Popkultur

Bill Kaulitz im VICE-Interview: "Es gab Fans, die ich gehasst habe"

In seinem Buch "Career Suicide" erzählt Kaulitz vom Anderssein im Osten. Von Pornos, Taschentüchern und Dorfjungs, die ihn anpissen wollten.
Bill Kaulitz, Tokio-Hotel-Sänger sitzt vor einem Goldvorhang
Foto: Imago / Future Image

"Die Herrschaften sind gleich bereit", näselt der Concierge des Luxushotels Waldorf Astoria. Er meint eine Pressefrau, einen Sicherheitsmann und Bill Kaulitz, 31. Der sitzt in einer Suite im 29. Stock auf einem piefigen Sofa und erzählt schon den ganzen Tag Journalisten von seiner Kindheit.

Von den Dorfjungs, die auf ihn "draufpissen" wollten, wie auf Konzerten Pflastersteine flogen und davon, wie er sich als Teenie-Star von seinem Manager missbraucht gefühlt hat. Wie die kleinen Boyband-Stars bis spät in die Nacht wach waren, um Pornos zu gucken, und danach die Taschentücher verglichen, um zu sehen, wer die größte Ladung abgespritzt hat. All das hat Bill Kaulitz in seiner 400 Seiten dicken Biografie Career Suicide ausführlich aufgeschrieben. Die meisten Journalisten wollen allerdings immer noch vor allem wissen, ob er nun lieber mit Frauen oder Männern vögelt, das hat sich seit 15 Jahren nicht geändert. Er ist die genderfluide Ikone, die alle sexuell verunsicherten Jungs brauchen.

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Aus dem bodentiefen Fenstern der Luxussuite sieht man Westberlin, den dreckigen Bahnhof Zoo, es nieselt. Vor der Kulisse sieht Bill Kaulitz mit seinen wasserstoffblonden Haaren und dem dünnen, rosafarbenen, bis zum Bauch aufgeknöpften Hemd ein bisschen aus wie ein Engel.

Bill Kaulitz hat keine besonders tolle Stimme (das sagt er selbst), trotzdem haben die Songs von Tokio Hotel noch immer eine Million monatliche Hörer auf Spotify. Mindestens ebenso Viele hassen Bill Kaulitz noch immer.

Warum nur?

VICE: Auf deinem linken Oberarm hast du "Freiheit 89" tätowiert. Bist du irgendwie nostalgisch, dass die Mauer gefallen ist?
Bill Kaulitz:
Nee, das ist unser Geburtsjahr. Ich hab das tätowieren lassen, als ich 18 geworden bin, weil ich dachte: "Geil, jetzt kann mir endlich niemand mehr was sagen."


VICE-Video: Froschgift in Berlin


Ostdeutschland ist nicht dein liebstes Thema, oder?
In Amerika werde ich manchmal gefragt: Habt ihr Bananen in Deutschland? Und ich denke so: Hä? Ich bin ja in einem vereinten Deutschland groß geworden, ich finde es schade, dass noch so in Schubladen gedacht wird. Aber auch in meiner Familie wird geschimpft: Ach, der Westen! Manche Menschen würden wahrscheinlich gar nicht mitkriegen, wenn die Mauer noch stehen würde. Ich kehre ungern und selten dahin zurück, wo ich herkomme. Ich fühle mich da einfach nicht so wahnsinnig wohl, auch weil ich natürlich viele Erinnerungen habe.

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Im Buch beschreibt Bill Magdeburg und das Dorf Loitsche, wo er mit seinem Zwillingsbruder Tom aufgewachsen ist, als derbe und trostlos: Hunderte verarmter Rentner, die zusammengepfercht wie Tiere in den grauen Rauputz-Blöcken vegetieren. Überall Kinder mit blauen Flecken. "Kein Wunder, ihre Eltern setzten sie wohl nur wegen des Kindergelds in die Welt. Und beim Pimpern schien für die auch Blutsverwandtschaft kein Hindernis zu sein." Und auf dem Schulhof steht "Denise umgarnt von zehn jungen Faschisten, die ihr die Muschi lecken wollen".

Du bist in einem feindseligen Umfeld aufgewachsen. Auf dem Dorf wurdet ihr von Neonazis bedroht, dein Sportlehrer hat sich geweigert, dich zu unterrichten, weil du ihm zu extravagant gekleidet warst.
Es ist gut, dass ich herkomme, wo ich herkomme. Wäre ich in Beverly Hills geboren, in einem reichen Haushalt mit Pool, wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Dafür kann ich es jetzt ganz anders wertschätzen, wie die Sonne in mein Haus in L.A. scheint, wenn ich da aufwache.

Eines der ersten Lieder, die du und dein Bruder im Kinderzimmer geschrieben habt, hieß "Ich hasse Gewalt".
Das war ein Aufruf von VIVA. Tom und ich fanden das geil, ich hab in fünf Minuten die Lyrics geschrieben, dann haben wir das aufgenommen und hingeschickt. Es ging um Gewalt auf dem Schulhof. Da kannten wir uns mit aus, weil bei uns ja totales Kriegsgebiet war.

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Letztes Jahr gab es den Hashtag #Baseballschlägerjahre. Da ging es um die 90er in Ostdeutschland und darum, wie überall Prügel und Hetze war.
Absolut. Es gibt ganz viele ostdeutsche Schulen, die wahrscheinlich heute noch Angst machen. Wenn ich da vorbeifahre und sehe, was auf dem Schulhof los ist: scary. In so einem Umfeld muss man extrem viel Eier haben.

Bushaltestelle in Loitsche bei Zielitz in Sachsen Anhalt, wo einst Bill Kaulitz, Sänger von Tokio Hotel lebte, die Inschrift lautet "Jesus liebt Bill"

Selbst die Bushaltestelle in Loitsche wurde irgendwann zerlegt und als Merchandise versteigert | Foto: Imago / Christian Schroedter

Auch meine Mama musste das. Sie hat mich einen pinken Badeanzug anziehen lassen, den ich schön fand. Dass sie mich hat so sein lassen und ihr alles andere egal gewesen ist, war mutig. Sie hat irgendwann einen Sozialarbeiter geholt, war in Kontakt mit der Polizei. Aber ich weiß, dass sie auch schlaflose im Bett gelegen und überlegt hat: Kommen sie heute nach Hause? Oder liegen sie zusammengeschlagen in irgendeiner Ecke?

Mein kleiner Bruder war ein Riesenfan von Tokio Hotel. Wir mussten einmal im Monat über der Badewanne seine Haare schwarz färben.
Ach süß.

Aber was ich nie verstanden habe: Warum macht er das? Es ist sowieso hart, in Ostdeutschland anders zu sein ...
... Du meinst, warum macht er es sich freiwillig so schwer?

Ja. Hätte er die Haare einfach abrasiert, wäre er auf seiner Realschule im Plattenbaugebiet einfach untergegangen.
Ja, ich frag mich das auch, wenn ich zurückdenke. In manchen Momenten denke ich: "Krass, dass ich mir das angetan hab." Aber in mir hat einfach so ein rebellisches Herz geschlagen. Ich wollte mit meinem Aussehen provozieren und habe die Aufmerksamkeit genossen. Ich hatte Vorbilder aus Amerika und wollte mir nicht von anderen die Welt diktieren lassen. Klar hatte ich oft auch Angst. Aber ich hab nie heulend zu Hause gesessen und gedacht: "OK, vielleicht ändere ich doch alles."

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Als ich meinem kleinen Bruder erzählt habe, dass ich dich interviewe, hat er erst kurz so getan, als wüsste er nicht mehr, wer "Bill Kaulitz" ist.
Aha, wow.

Und dann meinte er, dass ich ihn und das Haarefärben lieber nicht erwähnen soll, weil seine Freunde das lesen könnten. Macht es dich traurig, dass Tokio Hotel für viele eine Jugendsünde ist?
Ist das so? Ich weiß nicht. Ich finde ja, wenn man älter wird, feiert man seine Jugend wieder. Viele alte Fans kommen nostalgisch auf unsere Konzerte. Die leben heute ganz andere und unterschiedliche Leben, aber sagen: OK, Nanny her, Kids abgeben, wir gehen jetzt zum Tokio-Hotel-Konzert und singen genauso laut wie damals bei "Durch den Monsun" mit.

Das Fansein war damals ja auch ein Lebensgefühl. Das hat man geatmet und gelebt, man hat sich so angezogen, hatte die Poster und hat auch nur diese Band gehört. Darum finde ich, das sind schöne Momente, auf die man in Liebe zurückschauen kann.

Er hat sich auch korrigiert und meinte, die Aggro-Berlin-Phase war vermutlich peinlicher.
(Lacht) Das finde ich allerdings auch.

In deinem Buch geht es auch darum, wie es ist, so krass berühmt zu sein. Wann hast du das letzte Mal jemanden getroffen, der nicht wusste, wer du bist?
Ich weiß ja nie, ob die lügen. Dein Bruder hätte wahrscheinlich auch so getan, als ob er mich nicht kennt. Als ich nach Amerika gegangen bin, habe ich es erst immer für einen Scherz gehalten, wenn Leute meinten: "Und, was machst du so?" Das war nämlich auch die typische Fan-Anlabermasche. Aber dann dachte ich: "Geil, endlich kann ich machen, was ich will, weil keiner zuguckt."

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Und was hast du gemacht?
Ich bin Handtücher einkaufen gegangen. Habe mir im Supermarkt zum ersten Mal selber Sachen ausgesucht. Bin ins Fitnessstudio und mit meinen Hunden raus. Ich war aber wahnsinnig schüchtern, ich wusste gar nicht, wie man Menschen begegnet, wie man sie richtig anschaut. In Deutschland hatte ich ja nie einen Schritt gemacht, ohne dass ein Security das vorher gecheckt hat.

Koks und Wodka Cranberry sorgten dafür, dass Bill irgendwann nicht mehr schüchtern war, schreibt er. Er taucht ins New Yorker Partyleben ab:  »Hoffentlich fotografiert mich hier keiner«, denkt er, als eine der Drags in seinem Lieblingsladen mit ihrem Arschloch eine Bierflasche öffnet.

Ihr seid nach L.A. geflohen, nachdem eine Meute in eure Hamburger Villa eingebrochen ist und Songtexte und Unterwäsche auf der Strasse verteilt hat. Hasst du manchmal deine Fans?
Nee, ich will das nicht so verallgemeinern. Aber gibt es einzelne Fans, die ich gehasst habe? Auf jeden Fall. Manchmal wollte ich, dass die Polizei kommt und alle Stalker mitnimmt und einsperrt. Damit ich sie nie wieder sehe. Aber es gibt auch wahnsinnig emotionale Momente mit tollen Fans, die einem Tränen in die Augen treiben. Erst heute kann ich das wertschätzen.

Warum?
Ich war so wahnsinnig verängstigt und habe damals nichts an mich rangelassen. Ich war eiskalt und professionell. Neulich hat jemand gefragt, ob ich Gänsehaut bekomme, wenn ich Aufnahmen von damals sehe. Aber nein, ich hab nicht genossen, dass mir 20.000 Menschen zugejubelt haben - das war Alltag wie für andere Leute Fahrstuhlfahren. Ich wollte es nur durchziehen und gesund bleiben.

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Was wäre passiert, wenn "Durch den Monsun" ein Flop gewesen wäre? Hättest du in Leipzig Soziologie studiert?
Nee, ich wollte immer singen und tanzen. Ich hatte mich damals auch bei Lion King als Simba beworben.

In deinem Buch steht ein Bukowski-Zitat: Finde, was du liebst, und lass es dich töten.
Ich liebe Bukowski.

Er schrieb auch mal darüber, "die ganze Welt oder nichts" zu wollen.
Ja. Ich kann es mir gar nicht vorstellen, wenn es anders gelaufen wäre. Mein bester Schulfreund "Gühne" hat damals sein Abitur gemacht und studiert. Er ist noch immer mein bester Freund und manchmal schau ich auf sein Leben und überlege, wie es gewesen wäre, wenn wir das zusammen gemacht hätten. Aber ich glaube, ich wäre einfach immer diesem Traum hinterhergejagt.

Hattest du Angst, da zu landen, wo ihr herkommt?
Ja, aber die ist heute nicht mehr so präsent. Wobei ... (denkt nach) Letzte Nacht habe ich geträumt, dass ich in meinem Kinderzimmer aufgewacht bin. Das war ganz weird. Ich glaube, das wird immer mein Antrieb sein: Dass ich weiß, wo ich herkomme – und dass ich da nicht hingehöre.

In deinem Buch kommen unheimlich viele Menschen vor, Kindergartenfreunde, Schulfreunde, Nachbarn. Googlest du die manchmal?
Ja, voll. Wie haben neulich die ganze Clique von damals gesucht und ich hab mich totgefreut zu sehen, was die heute arbeiten. Ich hab auch immer mal davon geträumt, wie so ein Klassentreffen wäre. Aber dafür bin ich nicht lange genug zur Schule gegangen.

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Ich hätte total viel Spaß, ich würde mich total besaufen und wäre easy mit allen. Ich hab sogar mal eine alte Klassenkameradin wiedergetroffen, aber das war ein bisschen traurig.

Warum?
Wir mussten unseren Reisepass verlängern und das ging nur in unserem alten Landkreis. Also mussten Tom und ich nach Loitsche zurück. Damals hatten wir so ein wahnsinnig prolliges Auto, einen Audi R8, ein Sportwagen. Ich meinte zu Tom: "Damit können wir hier nicht langfahren, das ist wie mit dem Ufo. Das haben die noch nie gesehen und jetzt machen wir auf fette Hose mit dieser Karre."

Das Bürgeramt hatte extra für uns samstags aufgemacht, wir gehen rein und ich sehe sofort, dass meine alte Sitznachbarin aus der Schule an dem Schreibtisch sitzt. Ich schaue auf den Boden und denke: "Bloß ignorieren."

Weil es dir peinlich war?
Weil es mir unangenehm war, dass ich mit so einem Aufriss und Brimborium komme und sie sitzt da, hat die Schule zu Ende gemacht und stempelt jetzt Pässe. Sie sagte dann irgendwann: "Na, kennst du mich noch?"

"Noch fünf Minuten", unterbricht die Verlagsfrau. Bill Kaulitz mag Pünktlichkeit, das kommt neuerdings in vielen Interviews vor. Außerdem hat er sich Tupperware für Salatreste zugelegt, eine Villa von Frank Lloyd Wright gekauft und mit Blumenvasen dekoriert. Bill Kaulitz ist also irgendwie ein wohlhabender, erwachsener Spießer geworden – warum hängt er trotzdem so an seinem 15-Jährigen Ich?

Ihr hättet das Teenie-Band-Image doch einfach hinter euch lassen können. Stattdessen heißt ihr noch immer Tokio Hotel und habt "Durch den Monsun" 2020 nochmal in einer Elektroversion rausgebracht. Warum?
Das fänd ich feige. Viele deutsche Radios spielen uns bis heute nicht gerne. Bis heute sagen Sender: "Klar, der kann für Interviews vorbeikommen." Die wollen darüber plauschen, wie es in L.A. ist, und das Leben als Star - aber unsere Songs spielen sie trotzdem nicht.

Dafür gehen Häme und Hass jetzt weiter.
Klingt immer so kitschig, aber: Wir haben das immer ausgehalten, weil wir vier uns hatten. Wenn wir uns heute begegnen würden, hätten wir nichts miteinander zu tun, wir würden wahrscheinlich nicht mal miteinander reden, weil wir so unterschiedlich sind. Aber wir haben uns mit elf kennengelernt, aufeinander aufgepasst und sind jetzt Familie. Wir haben uns so eine Blase geschaffen, an der alles abgeprallt ist.

Eigentlich war unser Leben eine Staffelung: Anfeindungen gab es schon im Kindergarten, dann kam die Einschulung, das Dorf, es wurde es immer krasser und mit der Karriere hat sich das multipliziert. Es war, als ob wir in Ostdeutschland in einem kleinen Bootcamp waren. Es bereitete uns darauf vor, was später auf uns eingeschlagen hat.

Das klingt traurig.
Ja, aber ich bin dankbar für den Hass. Man macht auch was richtig, wenn man so viel Gegenwind bekommt. Eine große Karriere kommt nicht ohne Schmerz aus. Ich fänd es viel schlimmer, wenn ich den Leuten egal wäre.

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