Collage mit Serien-Charakteren: Joe Exotic, Bojack Horsemann, Walter White
Illustration: Sandra Bayer
Popkultur

Bingewatching: Wie ich versuche, von meiner Streaming-Sucht loszukommen

Wenn ich ehrlich bin: Das letzte Jahr habe ich mit Laptop auf den Beinen im Bett verbracht.

"Sind Sie noch da?", fragt mich der Bildschirm höflich. Er reißt mich in die Realität zurück wie das Schnipsen nach einer Hypnose. Kurzer Faktencheck: Ich befinde mich immer noch im Corona-Lockdown und sehe mir seit acht Stunden eine britische Datingshow an. Ich lecke mir die Finger ab, fische die Krümelreste aus den Ecken der Chipstüte und klicke auf den "Fortsetzen"-Button.

"Nein Netflix, lass mich endlich in Ruhe", würde ich gern erwidern. Doch ich kann nicht. Ich habe es mit dem Streaming in der Quarantäne so übertrieben, dass ich es nicht mehr leiden kann. Mein Exzess versaut mir mein Lieblingshobby.

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Dabei behaupten alle, dass das Glotzen gerade jetzt so viel Spaß mache. Mit Streaming verhält es sich für junge Menschen so wie mit dem Biergarten für die Bayern, es ist ein Kulturgut. Während wir uns im echten Leben so sehr auf uns selbst konzentrieren, finden wir in der Fiktion wieder zusammen.

Bingewatching oder der "Staffellauf im Sitzen", wie es Deichkind zuletzt treffend besungen haben, ist zur Selbstverständlichkeit geworden. Serien zu bingen, ist ein fester Programmpunkt der sonntäglichen Self-Care-Orgie, es soll uns gut tun.

Ich gehöre zu den Menschen, die sich diesem Lifestyle verschrieben haben. Die Tragödie in Serie ist mein Opium: Ich brauche den Heulkrampf, wenn Breaking Bad vorbei ist, oder die kleinen Ästhetik-Orgasmen bei den Kamerafahrten in True Detective. Diese Emotionen helfen mir dabei, mich menschlich zu fühlen.

Mein Netflix-Verlauf ist mein Bücherregal zum Angeben, meine kulturelle Visitenkarte, mein Statussymbol. Ich habe alles gesehen, was auf deiner Liste steht, selbst die primitivste Soap. Ich bin der Großkotz, der dich darauf hinweist, dass du dich schämen solltest, wenn du Serien nicht im Originalton anschaust.


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Doch mein Selbstbild beginnt zu bröckeln. Denn wie der Alkoholiker, der nicht mehr nur im Biergarten sitzt, weil ihm die Maß so schmeckt, sitze ich nicht mehr vor dem Fernseher, weil ich eine Serie spannend finde. Sondern weil ich nicht mehr anders kann.

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Eigentlich könnte man mich gleich künstlich ernähren und mir einen Katheter legen, damit ich mich gar nicht mehr aus meinem vollgeschwitzten Bett erheben muss.

Ich plane sorgfältig die Tage ein, die ich mit heruntergezogenen Jalousien im Bett verbringe. Ich freue ich mich über schlechtes Wetter, jeder Sonnenstrahl, der es durch die Schlitze schafft, wird zum Nadelstich für mein Gewissen. Das Handy schalte ich aus, damit mich keiner der Freunde, die gerade im Park Frisbee spielen, erreicht. Es würde mir nur den Spiegel vorhalten, wie sehr ich meine Zeit verschwende.

Auch mein Konto leidet unter dem Exzess: Wenn ich suchte, bestelle ich gern zwei mal am Tag beim Lieferservice. Fürs Kochen müsste man aufstehen, auf Pause klicken. Eigentlich könnte man mich gleich künstlich ernähren und mir einen Katheter legen, damit ich mich gar nicht mehr aus meinem vollgeschwitzten Bett erheben muss.

Netflix & Co. füttern meine Sucht dabei wie der skrupellose Straßendealer aus Klischee-Drogenfilmen. Sie veröffentlichen Serien immer häufiger in ganzen Staffelblöcken und geben mir so genau das, was ich mir früher immer wünschte, als ich noch eine ganze Woche nach Nachschub gieren musste.

Die Vorfreude ist weg. Die Aufregung vor der feierlichen Zeremonie, auf die man sich schon seit Tagen in Gedanken vorbereitet. Für die man selbst Pizza backt. Die Staffelblöcke nehmen mir das Gefühl, zu Hause ins Kino zu gehen.

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Die einzelnen Episoden werden zu Checkpoints, die ich nur abklappere, um ans Ziel kommen. Durch die Autoplay-Funktion zwingen mich die Anbieter zum Nachlegen und heucheln dann auch noch Fürsorge, indem sie nach vier Stunden fragen, ob ich noch da bin. Das Kinogefühl weicht der Hetzjagd nach dem Abspann. Ich fühle mich wie diese Menschen, die Sex nur genießen, wenn sie zum Orgasmus kommen.

Lange Zeit liebte ich meinen Eskapismus. Das gezielte Eintauchen in eine fiktive Welt. Egal ob Lesen, Zocken, oder Serien schauen: Das Abkapseln war für mich immer mehr heilende Kraft als die gefährliche Realitätsflucht, vor der unsere Eltern und Pädagogen mit erhobenem Zeigefinger warnten. Es war Meditation.

Ich verliebte mich auch in die Charaktere. Wie sehr hat sich mein Zigarettenkonsum gesteigert, weil es bei Hank Moody in Californication so cool aussieht? Wie oft habe ich erfreuliche Momente mit den Worten "YEAH BITCH!" kommentiert, weil sie Jesse Pinkman in Breaking Bad so charismatisch brüllt? Die Figuren wurden zu treuen Begleitern meiner eigenen Lebensepisoden. Doch egal wie cool meine fiktiven Freunde auch rauchen, im Moment werden sie immer mehr zum Beweis, wie sehr ich mit ihnen mein Leben verschwende.

Seitdem ich meine Dosis packender Serienmomente im Dauertakt bekomme, stumpfe ich emotional ab. Ich werde zum verbitterten Serienveteran. Unverhoffte Wendungen, spektakuläre Kamerafahrten oder witzige Dialoge nehme ich nur noch als Randnotiz wahr, sie entlocken mir maximal ein Schmunzeln, aber keinen Heulkrampf mehr. Meine einstigen Freunde und Lieblinge werden zu flüchtigen Bekanntschaften, an denen ich vorbeirausche.

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Auch das gemeinsame Glotzen mit echten Freunden gibt mir nicht mehr viel. Den ersten Wutanfall bekomme ich bei der gemeinsamen Wahl des Streifens: Das zieht sich meistens über eine halbe Stunde hinweg. Beim Durchklicken des unendlichen Angebots fallen nur vereinzelt Kommentare, mit erbarmungsloser Gleichgültigkeit vorgetragen:

"Bin ich erst bei Staffel 11, sorry."

"Können wir nicht was Lustiges gucken?"

"Christian Bale ist so ein verdammt guter Schauspieler."

Früher nervten uns Berufsberater in der Schule, heute bräuchten wir Streamingberater. Als wir noch DVDs hatten, wurde wenigstens noch geschaut, was auf den Tisch kam, auch wenn es sich um den hundertsten Highschool-Streifen handelte.

Die liebevoll gestalteten Intros sollen mich wieder entzücken und nicht das Verlangen wecken, genervt auf "Überspringen" zu klicken.

Wenn wir uns doch einigen, vergammeln wir gemeinsam über Stunden hinweg auf dem Sofa. Nach wenigen Folgen vergeht die Schaulust, aber wir lassen die Serie weiterlaufen, weil wir wissen, dass wir uns sowieso nichts zu sagen haben. Wir bleiben einsam, obwohl uns die Fiktion doch vereinen soll. Wer noch nicht eingeschlafen ist oder am Handy spielt, schlurft irgendwann träge nach Hause.

Diese Trägheit kann man wissenschaftlich erklären. Manche Psychologen weisen darauf hin, dass beim Serienschauen ähnliche hormonelle Prozesse wie beim Konsum von Kokain ablaufen: Sehen wir eine spannende Folge, schüttet unser Körper Dopamin aus, wir fühlen uns wohl und wollen mehr. Ist der Exzess vorbei, verabschiedet sich das Glückshormon und die Depression tritt ein. Wir bekommen einen Schaukater. Dabei soll das Streaming am Sonntag doch eigentlich dazu dienen, unsere Katerdepression zu verdrängen.

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Klar ist: Es muss sich was ändern, damit der Kater nicht noch schlimmer wird. Doch ich will nicht der Typ sein, der all seine Abos kündigt und feierlich verkündet, dass er sich selbst "Detox" verhängt hat.

Doch ein wenig Enthaltsamkeit werde ich mir verschreiben müssen, wenn ich mit den verflossenen Liebschaften um Jesse Pinkman & Co. wieder anbandeln will. Ich möchte die Couch wieder zum Kinosessel machen, den Serienabend zum verbindenden Ritual, zur Zeremonie. Die liebevoll gestalteten Intros sollen mich wieder entzücken und nicht das Verlangen wecken, genervt auf "Überspringen" zu klicken.

Um das zu erreichen, muss ich aufstehen. Der Endlosschleife der Lethargie ein Ende bereiten und die Jalousien hochziehen. Vielleicht werfe ich nicht den Fernseher aus dem Fenster, aber zumindest auch mal die Frisbee durch den Park. Nur so kann ich es schaffen, Serien wieder zu lieben.

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