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Das unangenehme Gefühl wenn jemand in einen Apfel beißt heißt Misophonie

Das Academic Medical Center in Amsterdam ist europaweit die einzige Klinik, die Misophonie als Krankheit anerkennt. Hier können sich Menschen melden, die bei Geräuschen anderer Personen von extremen Gefühlen wie Wut und Frust geplagt werden.
Bild: BlueSkyImage/ Shutterstock

Ich kenne kaum ein unangenehmeres Geräusch als wenn mein Gegenüber in einen Apfel oder eine Karotte beißt oder sich an einem knusprigen Knabbergebäck erfreut. Allein der Gedanke daran lässt mir das Grauen kalt den Rücken herunterlaufen.

Doch ich weiß, dass ich nicht alleine bin. Eine kurze, informelle Umfrage unter meinen Freunden ergab, dass es noch weitere Menschen gibt, die von den Kauvorgängen anderer angewidert sind. Es stellt sich also die Frage, ob es sich hierbei um die einzigartige Beschwerde einer kleinen Gruppe oder eine generelles Phänomen handelt.

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Misophonie nennt sich diese Abneigung, die übersetzt gleich allgemein „Hass auf Geräusche" bedeutet. Laut Untersuchungen des Academic Medical Center (AMC) in Amsterdam werden bei den Opfern der Misophonie tief sitzende Gefühle wie Ekel, Wut oder Frustration durch die unangenehme Soundkulisse ausgelöst.

Manche Misophoniker können nicht mit anderen Menschen im selben Raum essen.

Das AMC bezeichnet die akustischen Auslöser in seiner Diagnose als eigentlich harmlose Klänge wie Kauen oder heftiges Atmen. Ich muss allerdings gestehen, dass mir die Verwendung des Wortes „harmlos" in diesem Zusammenhang vollkommen schleierhaft bleibt. Schließlich gibt es auf dieser Welt kaum etwas Grauenhafteres als diese Sounds (in HD):

Im Internet existieren zahllose Foren der Unglücksseligen, die meine Aversion teilen. Dort finden sich auch jede Menge Erfahrungen und Ratschläge, die Betroffenen helfen sollen, mit der täglichen akustischen Belästigung durch ihre Mitmenschen umzugehen.

Obwohl scheinbar Unmengen von Menschen unter diesen Beschwerden leiden, hat sich die Wissenschaft bisher eher stiefmütterlich um die Betroffenen gekümmert. Es ist noch nicht einmal geklärt, ob es sich im wissenschaftlichen Sinse um eine echte psychische Krankheit handelt oder eher um ein verbreitetes Ärgernis. Forscher des AMC veröffentlichten 2013 zwar einen Diagnosebericht zur Misophonie, dieser wird jedoch weder in den Registern des DSM-5 noch im ICD-10 erwähnt.

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Obwohl sich die Wissenschaft nicht zu fein dazu ist, zu untersuchen, ob es für den Verstand gefährlich ist eine Katze zu halten oder wie Rentiere auf Menschen in Eisbärkostumen reagieren, gibt es weltweit nur wenige Institute, denen die Misophonie wichtig genug für eine Studie ist. Eins davon ist das AMC und so ließ ich es mir nicht entgehen, dessen Mitarbeiter Arjan Schröder für ein dankbares Gespräch anzurufen. Schröder ist Psychiater und forscht an den Ursachen, Auswirkungen und Behandlungsmöglichkeiten der krankhaften Hörempfindlichkeit.

Seine Arbeit ist eine Kollaboration mit Professor Damiaan Denys, der ersten Person, die die Kauempfindlichkeit in der psychiatrischen Literatur erwähnt hat. Das Team veröffentlichte bereits einen Fragebogen, der die Diagnose erleichtert.

„Wir arbeiten jetzt seit vier Jahren an dem Thema und jede Woche suchen uns zwei bis drei Leute auf und bitten um Hilfe", erzählte mir Schröder. Diese Personen leiden meistens unter einer besonders starken Form der Misophonie und sehen im AMC ihre letzte Möglichkeit zur Linderung ihrer Qualen. Das Amsterdamer Institut ist europaweit der einzige Ort, der Behandlungen anbietet und Misophonie als eine Krankheit anerkennt.

Fast jeden stören ab und an die Geräusche seiner Mitmenschen. Doch „bei den Personen, die zu uns kommen sind die Symptome so extrem, dass sie ernsthaft unter ihnen leiden", erzählte Schröder. „Sie können nicht mit anderen zusammen essen, im selben Raum schlafen und manchen ist es auch nicht möglich, zur Arbeit zu gehen. Die Misophonie beeinflusst sie so stark, dass sie bestimmte Orte meiden, was den Zustand jedoch nur verschlimmert."

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Die Mehrheit der Leidenden, die im AMC ihre letzte Hoffnung sehen, sind einfach froh darüber, dass hier ihre Last endlich auf ehrliches Interesse und Beachtung stößt. Es ist auch einfach eine wunderbare Vorstellung den emotionalen Nerv, der durch Nägelknabbern, Schlürfen, Schmatzen, Schnarchen, Kaugummi kauen, Tastaturtippen oder Pfeifen ausgelöst wird, in seine Schranken verweisen zu können. Auch über diese Malaisen gibt es bisher wenig Informationen.

„Das Unbehagen äußert sich häufig im Alter von 13 oder 14 Jahren. Zu der Zeit treten die meisten psychischen Störungen zum ersten Mal auf. Da oft mehrere Mitglieder einer Familie betroffen sind, ist die Krankheit möglicherweise genetisch veranlagt und schlussendlich ist es auch ein Problem, wie die Verknüpfung zwischen einem neutralen Geräusch und einer aversiven Emotion hergestellt ist", erklärte Schröder. „Es handelt sich um einen Lernprozess: Wenn du dich in einer eigentlich normalen Situation befindest und anfängst diese Situation von nun an zu vermeiden, dann wird es nur immer schlimmer."

Der Heilungsprozess dauert Monate

Selbst wenn die Forschungen zu diesem Thema eher durch Unwissen bestechen, gibt es Heilungschancen, die allerdings auf einem recht intensiven Training beruhen. „Die Behandlung besteht aus Gruppensitzungen in welchen verschiedene Techniken kognitiver Verhaltenstherapeuten angewandt werden", erklärte mir Schröder. „In den zweiwöchentlichen Sitzungen lernen die Patienten, wie sie die Geräusche von ihren negativen Gefühlen abkoppeln können."

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„Das ist ein langwieriger Prozess, die Personen müssen über Monate daran arbeiten", sagte Schröder. Diese Zeitspanne ist vonnöten, da das Gehirn mit den Techniken sprichwörtlich umprogrammiert wird, um ein Verhalten, das über Jahre hinweg etabliert wurde, abzuschalten.

Um die Sache noch ein wenig komplizierter werden zu lassen, ist alles was das AMC versucht Teil eines komplett neuen Forschungsfeldes. Bis Schröder und Denys ihren Artikel über die Diagnose von Misophonie veröffentlichten gab es so gut wie keine medizinischen Untersuchungen, obwohl im Netz Unmengen an Leuten ihre Leiden teilen. Wissenschaftler versuchten lediglich, die Misophonie in bekannte Mustern anderer psychischen Krankheiten einzuordnen.

Der rennomierte amerikanische Neurologe Vilaynur Ramachandran verglich die Misophone in seinem Paper von 2013 mit Synästhesie. Laut Schröder ist dieser Vergleich jedoch nicht komplett zutreffend oder, besser gesagt, stehen die beiden Leiden nicht wirklich in Beziehung zueinander. Misophone ist eine von einem Geräusch getriggerte Emotion und hat nicht direkt etwas mit den Hören generell zu tun. Sein Team untersucht Misophone als Teil des Spektrums von Zwangsstörungen.

Denys sucht die Unterschiede, die sich im Gehirn von Monophonie-Geplagten zeigen mit funktioneller Magnetresonanztherapie. Experimente per EEG sind in Vorbereitung, außerdem sollen die Verhaltenstherapie und die Amsterdam Misophonia Scale (A-MISO-S), ein Fragebogen zum Schweregrad der Krankheit, verfeinert werden.

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Die Mehrheit der Misophoniker zeigt Anteile einer zwanghaften Persönlichkeit.

Wie auch jede andere Krankheit kann der Patient unter einer eher leichten bis schweren Ausprägung von Misophonie leiden. Die meisten Leute, die sich beschweren, wenn du herzhaft in deinen Granny Smith beißt (ich zum Beispiel) oder sich genervt unter ihren Kopfhören verstecken, sobald du einen Sack Karotten aus deinem Rucksack ziehst (ich zum Beispiel), brauchen eher keine Therapie für ihr Leiden. Jedenfalls so lange nicht, bis andere Faktoren dazu kommen.

„Es hat auch mit einem Gefühl der Kontrolle zu tun", sagte Schröder. „Wenn jemand laut kaut, meldet sich die normale, moralische Bewertung à la: 'Mach bitte deinen Mund beim Essen zu' oder in einem anderen Fall 'Du solltest nicht so laut auf deiner Tastatur herumhacken'. Die Mehrheit der Menschen mit Misophonie haben hingegen Anteile einer starren und zwanghaften Persönlichkeit.

Falls du dich also unter deinem Schreibtisch verkriechst, wenn die Person neben dir Kaugummi kaut oder laut atmet ist das AMC möglicherweise die richtige Anlaufstelle für dich. Dort wird permanent an neuen Behandlungsmöglichkeiten geforscht. Und für alle, dich nicht in der Nähe von Amsterdam beheimatet sind, gibt es ebenfalls Hoffnung. Die Misophonie schleicht sich gerade in die internationale wissenschaftliche Forschung ein und mit ein wenig Glück, werden bald auch in deiner Nähe die belastenden Auswirkungen von Kaugeräuschen untersucht.

PSYCHOMANIA ist eine neue Motherboard-Kolumnne über Neurosen des Alltags, die zeigt, dass es keinen Wahnsinn gibt, den es nicht gibt—und wie fließend die Grenzen zwischen gesund und pathologisiert sind.