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Warum ein Pathologe Einsteins Gehirn 40 Jahre lang in einem Mayonnaiseglas herumtrug

Einstein wünschte sich eine stille Einäscherung. Doch auf der Suche nach dem Sitz seines Genies klaute ein Arzt sein Gehirn und rückte es 40 Jahre nicht heraus. Wie Einsteins Gehirn zur popkulturellen Ikone wurde.
​Nicht Einsteins Gehirn. Bild: ​Wikimedia Commons​Geatan Lee | ​CC BY 2.0

Was machte Einsteins Geist so besonders? ​„Ich habe keine außergewöhnliche Begabung, ich bin nur leidenschaftlich neugierig", sagte der Schöpfer der Relativitätstheorie bescheiden über sich selbst. Weil er Personenkult widerlich fand, wünschte sich Albert Einstein deshalb auch eine stille Einäscherung und wünschte seine Asche verstreut, damit niemand zu seinem Grab pilgern würde. Doch das Rätsel um den Sitz seines Genies machte seine schlimmsten Befürchtungen wahr: Sein Gehirn wurde zu einer popkulturellen Ikone, nach der Menschen suchten, es stahlen, zerstückelten, verschickten, fotografierten, quer durch die USA kutschierten und sein Organ zum Star in Roadmovies, Karaokebars und Gonzo-Reportagen werden ließen. Ein Mann verlor beinahe den Verstand daran: Der Arzt Thomas Harvey.

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Die Geschichte beginnt mit Einsteins Ende: Ein paar Stunden, nachdem Albert Einstein 1955 in Titusville, New Jersey an einer geplatzten Baucharterie verstorben war, konnte sich der zuständige Pathologe Thomas Harvey einfach nicht damit abfinden, dass Einstein entsprechend seinen Wünschen kremiert werden wollte. Dieses unglaubliche Genie sollte man einfach verbrennen? Was hatte er nur, das andere nicht haben? In letzter Minute kam der Wahn über Harvey: Er sägte heimlich im Obduktionssaal den Kopf des Atomphysikers auf, klaute das Gehirn und legte es in Formalin zur Konservierung.

Um unangenehme Fragen zu vermeiden, nahm er es mit nach Hause, zerschnippelte es in 240 Würfelchen und Scheiben und bewahrte diesen Schatz in Einmachgläsern in seinem Keller auf. Und behielt es, in verschiedenen Zuständen, Behältern und Häusern über vier Jahrzehnte hinweg—um herauszufinden, wo die verdammte Genialität des klugen Mannes sitzt.

Nun war Harvey leider kein besonders ausgewiesener Experte in Sachen Hirn. Er dachte, dass das Gehirn des Forschers besonders schwer sein musste—damit sollte er jedoch Unrecht behalten, wie er nach einem kurzen Check auf der Waage feststellte. In der folgenden Zeit schickte er deswegen immer mal wieder einzelne Proben an Hirnspezialisten im ganzen Land, die ihm möglicherweise bei der Lösung des Rätsels behilflich sein könnten. Das Hirn selbst rückte er nicht raus.

Leider ging es danach deutlich bergab mit Thomas Harvey. Er verlor seinen Job in New Jersey und trennte sich bald darauf von seiner Frau. Beim Auszug vergaß er seinen vermutlich wertvollsten Besitz irgendwo im Keller neben dem Pflaumenmus und konnte sich erst Wochen später dazu durchringen, nochmal in das Haus zurückzukehren und die Gläser mit den Organstückchen zu holen—und zwar erst, als seine Ex-Frau drohte, die Hirnsuppe sonst zu entsorgen.

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„Ich will das Hirn anfassen", jammert der Reporter.

Im Laufe seiner weiteren, bewegten Karriere zwischen verlorener Approbation, Fließbandarbeit in einer Plastikfabrik und Anfragen an Hirnforscher begleitete Thomas Harvey das Gehirn (oder das Gehirn Harvey) über mehrere Bundesstaaten von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle: Mal lagerte es unter Bierdosen in einer Kühlbox, mal im Keller in Princeton, mal in einer Mietwohnung neben seinem Nachbar und Saufkumpan William S. Burroughs—der dann gern prahlte, er könne bei Bedarf jederzeit ein Stück von Einsteins Gehirn haben.

Die Antwort auf die Frage, wo denn nun Einsteins Genie säße, blieb er schuldig, wenn er auch immerhin keinen Profit aus dem Besitz schlug. Über Jahrzehnte trug er das Gehirn in zwei Mayonnaisegläsern herum, fest davon überzeugt, dem Sitz seines Genies irgendwann auf die Schliche zu kommen. Fragten Reporter nach dem Veröffentlichungsdatum der bahnbrechenden Ergebnisse, vertröstete er sie auf das kommende Jahr. Diese Masche fuhr Harvey unbeirrt über vierzig Jahre.

Erst nach vielen zähen Verhandlungen ließ sich Harvey 1997 dazu überreden, das Gehirn wieder an die rechtmäßigen Nachkommen Einsteins, seine Enkelin Evelyn, auszuhändigen. (Die wollte das eklige Ding allerdings nicht bei sich auf dem Kaminsims stehen haben und übergab es letztlich an die Pathologie, aus der es ursprüngloch gestohlen wurde.) Harvey fuhr dafür quer durch die USA von New Jersey nach San Francisco mit dem zerstückelten Hirn in Kofferraum, diesmal allerdings bruchsicher in Tupperware umgefüllt.

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Auf diesem ziemlich unwahrscheinlichen Roadtrip begleitete ihn der Reporter Michael Paterniti, der neben den zwei Frischhalteboxen und dem 84-jährigen Harvey offenbar auch umgehend mit durchdrehte: „Ich will das Gehirn anfassen", jammert er in dem aus der Reise entstandenen Buch Driving Mr. Albert: A Trip Across the USA with Einsteins Brain. „Fühlt es sich an wie Tofu, wie Seeigel, wie Mortadella?"

Nicht, dass es mit dieser endgültigen Übergabe an Einsteins Nachkommen dann auch getan war: Vor drei Jahren gab das Nationalmuseum für Gesundheit und Medizin in Chicago die Bilder der von Harvey in der Pathologie angefertigten Dünnschnitte als App für's iPad heraus, für die ​volle Dosis Forscherorgan-Erotik. Dank dem Einstein Brain Atlas gehört Einsteins Gehirn dann nun wirklich jedem, nachdem der ursprüngliche Dieb es letztlich widerwillig gespendet hatte.

Tatsächlich waren jene Regionen im Gehirn, die für das mathematische Verständnis zuständig sind, bei Albert Einstein besonders ausgeprägt. Ebenso ist die Parietalregion in der Großhirnrinde und der präfrontale Cortex überdimensioniert, was sein Gehirn auffällig breit machte. Das alles ist allerdings ein ziemlich magerer Fund für einen recht dreisten Diebstahl, die zerstörte Würde eines Toten und 40 Jahren fieberhafter Suche nach Hirnsuppe in Kellern der USA.

Der japanische Professor Sugimoto schaffte es sogar, ein kleines Stückchen von Einsteins Gehirn aus Kansas City mitzunehmen und würdigt diesem großen Tag in einer wunderbaren Karaoke-Performance:

Für diejenigen, die des Japanischen nicht ganz so mächtig sind; der Professor singt:„Ich bin zwei Jahre nach dem Bombenabwurf in Nagasaki geboren. Einstein wird für die Bombe verantwortlich gemacht, aber ich mache ihm keinen Vorwurf. Ich liebe Albert Einstein immer noch."

Nach dem anatomischen Sitz der Intelligenz zu suchen, erscheint uns nach heutigem Verständnis der Neurologie anachronistisch und seltsam archaisch. Zur Vermessung eines einzigen Quadratzentimeters Gehirns und seinen Abermillionen neuronalen Verbindungen bräuchte man Jahre. Genie kann sich auch nicht in einer „außergewöhnlichen Hirnanatomie widerspiegeln", wie es noch 1999 kanadische Neurowissenschaftler in der Fachzeitschrift The Lancet behaupteten. Und trotzdem wird Einsteins Gehirn noch heute mit Hilfe von Harveys Fotos auf Auffälligkeiten untersucht, bislang ohne nennenswerten Erfolg.

Immerhin befand sich Einstein damit in illustrer Gesellschaft: Auch in Moskau schnippelten Wissenschaftler am eigens dafür gegründeten „Institut des Hirnes" Lenins Gehirn in 31000 Scheibchen, um dazwischen auf aufschlussreiche Erkenntnisse über seine legendären rhetorischen und kognitiven Fähigkeiten stoßen zu können. Gefunden haben sie nach 70 Jahren: nichts.