillen-Antifa fand das Ding natürlich toll", sagt Daniel Fallenstein, für den für Egotronics Stück der "Anfang vom Ende" war. Der Berliner Journalist war zu diesem Zeitpunkt eng mit der Szene verbunden. "Der Song 'Ten German Bombers' [von Torsun feat. Koks & Pillen] zwei Jahre vorher war trotz des grauenhaft hässlichen teutonischen Akzents um Welten besser. Und als 'V36' [ebenfalls von Egotronic] vor zwölf Jahren in einem verrauchten, brütend heißen, überfüllten Friedrichshainer Wohnzimmer lief, war das unübertrefflich", meint er.

Aus dem Privatarchiv von Torsun

So oder so: "Raven Gegen Deutschland" sorgte mit ziemlicher Sicherheit dafür, dass elektronische Musik in der linken Szene an Beliebtheit gewann. Er wurde, jedenfalls in bestimmten Kreisen, ein Soundtrack des Partymachens und eines Hedonismus, neben dem wiederum die Politik wiederum weiterhin wichtig blieb.

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Torsun jedenfalls findet schon, dass Egotronic einen Anteil daran hatte: "Ich maße mir jedenfalls an, zu behaupten, dass wir dafür mitverantwortlich waren, dass Elektronik in Autonomen Zentren hoffähig wurde."

Peter, der Livemischer von Egotronic ist und aus der Techno-Szene kommt, habe einmal gesagt, dass Egotronic mehr Leute zum Techno gebracht habe, als jeder ihm bekannte Techno-DJ. Die Band rund um Torsun habe bei politischer Elektromusik eine Vorreiterrolle eingenommen. Torsun dazu: "Wir waren so ziemlich der erste rein elektronische Act, der durch die AZs (Autonome Zentren, Anmerkung der Redaktion) des Landes getingelt ist."

Mit Songs wie "Tolerante Nazis" legten Egotronic 2011 nach – und bezogen sich dabei auch auf "Raven gegen Deutschland"

Dass "Raven gegen Deutschland" so populär wurde, liegt nicht zuletzt an der eingängigen Melodie und der namensgebenden Mitgrölparole. Das Lied bedeutete gleichzeitig auch den Beginn einer größeren Bekanntheit für Egotronic, auch außerhalb der antideutschen Szene. Die Antideutschen sind eine Gruppierung innerhalb der Linken. Sie sahen jetzt, wie die Band auf großen Festivals spielte und die titelgebende Parole sich über Sticker und Tags in ganz Deutschland verbreitete.

Doch nicht jeder sieht die Entwicklung hin zu mehr Elektronik in linker Musik positiv: "Manche Beobachter und Beobachterinnen der antideutschen Szene behaupten, dass ein stumpfer und eher aus der klassischen Techno-Szene bekannter Hedonismus mit Egotronic Einzug gehalten habe", erzählt Marc, ein Sozialarbeiter aus Köln, der Egotronic und Torsun bereits seit 2002 kennt und verfolgt. Er selbst sei sich allerdings sicher, dass das nicht nur auf die Band, sondern auf mehrere Faktoren zurückzuführen sei.

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"Gerade ist mir mehr nach Hasstiraden gegen den Rechtsruck und die Politik der Abschottung" – Torsun

Diesen Hedonismus sieht und kritisiert auch Daniel Fallenstein. Für ihn ist "Raven gegen Deutschland" ein Grund dafür, "dass wir heute [nur noch] einen traurigen Witz von Antifa auf den Straße sehen, die Phänomene wie Rechtspopulismus und Identitäre Bewegung noch nicht einmal begrifflich erfassen, und ihnen erst recht nicht nachhaltig entgegenwirken können."

Torsun selbst jedenfalls würde das Lied, wenn er es in der jetzigen Zeit produzieren würde, nicht noch einmal so schreiben: "Mir ist gerade mehr nach Hasstiraden gegen den Rechtsruck und die Politik der Abschottung und genau so fallen meine aktuellen Songtexte aus."

Egal, ob nun "Raven gegen Deutschland" für einen stumpfen Hedonismus in Teilen der antideutschen Szene verantwortlich ist oder "der Anfang vom Ende" von Egotronic war: Nicht leugnen lässt sich, dass das Lied und Parole bis heute durchaus Kultcharakter in einem breiten Teil der linken Szene genießen – auch über die Grenzen der Antideutschen hinaus.

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