Die Autorin sitzt neben einem orangen Rettungsring auf dem Flusskreuzfahrtsschiff, auf dem sie acht Tage verbringt.
Alle Fotos: Anna-Sophie Dreussi
Menschen

Winken, essen, schlafen: 8 Tage mit Rentnern auf einem Boot

Was eine Woche Zwangsentschleunigung mit mir gemacht hat.

Ich habe Angst, gefragt zu werden, was ich eigentlich hier will. Der Himmel hängt unsicher über dem Main am Frankfurter Hafen. Es ist Mitte August und die Wolken wissen nicht, ob sie sich zusammenziehen sollen. Auch ich bin unsicher und weiß nicht ganz, was mich erwartet. Und das obwohl ich eine Bezeichnung dafür habe: Einschiffen nennt man das. Ich soll an diesem Mittwoch ein Schiff besteigen, die NickoSpirit, das von Frankfurt nach Passau fährt – eine sogenannte Genussreise auf Rhein, Main und Donau. Während ich das Schiff vom Land aus beobachte – 110 Meter lang, 85 Kabinen auf drei Etagen, zwei Restaurants, eine Lounge mit Bar und Platz für 170 Passagiere und 38 Besatzungsmitglieder – halten immer wieder Autos daneben. Erwachsene Kinder laden ihre alternden Väter und Mütter ab.

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Ich muss daran denken, dass ich vier Wochen davor – der Sommer und ich hatten einander fest im Griff – in einem Saab Cabriolet saß. Das Verdeck blieb verschlossen, der Kofferraum war vollgepackt. Wir waren auf dem Weg zu F. Also eigentlich war ich auf dem Weg zu F. Die anderen beiden sind in jemand anderes verliebt. Wir waren auf dem Weg in den Sommer unseres Lebens, so wie man sich das jedes Jahr verspricht. Ich frage mich, ob man sich dieses Versprechen mit 80 auch noch macht.


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Heute treffe ich das vielleicht erste Mal in meinem Leben eine Entscheidung gegen die Aufregung und für die Langeweile. Eine Flusskreuzfahrt funktioniert ohne Zufälle. Jeder Programmpunkt ist geplant. Wie funktioniert ein Urlaub ohne Zufälle, ohne Aufregung? 

Acht Tage lang will ich lernen, mich zu langweilen. 

Eine Gruppe Rentner geht durch den Schiffseingang.

Der beige Plastikteppich, der sich über das gesamte Sonnendeck erstreckt, schimmert künstlich in der Sonne. Die Reling, Stühle und Tischchen schimmern in stumpf-metallischem Silbergrau. Effizient statt gemütlich. Auf der gegenüberliegenden Flussseite türmen sich Sand- und Kiesberge wie Dünen am Horizont. Als müssten sie beweisen, dass es für uns weit weg geht. Irgendwohin, wo Sandberge in der Nachmittagssonne glitzern könnten. Einige Gäste schreiten über das Sonnendeck. Mit kritischem Blick inspizieren sie die Sitzflächen der Liegestühle, den Raucherbereich, die Aussicht. Und um nicht aufzufallen, mache ich das auch.

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An der Rezeption auf dem Mitteldeck schäme ich mich für mein junges Alter. Mit meinen 24 Jahren falle ich unter meinen Mitreisenden auf. "Ich bin hier für die Reportage", sage ich hastig. Ich habe E-Mails an acht Kreuzfahrtunternehmen geschrieben und gefragt, ob sie mich mitfahren lassen. Nur eines antwortete positiv. Flusskreuzfahrten seien zwar eher etwas für sogenannte Best Ager, also für Menschen über 50, man würde mich aber trotzdem mitnehmen.

Die Autorin steht vor dem Schiff, das gerade in Bamberg angelegt hat.

Später sitzen wir in der Lounge auf dem Oberdeck – an die hundert Best Ager und ich. An der Bar bestelle ich Sekt mit Orangensaft, weil mir dieser Ort zu weit weg von einer Realität scheint, in der es Mimosas gibt. 

"Können Sie mich gut sehen? Können Sie mich gut hören?", ruft die Kreuzfahrtleiterin Maria Shishkina den Senioren und mir zu. Sie ist eine kleine Frau mit einer blonden Kurzhaarfrisur und dem Lächeln einer Kindergärtnerin. "Was ist das Wichtigste auf dem Schiff?", fragt sie. Ein Mann aus dem Publikum ruft ihr etwas zu, das ich nicht verstehe. "Ja, dass wir genügend Wasser haben ist auch wichtig. Aber das Wichtigste ist Sicherheit", antwortet sie. Dann haben der Kapitän und sein Steuermann ihren Auftritt. Der Kapitän Teunis van Dijk sieht aus, als wäre dieses Schiff zu klein für ihn, mit seinem Bauch, der über seinen Hosenbund ragt, mit seiner stolzen Haltung, dem gemächlichen Gang. Er erinnert an einen Dampfer, der es nicht eilig hat.

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Dem Steuermann wird eine Schwimmweste übergestreift. Dann dreht er unter dem Applaus der Gäste eine Runde durch die gesamte Lounge. Van Dijk warnt vor den unerwarteten Gefahren einer solchen Genussreise: vor tiefen Brücken, dem Abbau des Sonnendecks und dem damit einhergehenden Verlust an Aussicht – und davor, zu viel Klopapier in die Toiletten mit Vakuumsystem zu werfen. Immer wieder sagt er: "Glaub mir." Maria, die alle beim Vornamen ansprechen, aber siezen, warnt davor, dass während der Kaffeezeit keine Cocktails gemixt werden. 

Eine Gruppe Rentner geht an einem Brunnen vorbei.

Die Kreuzfahrt-Best-Agers und ich

Im Speisesaal auf dem Mitteldeck sind schon fast alle Plätze besetzt, als ich nach 19 Uhr durch die Tür trete. Ein Kellner weist mir den Platz neben einer Frau mit Haarreif und einem Mann mit Glatze zu. Wir grüßen uns. Zueinander sagen sie kaum was. Sie murmelt vor sich hin, auch die Frage, ob er nicht noch ein Bier wolle, als stünde das auf einer To-do-Liste, die sie nicht vergessen will. Irgendwann schaut sie zu mir und sagt fast schon vorwurfsvoll: "Sie sind aber still." 

Also beginne ich den Versuch eines Tischgesprächs. Worüber spricht man, wenn nichts passiert? 

"Warum haben Sie diese Reise gebucht?" 

"Es ist einfach gemütlich", antwortet meine Tischnachbarin. Um den Hals trägt sie eine Goldkette aus Ägypten, vor 25 Jahren während einer Nilkreuzfahrt gekauft. Ein Kellner klopft einem Gast am Nebentisch auf den dicken Bauch. 

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"Nehmen Sie morgen an der Weinverkostung teil?", frage ich. 

"Ich trinke keinen Alkohol."

"Und Sie?", ich drehe mich zum Mann mit Glatze.

"Ich trinke alles. Bier, Wein, Cognac", sagt er und lacht.

Es ist das Erste, was er an diesem Abend sagt. Es ist die erste Regung in seinen Gesichtszügen. Seine Lieblingskreuzfahrt war in Norwegen. Die beiden haben viele Segeltörns unternommen. "Suchen Sie sich einen Freund mit Segelschein", rät er mir.

Auf dem Oberdeck empfängt mich meine Kabine in Farben, die nichts von mir wollen. Unaufdringlich liegen grau, braun und beige nebeneinander. Die Geräusche bilden die Tonspur zum Nichts. Das Fenster surrt beim Herablassen, die Lüftung im Bad summt, die Klimaanlage pfeift. Ich lege mich im Bademantel aufs Bett. In der Nacht spüre ich, wenn das Schiff in eine Schleuse fährt. Es zittert und versichert mir, dass es weitergeht.

Marias Stimme im Lautsprecher weckt mich um 08:14 Uhr. In der Nacht haben wir in Wiesbaden angelegt. Sie erzählt vom Tagesablauf und wünscht mir und den Best Agern einen schönen Tag an Bord der NickoSpirit. Als ich den Frühstückssaal betrete, richten sich die Blicke auf mich. Verstohlen, so wie man über die Hecke in den Garten der Nachbarin schaut, die ihr Unkraut nicht zupft. Der Kapitän isst Lachs und Würstchen zum Frühstück. 

Alles an diesem Ort ist fein portioniert: die extra kleinen Wassermelonenscheiben, die Butter, der Honig, der Spaß. Die Kaffeezeit um 16 Uhr ist auf eine halbe Stunde portioniert, das Sonnenbad auf dem Sonnendeck dauert nur so lange, bis die Brücken zu tief hängen. 

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Mittags teile ich den Tisch mit einem Paar aus dem Münsterland, das auf seiner dritten Flusskreuzfahrt ist. Ich bestelle Käsespätzle. Beim Essen beugt sich der Mann zu mir und flüstert, als würde er mir ein Geheimnis anvertrauen: "Sie sind viel zu jung für diese Reise." Ich lache. Er zeigt auf eine Brücke und sagt zu seiner Frau: "Schau, hier wolltest du dein Fahrrad nicht hochtragen." Als ich danach in meine Kabine gehe, schlafe ich sofort ein.

Beim Galadinner sitze ich mit einem Paar aus Sachsen-Anhalt am Tisch. Sie redet viel und er ist rot im Gesicht. "Ich lästere gern ein bisschen, wissen Sie. Ich sage immer, das Durchschnittsalter liegt irgendwo zwischen 80 und 100", sagt sie. Über 100 Gläschen klappern auf den dazugehörigen Untertellern, während die Gäste daraus das Sorbet und die Prosecco-Pfütze löffeln. 

Ich habe schnell eine Routine auf dem Schiff. Ich lade immer dasselbe auf meinen Frühstücksteller. Eine Scheibe Brie, zwei Scheiben Tomate, Rührei, Wassermelone, eine eingepackte Butter, ein Stück Vollkornbrot, ein Mini-Pain-au-Chocolat.

Auf einem Tisch steht ein Frühstücksteller mit Rührei, Pain au Chocolat, Wassermelone, Butter, Brie.

Die Kreuzfahrt lässt dem Zufall keine Chance. Es gibt keine unberechenbare Variable. Der Plan, der jeden Abend in meine Kabine gelegt wird, sieht den ganzen nächsten Tag vorher. Das Fett trieft aus den Mini-Pain-Au-Chocolats, legt sich wie ein Film über meine Finger. Die Mayonnaise liegt dick zwischen Maiskörnern beim Light Lunch in der Lobby. Die Zeit ist zäh. Zu gemütlich schleicht sie vorbei. Alles ist wie immer. Jeden Tag.

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Ein Buffet mit verschiedenen Salaten und einer Vitrine mit Sandwiches.

Nachmittagelang sitzen wir auf der Terrasse und schauen durch die Fensterscheiben, die den Außenbereich umschließen. Sie sind grünlich getönt, als müssten sie uns versichern, dass wir da draußen nichts verpassen, dass sowieso alles ein bisschen weniger bunt ist.

Die Hallos, die die Belegschaft zur Begrüßung beim Abendessen oder im Vorbeigehen verteilt, sind weich, sanft. Mit derselben Vorsicht, mit der man sich einem Reh nähert.

Alles an diesem Ort ist fein portioniert: die extra kleinen Wassermelonenscheiben, die Butter, der Honig, der Spaß.

Winken ist auf dem Schiff ein wichtiger Zeitvertreib. An einem Abend passieren wir mehrere Campingplätze. Unter einem weißen Zelt sitzen Kinder und winken dem Schiff zu. Ich höre wie ein Mädchen einem Jungen zuruft: "Da wär ich jetzt gerne drauf, auch wenn ich mit dir im Zimmer wäre."

Eine Frau mit pinker Mütze macht ein Foto durch die getönte Scheibe.

Sommerromance und Eintönigkeit

Eigentlich will ich etwas anderes vom Sommer, vom Urlaub. Zu einem Sommer gehören für mich stinkende Straßen an einem heißen Urlaubsort und Sonnencreme, die sich beim Sprung in den Pool mit dem Wasser mischt und dann in weißen Tropfen zwischen Nase und Oberlippe hängt, und die Eisdielenservietten, die bei klebrigen Finger nichts bringen. Im Sommer muss ich in Wasser springen. Ich muss eine Sommerromance haben, die so sanft, unwichtig und zerbrechlich ist, dass sie nie eine richtige wird. Ich muss mit Fremden zu lange in einer Bar bleiben und alles annehmen, was mir angeboten wird. Ich muss spontan sein und auf alles Lust haben und eine neue Sonnenbrille suchen und alle, die ich anprobiere, hassen. Ich muss viel zu weiche Nektarinen essen, die dann auf meinen Fast-Fashion-Zweiteiler tropfen, auf den ich meine Nägel farblich abgestimmt habe. Ich muss mich über die Hitze beschweren und zum Meer fahren.

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Kreuzfahrt-Best-Agers wollen klebrigen Boden beim Buffet und auf Deutschland durch getönte Fensterscheiben blicken. Sie wollen beim Abendessen ein blechernes "Happy Birthday" aus Lautsprechern hören, sie wollen Campern am Ufer zuwinken und in ihren grau-braun-beigen Kabinen liegen. Sie wollen laut mit ihren Kindern telefonieren und Fotos von ihren Enkeln zeigen. Sie wollen zweitausend Euro für acht Nächte in einer Kabine auf dem Oberdeck zahlen. Sie wollen jeden Tag dasselbe. Sie sind dabei zufrieden. 

Vielleicht liege ich falsch mit meiner ständigen Aufregung. 

Ich muss daran denken, wie ich als Kind neben meinem Vater im Wohnzimmer saß. Wenn die Formel 1 lief, legte er sich auf die Couch und schlief irgendwann zufrieden ein, während die fast schon beruhigend eintönigen Motorengeräusche aus dem Fernseher drangen. Verstanden habe ich das als Kind nie, also das Einschlafen beim Fernsehen und das Formel-1-Schauen. Vielleicht lerne ich das jetzt. Vielleicht sind das meine Motorengeräusche: die immer gleichen Unterhaltungen beim Abendessen, die dreizehn Schleusen zwischen zwei Landgängen, die Siebenachtelhosen, die grellen Muster auf figurkaschierenden Oberteilen, die Schuhe mit Klettverschlüssen, das Winken. Ich will auch zufrieden sein in der Eintönigkeit.

Eine Gruppe Renter steht aufgereiht auf dem Sonnendeck vor einer Schleuse.

"Man muss es einfach genießen. Es bleibt einem nichts anderes übrig", ruft eine Frau am Sonntagmorgen über das Sonnendeck. Frankfurt, Wiesbaden und Wertheim liegen hinter uns. Das Schiff liegt im Hafen von Würzburg. 

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Der zweite Kapitän sitzt auf einem der Stühle am Sonnendeck und tippt auf seinem Handy. Seine rot-blaue Krawatte zieren weiße Blumen. Als ich mich bei ihm vorstelle, springt er auf und schüttelt meine Hand: "Adrie, freut mich." In seinen Mundwinkeln hängt immer der Hauch eines Lächelns, während er erzählt. Er zeigt mir den Steuerstand, die Kabine der Kapitäne.

Zwischen leuchtenden Knöpfen und Anzeigen wuchern Mikrofone. Auf einer Ablage steht holländische Kaffeesahne in Pulverform. Adrie übernimmt als zweiter Kapitän immer die Nachtschichten. Auch seine Frau ist Kapitänin. Seine Eltern steuerten Frachtschiffe. Adries ganzes Leben passierte hinter dem Steuer, an Bord, auf dem Wasser. Die vergangenen Tage fühlen sich für mich auch wie ein ganzes Leben an. Ein ganzes Leben auf dem Wasser. Ein ganzes Leben fein portioniert auf 150 Metern Sonnendeck und 14 Quadratmetern Kabine. 

Der zweite Kapitän steht im Steuerhäuschen.

Das leise Klirren der Gläser und die Unterhaltungen von drei Frauen beim "Mensch ärgere dich nicht"-Spielen klingen nach Nachmittag. Ein Mann erzählt, dass ihn seine Kinder auf diese Reise geschickt haben, seine Frau sei gestorben. Andere Gäste lesen Zeitung und blättern raschelnd um. Ich bin fast überrascht, dass noch Dinge passieren, über die man schreiben kann, dass mehr unseren Tag bestimmt als die Schleusen oder Brücken, die bei der Durchfahrt ihren Schatten durch die Lounge ziehen.

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Im Sommer will ich, dass alles groß und wichtig ist. Aber diese Reise fühlt sich an, wie viele Sonntage aneinandergereiht. Und Sonntage sind nicht groß oder wichtig. Sonntage sind unscheinbar, Sonntage sind zäh und lang und bewölkter Himmel und in den Sessel sinken. An Sonntagen passiert nichts. Vielleicht bin ich auch ganz froh darüber. 

Auf dem Schiff ist jeder Tag ein Sonntag

In Italien lagen wir vor ein paar Wochen zu viert auf zwei Liegen am Pool und starrten für zwei Stunden in den Nachthimmel. Ich hatte Angst, zu blinzeln. Gleich könnte die größte Sternschnuppe durch den Himmel rauschen. Und als wir am nächsten Tag allen davon erzählten und beteuerten, dass Sternschnuppen auch ein Geräusch machen, wenn sie vorbeizischen, wusste ich: Ich will das Erleben niemand anderem überlassen.

Aber vielleicht lag ich falsch. Denn hier geht es mir ganz gut. Hier im Nichts zwischen Gesundheitsschuhen und schrumpfenden Menschen, die mir zulächeln, wenn ich sie auf der Treppe vorlasse. Nachts sitze ich in meiner Kabine. Vielleicht ist auch das Urlaub: Stille untermalt von einer Klimaanlage. Das schwimmende Nichts auf Rhein, Main und Donau.

Auf Würzburg folgen Bamberg und Nürnberg. Die Reise neigt sich schon einem Ende zu – und das, obwohl ich mich erst jetzt damit abgefunden habe. 

Beim Abschiedssekt in der Lounge wird die gesamte Belegschaft vorgestellt. Während ich dasitze und den begeisterten alten Menschen zuschaue, muss ich an Touristen denken. Touristen, die vor Schlossfassaden posieren oder auf Denkmäler zeigen. Die schaue ich immer an und vergesse dabei, dass es Orte gibt, an denen sie keine Touristen sind. Also Orte, an denen sie nicht ständig Leuten im Weg stehen und sich stundenlang in Schlangen stellen, um sich vor irgendwelchen Sehenswürdigkeiten abzulichten. Ähnlich geht es mir hier in der Lounge. Wenn ich hier sitze zwischen klatschenden Händen und Handys, die zittrig hochgehalten werden, vergesse ich, dass es Orte gibt, an denen die Rentner nicht Kapitänen und Matrosen zuklatschen oder mit umständlichem Griff ihre Handys in die Luft halten. Hier passen sie hin. Und ich auch. Ich klatsche mit.

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Den Abend will ich noch in der Lounge ausklingen lassen, so wie mir das zwei Frauen mal an einem anderen Tag empfohlen haben. Der Bordmusiker Cliff hat lange auf Hochseeschiffen gespielt, zum Beispiel auch die britische Sängerin Bonnie Tyler begleitet. Darauf hat er jetzt aber keine Lust mehr. "Ich habe so viel Wasser gesehen, da müsste ich zwei Jahre nicht mehr duschen." Dann zeigt er auf einen Tisch am Fenster. "Da vorne sitzen meine Fans. Für eine Dame spiele ich dann immer einen Tango." Bevor er anfängt, Keyboard zu spielen, gibt er mir einen Flyer mit seinen Kontaktdaten. Er kenne ein gutes Restaurant in Dresden.

Es ist mein letzter Abend und ich muss an meine letzte Woche in Italien denken. Wir zogen die Zeit für das erste Weinglas nach vorne, weil wir mit dem nahenden Ende des Urlaubs unter Zeitdruck gerieten. Es gab ja noch viel zu erleben. Am Nachmittag saßen wir dann um den Pool und microdosten, weil wir jung waren und uns alles stand. Auf dem Weg zum Haus hörte ich ein Lied, in dem der Sänger über "Love" singt, wie alle Sänger. Und ich wusste, es geht um mich. Es ist Sommer und wir erleben alles. Zeitdruck. 

Heute ist mein letzter Abend auf dem Schiff und ich spüre keinen Zeitdruck.

Bevor ich mich ins Bett legen kann, passt mich eine alte Frau vor meiner Kabinentür ab. "Ihre Bluse hat für Aufregung gesorgt beim Abendessen", sagt sie und grinst. Meine Bluse hat einen Rückenausschnitt. Ein Mann, der an uns vorbeigeht, ruft uns zu: "Also meine Frau fand die toll." 

Die Durchsage an meinem letzten Tag kommt um 08:38 Uhr. Am Nachmittag fährt das Schiff weiter nach Passau. Ich steige schon in Regensburg aus.

Der Barkeeper aus der Lounge sieht mich mit meinem Koffer und hebt fragend die Augenbrauen. "Ich reise schon ab", sage ich entschuldigend. Auf dem Sonnendeck sitzen ein paar Gäste und ich schaue mich ein letztes Mal um, bevor ich meinen Koffer und mich an Land manövriere. 

Wahrscheinlich ist Sommer mehr als nur Erleben oder ungezwungene Sommerromances. Wahrscheinlich fahre ich jetzt zu F. Manchmal ist Sommer ernst, wie viele Sonntage aneinandergereiht. Wahrscheinlich mag ich Sonntage.

Beim Weggehen drehe ich mich noch mal um. Irgendwo geht die Welt unter, aber dieses Schiff scheint für immer weiterzufahren. Die Donau ist unendlich. Irgendwo gibt es Aktienkurse. Irgendwo laufen Steuererklärungsfristen ab. Irgendwo werden Busse verpasst. Irgendwo gibt es die Welt, aber auf dem Schiff ist sie uns egal. Als ich im Bus sitze zum Bahnhof, zurück in die Welt, verpasse ich meine Haltestelle.

Ein Schild auf dem Closed steht, hängt vor einer Treppe, die zum Sonnendeck führt.

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