VICE-Autor Robert Hofmann beißt am Reinufer in Bonn in einen Döner. Daneben ein Bild vom Langen Eugen. Robert Hofmann sucht in Bonn nach Heimatgefühlen, will sich aber auch für immer von der Stadt verabschieden und begibt sich deshalb auf Abschiedstour
Ich (links) bin der Topf voll Gold und der Lange Eugen (rechts) ein ruhmloses Wahrzeichen der Polit-Bürokratie. Guten Appetit | Alle Fotos: Hakki Topcu
Menschen

Warum ich es liebe, dass die Stadt Bonn jede Bedeutung verloren hat

Bonn war nie schön oder groß, aber es war wenigstens mal was. Meine Heimat zum Beispiel. Oder Hauptstadt. Heute ist Bonn nichts mehr.

Seitdem das Loch fehlt, ist Bonn noch beschissener. Aus den Überresten wächst jetzt ein riesiger, dunkler Gebäudekomplex. Bonn, wie das Loch, war nie schön oder groß, aber es war wenigstens mal was. Meine Heimat zum Beispiel. Oder Hauptstadt. Heute ist Bonn nichts mehr, und als ich mit dem ICE aus Berlin einfahre, um mich ein für alle mal zu verabschieden von dieser Stadt, da finde ich das auch gut.

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Das Loch war schmutzig und lag gegenüber vom Bahnhofs-Hauptgebäude. Darin trafen sich die Obdachlosen, Alkoholiker und Drogenabhängigen. Heute würde ich da wahrscheinlich alte Schulfreunde finden oder selbst drinsitzen, aber es ist ja nicht mehr da und damit auch ein Teil meiner Jugend. Diese Jugend will ich während meines Besuchs suchen, denn mein Vater zieht bald weg aus Bonn, und ich will mich verabschieden. Ich will die Orte sehen, die ich damit verbinde und die mich zu dem gemacht haben, der ich bin. Ein Typ, der mehr ist als die Stadt, aus der er kommt.

Ich verlasse den Hauptbahnhof durch den Hintereingang. Früher schlief ich bei der Gelegenheit bei meiner Mutter, bei der ich auch aufgewachsen bin. Seit einigen Jahren will ich das nicht mehr. Mein Vater holt mich mit seinem Golf ab. Seit ein paar Jahren holt er mich jedes Mal ab, wenn ich zu Besuch komme. 

"Hopfenstube, City Pick und Cala D'or. Das Dreigestirn der wochenendlichen Selbstzerstörung."

Ein paar Meter neben dem Loch, das vor einigen Jahren zusammen mit den Gebäuden drumherum restlos abgerissen wurde, weil es als nicht mehr zeitgemäß galt, lag alles, was mir mit 19 und 20 wichtig war: meine Stammkneipe, mein Stamm-Gyrosstand und meine Stamm-Billig-Pizzeria. Hopfenstube, City Pick und Cala D'or. Das Dreigestirn der wochenendlichen Selbstzerstörung. Der asbestbetongewordene Bukowski-Lifestyle.

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Mein Vater fährt mich in seine Wohnung. Da habe ich ein eigenes Zimmer. Noch. Am Wochenende werden wir sein Büro ausräumen. In wenigen Monaten wird er Bonn ganz verlassen. Er zieht nach Bayern, zu der Frau, die er letztes Jahr kennengelernt hat. Ich freue mich für ihn, selbst wenn sein Abschied aus Bonn auch meiner sein wird.

Für meine Abschiedstour habe ich mir eine Route zusammengestellt. Die soll erstens meine Nostalgie wecken und mir zweitens zeigen, was für ein Glück ich habe, nicht mehr in dieser Stadt zu wohnen. Denn der Esprit von Bonn war schon in den Rhein gesuppt und fortgeschwemmt, lange bevor ich ging. Ich, ein Mann von Welt, will nun ein letztes Mal herabblicken auf diese Stadt, die sich zwar UN- und Bundesstadt nennt, dabei aber genauso bedeutungslos ist wie ihre erfundenen Titel. 


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Bonn ist so alt wie Jesus, etwa 2.000 Jahre. Nur zwei Dinge unterscheiden die beiden: Erstens haben die Römer Bonn nicht getötet, sondern gegründet, und zweitens ist Bonn auch gar nicht tot, sondern nur scheintot.

In Bonn sitzt nach wie vor das DAX-Kapital, mit der Deutschen Post und Telekom. Bundesministerien haben hier ihren Dienstsitz, sogar die UN füllt ein Hochhaus mit Büros. Die Straßen sind nicht nur langweilig aufgeräumt und sauber, sondern auch voll mit Autos und Menschen, die sich nicht ärgern über die Autos. Bonn ist einfach eine Stadt für Boomer.

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Eine Stadt, die von Boomern, ihren Eltern und Großeltern für Boomer geschaffen wurde. Und alle, die hier leben, müssen sich damit arrangieren, also selbst zu Boomern werden. 

"In Kneipen hingen Fotos ihrer Besitzer mit Politikern, die eines Nachts besoffen reingestolpert waren."

Die Bundespolitik war in meiner Kindheit noch omnipräsent und leuchtete auch in meiner Jugend noch an verschiedenen Ecken der Stadt auf. In Kneipen hingen Fotos ihrer Besitzer mit Politikern, die eines Nachts besoffen reingestolpert waren. Die Straßen eines ganzen Stadtviertels tragen bis heute Namen einer längst vergangenen Zeit, in der die Sowjetunion noch der Gegner links war und nicht die Antifa, Radfahrer und Seenotretter. 

VICE-Autor Robert Hofmann kauft beim Bundesbüdchen in Bonn zwei Kaffee

Am Bundesbüdchen bestellten Politiker früher ihre Würstchen. Heute gehen sie dafür in die Kantine im Bundestag

In der Unterstufe verließen zahlreiche Mitschüler meine Klasse, weil ihre Eltern – wichtige Diplomaten oder unwichtige Bürokraten – mit der Regierung nach Berlin zogen. Die Sommerfeste meiner Grundschule bekamen jedes Jahr Besuch von Guido Westerwelle, der damals weder Außenminister noch schwul war, weil er eben in einer Boomer-Stadt lebte, in der das nicht ging. Er wohnte auf der anderen Straßenseite der Schule, bis sein Vater starb oder die Wohnung ausbrannte oder man als Politiker eben keinen Wohnsitz in Bonn mehr brauchte. 

Meine Tour beginnt bei meinem Papa weit oben in Ippendorf. Das liegt auf dem Venusberg. Ich sause diesen also runter gen Innenstadt. Die Schlaglöcher auf der steilen Straße haben mir früher Angst gemacht, ich konnte hier nur mit gezogener Handbremse runterfahren. Mein Kumpel Rafael, der natürlich anders heißt, hat sich auch mal den Arm gebrochen, als wir besoffen mit dem Skateboard runterfahren wollten. Heute liebe ich den Fahrtwind, der mir die Ohren frieren lässt.

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"Ich glaube, ein Mensch wird am meisten geprägt durch die Zeit, in der es ihm am schlechtesten geht. Und mit 15 geht es jedem schlecht."

Auf dem Fahrrad höre ich das Album Significant Other von Limp Bizkit. Das ist die Musik, die ich mit 15 gehört habe, damals noch auf dem Discman. Ich will in Stimmung kommen. Ich glaube nämlich, ein Mensch wird am meisten geprägt durch die Zeit, in der es ihm am schlechtesten geht. Und mit 15 geht es jedem schlecht. 

Die Breitestraße in Bonn im Winter

Wenn die Kirschen blühen, kommen Influencer aus aller Welt in die Breitestraße, als gäbe es woanders keine pinken Bäume

Zuerst fahre ich zu dem Haus, in dem ich großgeworden bin. Es ist mintgrün gestrichen, das fand ich immer schon geil. Die Häuser daneben sind gelb und rot. Ich weiß nicht, ob die Eigentümer sich abgesprochen haben, dass sie die Straße gern zum Karneval erklären möchten, oder ob da einfach nur ein paar Clowns zufällig ihre Immobilien nebeneinander gekauft haben. Einer von ihnen war mein Opa. 

"Regelmäßig musste ich meine Süßigkeiten an eine der marodierenden Banden abtreten."

Das Haus steht in der Altstadt. Die wirklich alten Teile der Stadt wurden im Krieg zerbombt. Trotzdem schwadroniert hier niemand von einem Bombenterror oder schlimmeren NS-Relativierungen. In meiner Kindheit war die Altstadt noch ein Drecksloch. Regelmäßig musste ich meine Süßigkeiten an eine der marodierenden Banden abtreten. Als ich weg war, eröffnete bald ein Club, der "Kreuzberg" hieß. Mittlerweile musste er schließen – wegen Lärmbeschwerden. 

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Da oben im zweiten und dritten Stock haben wir gewohnt. Mein Bruder, meine Mutter, ich und der Hund. Den mochte ich damals am liebsten, er war der einzige, der zu mir stand, auch wenn ich mich mit den anderen mal wieder aus einer wütenden Raserei heraus zerstritten hatte. 

VICE-Autor Robert Hofmann vor dem Haus, in dem er in Bonn aufgewachsen ist

Ich wüsste heute noch, wie ich mit einer Kreditkarte ins Haus komme

Wenn ich morgens aufstehen musste, meine Mutter aber keine Lust hatte, sich meiner schlechten Laune auszusetzen, musste sie dem Hund nur sagen: "Lucy, geh den Robert wecken." Schon schoss der schwarze Pudel in mein Zimmer, sprang in mein Bett und schleckte mir das Gesicht ab, bis ich voller Liebe aufstand und dem Tag dankte, dass es diesen Hund gab. Auf die Schule hatte ich trotzdem keine Lust.

Während meiner Pubertät zog dann der neue Boyfriend der Mutter ein. Anfangs gaben wir uns Mühe. Nach zwei, drei Jahren nicht mehr. An einem Heiligabend als ich 19 oder 20 war, schmissen die beiden mich raus. Das war einerseits ein Schock. Andererseits eine Erleichterung, weil ich für ein bisschen Selbstständigkeit mehr als bereit war.

Ich zog im nördlichen Tannenbusch, einem schmuddeligen Randbezirk, in eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung. Sie lag in einem riesigen Wohnkomplex, der einmal supermodern gewesen sein soll. In den Fluren gab es Klappen, durch die der Hausmüll in den Keller plumpste. Später waren die Klappen versiegelt, weil die Ratten es geschafft hatten, das ausgeklügelte System für sich zu nutzen, und zu Dauergästen in den Wohnungen wurden. 

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VICE-Autor Robert Hofmann pinkelt an einen Busch

Alles für den Kontrast

Das Haus war orange gestrichen und wirkte einladend. Trotzdem traute ich mich abends nur selten, meine Wohnung zu verlassen. Auf dem ewig langen, spärlich beleuchteten Korridor mit unzähligen Türen konnte hinter jeder einzelnen eine gierige Gefahr lauern. Im Treppenhaus saßen oft Jugendliche, die rauchten und mindestens genauso gefährlich wirkten. 

Ich war also ein weicher, kleiner Mittelstandsboy ohne jede Lebenserfahrung, auch wenn ich dreimal die Woche zum Boxtraining ging und zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben keine Plauze mit mir herumschleppte. Ich sah mich schließlich nicht nur als Bukowskis Erbe, weil ich so gern Dosenbier trank, sondern auch als der von Hemingway, weil ich mir gern vorstellte, wie ich afrikanisches Großwild schoss, hochseefischte und dabei Nazi-U-Boote jagte.

Ich fuhr also morgens zu meiner Zivildienststelle, drückte mich dort vor der Arbeit und fuhr abends wieder heim, um rumzuhängen. Und doch war mein Leben im Bonner Norden ein gutes. Es war geprägt von Selbstwirksamkeit. Wenn ich einkaufen ging, hatte ich zum Beispiel etwas zu essen, wenn ich putzte, war es sauber, und wenn ich mir ein Würstchen briet, roch die ganze Wohnung tagelang nach Fett. Ich lebte Selbstständigkeit, hatte ständig Freunde da und fühlte mich in dem Schmutz um mich herum so frei wie nie – und wie Charles Bukowski persönlich.

Und doch käme ich heute nicht mehr auf die Idee, nach Tannenbusch zu fahren, um mich darin wiederzufinden. Heimat bleibt für mich die Wohnung in der Altstadt. 

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Aber meine Mutter hat sich mit ihrem Mann ein Haus auf der anderen Rheinseite gebaut. So spricht man in Bonn von den Vierteln, die man nur ungern besucht, weil man dafür eine Brücke überqueren muss. Auch wenn sie nur eine halbe Stunde zu Fuß entfernt liegen. 

Mir fehlt in dem neuen Haus das Gefühl des Heimkommens. Es ist kalt und steril. Hier sind keine Erinnerungen an die schönen Dinge meiner Kindheit. Der kleine Pudel hat hier nie gelebt. Es ist kein Ort, an den ich komme, um mich in der Nostalgie einzunisten. Kein Platz, an dem das Leben einfacher ist als in der Ferne, wo ich selbstständig sein muss. Bei meinem Vater fühle ich mich wohler. Obwohl ich dort nicht aufgewachsen bin.

"Für Leute wie mich, die in seinem Schatten aufgewachsen sind, ist es Heimat. Für alle anderen ein grauer Klumpen, architektonischer Müll."

So richtig nach Hause komme ich also schon länger nicht mehr, wenn ich nach Bonn fahre. Ich radle zum Stadthaus, in dem die Stadtverwaltung sitzt. Für Leute wie mich, die in seinem Schatten aufgewachsen sind, ist es Heimat. Für alle anderen ein grauer Klumpen, architektonischer Müll. 

VICE-Autor Robert Hofmann vor dem Stadthaus in Bonn

Robert Hofmanns Kindheit (Symbolbild)

Früher hing mal eine Glasfassade vor dem Gebäude. Eines Nachts fiel sie ab, einfach so. Tonnenweise Glas, das auf die Erde regnete. Am nächsten Morgen räumte die Stadt die Splitter weg, als wäre nichts. Als Bonn Hauptstadt war, hätten gewiefte Hauptstadtjournalisten witzige Glossen über den maroden Zustand der Bonner Republik und seiner Gebäude geschrieben. Heute ist man nur froh, dass niemand drunter stand, als es passierte.

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Auf der Platte vor dem Eingang zum Stadthaus haben zwei Freunde und ich uns immer vor der ersten Schulstunde getroffen. Wir haben es "Joggen" genannt und dann Kippen und manchmal Joints geraucht. Vor dem Fahrstuhl, hinter dem großen Pfeiler, ist die Ecke, an der ein Kumpel und ich mal übernachtet haben. Ein Akt sinnloser Rebellion. 

Er hatte gesagt, er schlafe bei mir, ich hatte gesagt, ich schlief bei ihm. Wir hatten Decken dabei und Kissen und legten uns einfach da hin. Wir tranken noch nicht mal Bier, rauchten kein Gras. Wir breiteten einfach die Decken aus, wickelten uns darin ein, unterhielten uns fünf Minuten und schliefen ein wie zwei Kinder im Ferienlager. 

Meine Mutter fand das natürlich heraus, weswegen ich die nächsten Wochen keine Freunde sehen durfte. Zwei Wochen Hausarrest. Rückblickend bestand meine Jugend aus jeweils einem lustigen Wochenende und zwei Wochen in Isolation. Und lustig bedeutete entweder exzessiv oder dümmlich renitent. Oder beides.

Ich fahre über den Marktplatz. 2005, als die Beamten größtenteils schon in Berlin waren und Westerwelle bereits schwul, machte Schröder hier Wahlkampf. Es fühlte sich an, als ob der Kanzler heimgekommen wäre.

Ich war 2005 sozialdemokratisch – oder glaubte das zumindest – und begrüßte Schröder mit der Internationalen. Sofort zischten meine Juso-Kollegen mich an, wiesen mich zurecht. Der Kanzler sei da, verdammt. Unter Willy Brandt hätten die Jusos noch mit eingestimmt, aber das war die Bonner Republik, und heute kam Schröder nur zu Besuch. 

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Dann fahre ich am Hofgarten vor der Uni vorbei. Der ist legendär, weil er Schauplatz der Studierendenproteste war, die sich gegen alles richteten, was die Eltern der Boomer toll fanden. 

Aber NATO-Doppelbeschlüsse, wer weiß heute schon noch, was das ist. Nun ist der Hofgarten nur noch Liegewiese und Drogenumschlagsplatz. Zumindest wenn man kein dummer Schüler ist, der sich für einen Zehner wahlweise Kräuter oder eine Faust auf die Nase andrehen lässt. Und gerade sitzen hier auch nur ein paar Krähen und suchen den Rasen nach Nahrung ab.

Die Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn mit Hofgarten

Protestmarsch

In kaum einer anderen Stadt ist das Studentenleben so schmuddelig wie in Bonn. Wenn ich den Absprung nicht geschafft hätte, hätte ich auch hier studiert und wäre in illustrer Gesellschaft gewesen. Die deutschen Kaiser Friedrich III., Wilhelm II. und Konrad Adenauer lernten hier, wie man die Geschicke eines Staates lenkt, notfalls bis in den Weltkrieg. Auch Armin Laschet und Friedrich Merz haben hier studiert. Und von denen wird mindestens einer bald fast deutscher Kanzler geworden sein. 

Ich laufe durch die Südstadt, ein Zahnarzt-, Anwalts- und Immobilienhai-Viertel. Hier residieren die Studentenverbindungen, auf deren Partys ich als Abiturient ging, weil es die einzige Möglichkeit war, den Zahnarzt-, Anwalts- und Immobilienhai-Töchtern aus meiner Schule nah zu sein. Die wiederum standen natürlich nur auf die schmucken Verbindungsjungs, die schon studierten und Partys mit billigem Alkohol schmissen. Die mit den gegelten Scheiteln, den steifen Kragen und glattrasierten Babypogesichtern. Einige trugen Narben im Gesicht und an der Wand hatten sie Fotos vom Kaiser.

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Ich halte vor meiner Schule. "Beethoven Gymnasium" steht auf dem weiß verputzten 60er-Jahre-Gebäude. Ich glaube, keine Zeit prägt einen mehr als die Schulzeit. 

Noch heute schrecke ich manchmal nachts hoch, weil die Schule mir im Traum mitgeteilt hat, dass mir das Abi aberkannt worden sei und ich ein weiteres halbes Jahr den Matheunterricht besuchen müsste. 

Neben der Eingangstür hängt eine Plakette für den berühmtesten Schüler, der nicht ich ist, deshalb lese ich den Text dazu nicht.

Die Schule liegt direkt am Rhein, man kann auf das Wasser schauen, das ist schön. Irgendwo am anderen Ufer lebt meine Mutter. Trotz Lockdown ist der Schulhof nicht abgesperrt. An der Wand prangt noch das Mural, das Matthias damals zu unserem Abi sprayen durfte, "Fluch der Kabirik". Ich suche meinen Namen, aber als ich ihn finde, spüre ich nichts. Seltsam.

Der Schulhof ist größer, als ich ihn in Erinnerung habe. In der Mitte steht jetzt ein Klettergerüst. Die Treppe runter ist der Raucherhof. Ich habe mal in einem flammenden Plädoyer für die Schülerzeitung gefordert, dass er für Zehntklässler geöffnet und auf das ganze Schulgelände erweitert wird. Es wurde nie abgedruckt, genauso wenig wie meine anderen Texte.

VICE-Autor Robert Hofmann machte Klimmzüge auf dem Schulhof seines Bonner Gymnasiums

Weck den Tiger in dir

Es ist faszinierend, wie beklemmend ein so großer und leerer Ort sein kann. Ich stehe in der Mitte des Schulhofs und fühle mich plötzlich zurückversetzt. Ich spüre alles auf einmal: Ich habe meine Hausaufgaben nicht gemacht; mein Crush steht nicht auf mich; mein Körper kribbelt, ich will rauchen; nächste Woche schreibe ich eine Klassenarbeit und weiß, dass ich nichts dafür tun werde; ich habe Hausarrest, später werde ich wieder nur fernsehen. Als ich das Schulgelände verlasse, atme ich tief ein. Jetzt darf ich einfach wieder gehen.

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Wenn ich heute meine Bonner Schulfreunde treffe, dann passen wir nicht mehr so richtig zusammen. Sie beschimpfen mich als links, als Großstädter. Was das denn solle mit meinem Gender-Kram, dem Wunsch nach autofreien Innenstädten, der Umverteilungs-Hetze. Ich bin eine Zecke für sie, und das ist komisch, weil ich doch vor knapp 20 Jahren selbst noch Leute als Zecke beschimpft habe. Sie fahren heute mit dem Auto zum Supermarkt, wählen CDU, kaufen Häuser, und zwei-, dreimal die Woche kommen ihre Eltern auf Kaffee und Kuchen vorbei. Ich sehe meine Eltern eigentlich nur, wenn ich mal nach Bonn komme.

Aber obwohl wir nicht zusammenpassen, treffen mein Kumpel und ich uns fast jeden Abend, wenn ich zu Besuch bin, um zusammen Command and Conquer: Generals zu spielen. Jedes Mal nehmen wir uns vor, dass wir es einmal online spielen wollen, ich in Berlin, er in Bonn. Aber wenn wir nicht zusammen in einem Raum sitzen, Whiskey trinken und dumme Witze über die Mutter des anderen machen, ist es nur noch ein 18 Jahre altes Spiel, das mittelmäßig gealtert ist. 

Und natürlich reden wir an diesen Abenden nicht nur über unsere Mütter. Nach ein paar Schnäpsen sprechen wir auch über unsere Sorgen, obwohl wir die des anderen kaum nachvollziehen können. Aber die Freundschaft ist immer noch da. Sie fühlt sich immer noch gut an und in gewisser Weise echter als meine Berliner Freundschaften. In Berlin geht es immer auch ums Tagesgeschäft: Der hat mit der und hast du schon gehört? In Bonn geht es um die Grundlagen, um das, was vom Menschen übrig bleibt, wenn man seinen Alltag abzieht.

Bevor ich wieder nach Hause zu meinem Vater fahre, gehe ich noch einen Döner essen, beim Orient Express am Bertha-von-Suttner-Platz. Früher galt der als der beste Döner Bonns, und ich war fast täglich da. Heute ist er immer noch gut, vor allem aber besser als die Berliner Döner: die gleiche süße Großmarkt-Soße, das gleiche matschige Billig-Fettfleisch. In Bonn schmeckt jeder Döner anders und die meisten gut. Sie sind nicht so auf den Massengeschmack zugeschnitten. 

VICE-Autor Robert Hofmann isst einen Döner am Rhein in Bonn. Im Hintergrund sieht man die Kennedybrücke und einen Regenbogen.

So schmeckt der Sommer

Den Döner esse ich am Rhein. Er ist köstlich, der Fluss wunderschön. Das andere Ufer ist weiter entfernt als bei den meisten Berliner Seen. In der Ferne leuchtet ein Regenbogen. Das ist so kitschig, dass man es fast nicht glauben will. Zum Glück gibt es ein Foto.

Ich bin ich völlig durchgeschwitzt, als ich nach meiner Tour wieder bei meinem Vater ankomme. Ich trage meinen orangenen Regentrenchcoat, der kein Wasser rein-, aber auch keins rauslässt. Auch wenn ich vom Döner noch satt bin, freue ich mich auf das gemütliche Abendessen mit dem Vater.

Als ich Bonn verlassen habe, war ich ein anlassloser Rebell, der das Große, die Bedeutung, den Konflikt in der Welt suchte. Heute komme ich zurück und kriege vor allem Harmonie und Ruhe. Hier hat sich alles verändert, aber ich ja auch. Bonn ist schicker geworden, sauberer. Und das ist das, was ich brauche, wenn ich hier bin. Es ist sogar das, was ich will.

Das ist bald alles vorbei. In ein paar Tagen fahre ich zurück nach Berlin. Wenn wir uns sehen wollen, wird mein Vater mich in Berlin besuchen kommen. Er im Hotel, ich in meinem WG-Zimmer. Meine Besuche in Bonn sind dann Vergangenheit, weil er in Bayern leben wird. 

Am Ende ist es völlig egal, ob es die Stammkneipe und den Gyrosstand aus meinem früheren Leben noch gibt. Heimat ist da, wo man zur Ruhe kommt, weil die Menschen einem Ruhe geben. Wie mein Vater, der für mich einkauft, mir ein Bett bereitet und sich Zeit nimmt wie mein Kumpel, über dessen Mutter ich lache. Mit meinem Vater zieht die Ruhe aus Bonn weg. Bonn wird mir fehlen.

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