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So realistisch ist Netflix' 'The Queen's Gambit'

Eine Großmeisterin erklärt, ob die Schachwelt wirklich so sexistisch ist und warum die Russen so gut sind.
Vincenzo Ligresti
Milan, IT
Eine Frau grübelt über einem Schachbrett, welchen Zug sie als nächstes machen soll
Foto mit freundlicher Genehmigung von Elena Sedina

Viele Menschen spielen Schach mit ihren Freunden einfach zum Spaß. Aber das Spiel ist auch eine seriöse Sportart und hat dank The Queen’s Gambit auf Netflix schlagartig Millionen neuer Fans gewonnen. 

Elena Sedina ist eine italienische Schachspielerin, die ursprünglich aus der Ukraine stammt. Sie ist internationale Meisterin und Frauengroßmeisterin. 2019 gewann sie die italienische Frauenmeisterschaft

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Wir haben mit Elena darüber gesprochen, wie Schach sich über die Jahre hinweg verändert hat und warum ein Start mit acht Jahren für professionelle Spieler schon reichlich spät kommt. 


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VICE: Muss man mit dem Schachspielen richtig jung anfangen, um gut zu werden?
Elena: Als ich sieben war, fing ich an, mit meiner fünfjährigen Schwester zu einem Schachclub in Kiew zu gehen. Da komme ich ursprünglich her. Es war mein Vater, der uns ermutigte, mit Schach anzufangen. Er war selbst einer der besten Spieler in der Ukraine. 

Für ein paar Jahre hatte ich dreimal die Woche mit 40 anderen Kindern Unterricht. Sonntags hatten wir Spiele. Als ich neun Jahre alt war, fing ich an, erfolgreicher bei Turnieren zu werden. Ein Trainer bemerkte das und lenkte mich in eine professionelle Laufbahn. 

Ich kenne keine guten Spieler, die später angefangen haben. Magnus Carlsen zum Beispiel hat mit acht Jahren angefangen, aber er selbst findet das etwas spät. 

Wie oft trainierst du?
Als ich aufgewachsen bin, habe ich sehr viel trainiert. Richtig lange Arbeitstage waren das. Schach ist ein individueller Sport und benötigt sehr viel eigenes Training, um bestimmte Taktiken und Züge zu verinnerlichen. 

Und heute?
Heute habe ich weniger Zeit, weil ich auch noch Schach unterrichte. Aber ich bin in Kontakt mit einigen meiner Kollegen, mit denen ich trainiere und gegen die ich online oder in Person spiele. Ich trainiere außerdem mit der italienischen Nationalmannschaft. 

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Was denkst du über die Darstellung von Schach in Filmen und im Fernsehen?
Viele Leute haben gute Dinge über The Queen’s Gambit gesagt, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, mir die Serie anzusehen. Leute denken auch, dass man verrückt sein muss, um sich Tage und Nächte hindurch mit Schach zu beschäftigen. Aber Probleme mit deiner geistigen Gesundheit und Schach gehen nicht Hand in Hand. Üblicherweise sind Schachspieler ganz normale Menschen mit sehr viel Leidenschaft. 

Leute reden oft über die "Psychologie von Schach". Was ist damit gemeint?
Schachturniere dauern eine lange Zeit: zwischen einer Woche und zehn Tagen. Das heißt, du musst mit einer Menge Stress umgehen können. 

Ruhig zu bleiben, ist nicht einfach. Bei der Weltmeisterschaft 2008 kam ich erst nicht zurecht, aber im Endeffekt konnte ich gewinnen, weil mein Mann mir einen Ratschlag gab: "Denk wie ein Sumoringer." Beim Schach musst du über deine Züge nachdenken, nicht über deine Gefühle. 

Woher weißt du, wann es besser ist, einer bestimmten Strategie zu folgen und wann nicht?
Wenn wir uns beispielsweise die Eröffnungen angucken – du kannst alle Informationen online finden. Mit ein bisschen Training kannst du sie dir alle merken.  Aber die besten Spieler spielen heutzutage mehr denn je improvisierte Züge. Zum Beispiel bewegen sie bei ihrem dritten Zug einen anderen Bauern, als in den Lehrbüchern üblicherweise empfohlen. 

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Warum sind die Russen so gut im Schach?
Weil in Russland Schach immer noch die drittbeliebteste Sportart ist, nach Fußball und Eishockey. Ich war auf einer sowjetischen Schule, auf der Schach einen großen Teil der Kultur ausmachte und Schachspieler hoch angesehen waren. 

Ich erinnere mich an die endlosen Spiele zwischen Karpow und Kasparow und wie Menschen im Bus oder in der Bahn sich darüber unterhalten haben. Dann gab es den politischen Aspekt: Wir, die Sowjets, wollten besser sein als die Amerikaner. 

Wie viel verdienen Spieler und Spielerinnen?
Die Preisgelder von nationalen Meisterschaften kommen auf das Land an. In Italien lag das Preisgeld für den Sieg im vergangenen Jahr bei 5.000 Euro, für die Frauenmeisterschaft bei 1.500. Zum Vergleich: Wer bei den amerikanischen Meisterschaften Letzter wird, gewinnt so viel wie die Gewinner bei den italienischen. 

Davon abgesehen gibt es aber auch in den USA einen großen Unterschied zwischen den Geschlechtern: Der Gewinner bei den Männern kriegt umgerechnet 33.000 Euro, die Frauenmeisterin nur 20.000. 

Ist die Schachwelt sexistisch?
Bedauerlicherweise sind Frauen in der Minderheit – wir sind weniger als zehn Prozent aller Spieler. Als ich in Italien ankam, war ich unter den besten fünf Spielern, aber ich wurde nie für die gemischte Nationalmannschaft ausgewählt, sondern nur für die Frauen. Es ist schwierig, Stereotype zu überwinden. 

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