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Essen und Vergessen

Neue Studien zeigen: Starkes Übergewicht schadet nicht nur dem Körper, sondern verändert auch das Gehirn. Bei 300 Millionen Betroffenen weltweit ist das ein riesiges Problem.
Bild: shutterstock

Die Verbindung klingt ziemlich unglaublich; und doch gibt es mittlerweile starke Belege aus der Genetik, der Biophysik, der Psychologie und der Neurowissenschaft: Wer dick ist, schadet nicht nur seinem Körper, sondern hat auch häufiger Erinnerungsdefizite und weniger Hirnzellen—und damit nicht genug, denn die Korrelation droht auch andersherum zu funktionieren: Ein schlechtes Gedächtnis kann ebenfalls dick machen.

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Das fand zuletzt Neurowissenschaftlerin Lucy Cheke von der Uni Birmingham heraus. Sie ließ ihre Testpersonen mit sehr unterschiedlichen Körperbauten einen Parcours am Bildschirm durchlaufen und gab ihnen die Aufgabe, auf dem Weg Hänsel-und-Gretel-mäßig virtuelle Nahrungsmittel fallenzulassen. Danach fragte sie ihre Probanden, an welchem Ort sie die Gegenstände abgelegt hatten. Es stellte sich heraus, dass manche Menschen echte Probleme mit der Erinnerung daran hatten, welche Nahrungsmittel sie wo verteilt hatten und vor allem, wann sie diese im Spiel losgeworden waren. In den Ergebnissen fand sich ein deutliches Muster, das Cheke schon erwartet hatte: Je höher der Körpermasseindex (der BMI, welcher sich aus Körpergröße im Quadrat geteilt durch Körpergewicht berechnet) der Probanden, desto schlechter schnitten die Testpersonen in Sachen Erinnerung ab.

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Die Untersuchung dieses Zusammenhangs beleuchtet die vielschichtige medizinische Gefahr von starkem Übergewicht noch einmal besonders deutlich: Tatsächlich wurden bereits in früheren Studien an Mäusen und Menschen mehrmals starke Verbindungen zwischen Fettleibigkeit und verschlechterter Gedächtnisleistung und sogar Demenz festgestellt.

Das ist ein großes Problem; denn die Tendenz zum Gedächtnisschwund betrifft ja schließlich keine Randgruppe, sondern 300 Millionen Menschen weltweit mit einem BMI über 30, die medizinisch als fettleibig oder „adipös" eingestuft werden.

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Liegt das eigene Gewicht im orangen, hellroten oder dunkelroten Bereich, gilt man medizinisch als adipös oder fettleibig. Bild: Wikimedia Commons | Gemeinfrei

Das Problem der Fettleibigkeit hat in so kurzer Zeit ein solches Ausmaß angenommen, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sie als Epidemie bezeichnet—und auch, wenn sie nicht direkt zum röchelnden Tod führt, stuft die UN-Behörde krankhaftes Übergewicht doch als „das sichtbarste und gleichzeitig am meisten ignorierte öffentliche Gesundheitsrisiko" ein. Nicht nur kommt sie mit unzähligen Folgeschäden und Gesundheitsrisiken einher—die mit hohem Blutdruck anfangen und bei Herzkrankheiten und Diabetes leider noch gar nicht aufhören—sie betrifft dank zu zuckerhaltiger Lebensmittel auch immer mehr Menschen in Entwicklungsländern, die sich die Behandlung dieser Komplikationen gar nicht leisten können. Übergewicht ist also schon längst keine Wohlstandskrankheit mehr.

Spielt dabei wohl auch eine Rolle: Die Zuckerindustrie zahlte heimlich für Forschung, die die Gefahr von Zucker vertuschen sollte

Das Gemeinste daran: Die schon in früheren Studien bestätigte Korrelation zwischen Essen und Gedächtnisverlust stellt wohl keine Einbahnstraße dar. Wer fettleibig ist, erinnert sich also häufig schlechter daran, was sie oder er eigentlich gegessen hat und neigt dazu, sich zu übernehmen. Aber nicht nur das: Das starke Übergewicht verändert auch die Hirnstruktur.

Eine neurologische Untersuchung von 2010 an der Uni Boston University School of Medicine ergab, dass Erwachsene mittleren Alters mit mehr Bauchfett acht Prozent weniger Hirngewebe hatten als Normalgewichtige in dieser Altersgruppe—das sind immerhin acht Milliarden Neuronen weniger (von ca.100 Milliarden) und damit schon ein merkliches Defizit.

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Ganz besonders dramatisch erschien dieses Ergebnis, als eine 3D-Analyse genau identifizierte, wo diese Hirnzellen fehlen: Nämlich im Frontal- und Temporallappen. Das sind die Hirnregionen, die für Planung und Erinnerung zentral sind, der Frontallappen gilt zudem als Sitz der Intelligenz. Außerdem fehlte Gewebe im Hippocampus, der in der Form einem Seepferdchen ähnelt—hier sitzt wiederum das Langzeitgedächtnis. Dieser Teil des Gehirns spielt eine extrem wichtige Rolle für Lernprozesse; er hilft, eine Erinnerung überhaupt erst zu bilden.

Eine Langzeitbeobachtung, bei der 1.233 ältere Menschen auf den Verlust ihrer kognitiven Fähigkeiten je nach Ernährungsplan untersucht wurden, fand heraus, dass die Gruppe derjenigen, die am Tag zwischen 2.143 und 6.000 Kalorien zu sich nahm, ein doppelt so großes Risiko hatte, Hirngewebe zu verlieren.

Das Hirn scheint also bei extremem Übergewicht und zu vielen Kalorien zu schrumpfen. Wie oben schon erwähnt, sieht es so aus, als ob die dadurch beeinträchtigte Erinnerung sich leider auch auf das Essverhalten rückkoppelt. Wann du dich entscheidest, etwas zu essen, liegt also unter Umständen wirklich nicht nur am aktuellen Mageninhalt, sondern wohl auch an deinem Bauchumfang, der deinem Gehirn einen bösen Streich spielt. Wie genau dieser Trick biochemisch funktioniert und wie er unterbunden werden kann, wird noch untersucht. Ein heißer Kandidat ist eine Gruppe von vier Genen, die durch mehr Bauchfett im Hirn nicht mehr richtig funktionieren und den Hippocampus verformen, wie eine Untersuchung an übergewichtigen Mäusen zeigte.

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Übrigens kann diese Ess-Vergesslichkeit auch extern provoziert werden: Ein psychologisches Experiment an der Uni Liverpool von 2011 servierte (normalgewichtigen) Testpersonen ein leckeres Mittagessen und zwang die Hälfte der Gruppe, nebenbei Windows-Solitär zu spielen. Durch die Ablenkung war die Aufmerksamkeit der Probanden nicht mehr so sehr aufs Essen gerichtet—und die Kartenspieler stopften in der Diskussionsrunde nach dem Essen allesamt mehr Kekse in sich rein als diejenigen, die sich ausschließlich auf ihren Teller konzentrieren durften. Das Gehirn, so scheint es, braucht für einen gesunden Ernährungsstil neben einem guten Gedächtnis auch deine volle Aufmerksamkeit.

Das Experiment wurde sogar nochmal in abgewandelter Form an der Uni Liverpool wiederholt: Diesmal luden die Forscher um Eric Robinson zwei Gruppen ein, die beim Essen Hörbücher hören sollten. Nur, dass das eine Hörbuch den Probanden etwas über Essen erzählte, die andere Gruppe hörte einen Vortrag zu einem völlig anderem Thema. Als beide Gruppen am nächsten Tag wieder ins Studio eingeladen wurden—vorgeblich, um persönliche Daten nachzureichen—stand eine unschuldige Schüssel Kekse auf dem Tisch. Ihr ahnt es schon: Diejenigen, die sich am Tag zuvor über das Hörbuch auf ihren Nahrungsmittelkonsum konzentriert und über Essen reflektiert hatten, aßen ein ganzes Drittel weniger Süßigkeiten als diejenigen, die am Vortag ein anderes Hörbuch hören durften.

Möglich also, dass bei Normalgewichtigen eine lebhafte Erinnerung an die letzte Mahlzeit den Körper über den aktuellen Sättigungsgrad korrekt informiert und wir deshalb nicht permanent mit sehnsüchtigem Blick das nächstbeste Chipsregal abscannen. Diese Erinnerung jedoch scheint Fettleibigen häufig zu fehlen (und natürlich sind die vielen Faktoren, die überhaupt zu Übergewicht führen können, dabei noch gar nicht alle berücksichtigt), und so strudelt man in eine ungesunde Spirale, die zu ernsten Gedächtnis-Defiziten führen kann.

Jetzt, wo die Korrelation sich gerade immer fester etabliert, ist umso wichtiger, genau herauszufinden, wie sie funktioniert. Wieso können sich also Übergewichtige nicht mehr so gut erinnern wie dünne Menschen und wie schädigt Fett das Hirn genau? Und vor allem: Was kann man dagegen tun? Forscher vermuten mittlerweile, dass Körperfett kleine Entzündungen im Gehirn fördert, die für diese Fehlfunktion verantwortlich sein könnten.

Wichtig ist aber auch bei der so eindeutigen Schatzsuche, die Lucy Cheke sich für ihren Test am Computer ausgedacht hat, dass die Ergebnisse—so deutlich sie auch sein mögen—dringend repliziert werden müssen, und zwar mit standardisierten Tests statt der selten benutzten 3D-Umgebung, in der Chekes Testpersonen Essen verstecken sollten. Zweiter Kritikpunkt an der Studie: Sie war ziemlich klein; 50 Probanden reichen wohl kaum aus, um ein aussagekräftiges Ergebnis zu erzielen.

Eine kleine Krücke gibt es bislang schon, um den Teufelskreis aus Essen und Vergessen zu durchbrechen: „Eine App, mit der Menschen aufgemuntert werden, Fotos von ihrem Essen zu machen und Fragen über ihre Mahlzeiten beantworten sollen. Die Idee ist, dass die Schaffung von lebhaften Erinnerungen sie weniger dazu bringt, zu viel zu essen", berichtet der Experimentalpsychologe Eric Robinson (der mit den Keks-Versuchen) BBC Future stolz. Tolle Sache, aber die Entwicklungskosten hätten sich die Forscher eigentlich sparen können—Fotos von Essen machen, Fragen über Essen beantworten, Bilder angucken, um dann weniger zu essen; das alles sind schließlich die zentralen Funktionen von Instagram.