Senioren auf der Straße und in öffentlichen Verkehrsmittel
Fotos: Giorgia Imbrenda
Menschen

Italien: Warum alte Menschen trotz Corona vor die Tür gehen

"Ich bin auf der Toilette!", sagte meine Großmutter, als ich sie anrief. Im Hintergrund hörte ich Verkehrslärm.
Giorgia Cannarella
Bologna, IT

Vor ein paar Tagen hat mir meine Mutter ein richtiges Boomer-Selfie geschickt – falscher Winkel, komplett unscharf. Sie wollte mir ihre neue Arbeitskleidung zeigen, bestehend aus Atemschutzmaske und selbstgebasteltem Polizeiknüppel aus Packpapier und doppelseitigem Klebeband. Meine Mutter arbeitet bei der Post einer italienischen Kleinstadt, nicht weit von Bologna entfernt. In den vergangenen Tagen hatte sie immer wieder mit Horden älterer Menschen zu kämpfen, die sich vor dem Eingang versammelt hatten, bevor die Filiale überhaupt geöffnet hatte. Der Schlagstock war natürlich ein Witz.

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In ganz Italien gilt seit dem 11. März eine Ausgangssperre. Menschen dürfen ihre Wohnungen und Häuser nur noch für das Nötigste verlassen – etwa zum Einkaufen oder um mit dem Hund Gassi zu gehen. Diese strengen Maßnahmen wurden vor allem beschlossen, um die ältere Bevölkerung zu schützen. Immerhin ist Italien nach Japan das Land mit dem weltweit größten Anteil älterer Menschen in der Bevölkerung – auch ein Grund für die hohe Sterberate unter Corona-Patienten. Andererseits scheinen sich aber gerade ältere Menschen in Italien besonders wenig Sorgen um das Virus zu machen.


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Vor Corona arbeitete meine Mutter am Schalter von BancoPosta, eine Abteilung der italienischen Post, die Finanzdienstleistungen anbietet. Jetzt ist es ihr Job, bewaffnet mit einem Arsenal aus Atemmasken und Desinfektionsmittel vor der Filiale zu stehen und Menschen zu fragen, ob sie wirklich rein müssen. Zusätzlich achtet sie darauf, dass der Mindestabstand von mindestens einem Meter eingehalten wird. Ein paar Mal musste sie bereits die Polizei rufen, weil Einzelne sich nicht an die Regeln halten wollten.

Viele der Dinge, für die die Seniorinnen und Senioren zur Post kommen, online oder am Briefkasten machbar. Aber in Italien klafft eine besonders große Lücke zwischen den Generationen und viele ältere Menschen haben wenig Ahnung vom Internet.

Leider gibt es auch immer wieder Beiträge in sozialen Netzwerken, die Seniorentreffs in Parks, im Supermarkt oder einfach auf der Straße zeigen. Meine Mutter kennt einige der Stammkundinnen und -kunden ihrer Filiale seit Jahren und hat versucht, sie mit Argumenten zu überzeugen. Ihre Antworten reichten von "Ich bin doch nicht krank, was ist das Problem?" zu "Wen interessiert, ob ich sterbe?".

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"Sie haben schon andere Epidemien durchlebt"

Natürlich gibt es auch unter den Älteren vernünftige Menschen. Die knapp 70-jährige Maria Cristina hat sich zum Beispiel mit ihrem Mann in Selbstquarantäne begeben, bevor die Regierung das landesweite Ausgehverbot verhängte. Sie hat ein Herzleiden und erholt sich gerade von einer Operation. Sie will kein Risiko eingehen. "Wir haben alle Vorräte, die wir brauchen", sagt sie. "Ich glaube, wir können uns drei Monate lang problemlos selbst versorgen."

Seit Beginn ihrer Quarantäne unterhält sich Maria Cristina mit ihren Nachbarn über den Balkon, tauscht Rezepte aus. "Ich blicke auf meine blühenden Gerberas in der Sonne und schon geht es mir gut", sagt sie. "Nur nachts bekomme ich etwas Angst, wenn alles so still wird." Ihrer Schwester gehe es hingegen nicht so gut. "Sie weint und weigert sich zu akzeptieren, dass sie zu Hause bleiben muss", sagt Maria Cristina. Ihr Tipp gegen die Einsamkeit ist, mit Angehörigen zu sprechen, von denen man sonst nicht viel hört: "Die Tanten, die gerade ein bisschen durchdrehen.”

Norma ist die Großmutter meiner Freundin Benedetta und 94 Jahre alt. Sie lebt zusammen mit ihrer Tochter auf dem Land. Angst vor dem Coronavirus hat sie nicht: "In meinem Alter, was bringt das?" Sie vermisse allerdings die gemeinsamen Familienessen und die Besuche ihrer Enkelkinder. Ohne sie, sagt Norma, sei es, als würde sie ihre Tage vergeuden. Aber Gesetz sei Gesetz und sie werde sich daran halten.

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Psychotherapeut Lorenzo Gherli aus Bologna hat eine Erklärung dafür, warum sich gerade ältere Mitmenschen so wenig an die Beschränkungen halten. "Viele von ihnen sind verwitwet oder haben Freunde sterben sehen", erklärt er. "Sie haben schon andere Epidemien durchlebt, aber mit weniger Medienberichterstattung. Sie vergleichen damals und heute und fragen sich, warum sie auf so viele Dinge verzichten sollen, nur wegen eines Virus." Außerdem seien sie in einer Zeit aufgewachsen, in der der Tod in der Gesellschaft noch akzeptierter und normalisierter gewesen sei.

Die Versorgung ist nicht das Problem, sondern die Einsamkeit

Ältere Menschen ohne Partner oder Familienangehörige trifft die Corona-Quarantäne umso härter. Zwar werden sie von einigen Hilfsgruppen mit Lebensmitteln versorgt, aber das Problem reicht weit über die Vorratskammer hinaus.

Meine eigene Großmutter ist 82 und lebt alleine. Bei ihrer täglichen Runde plaudert sie mit ihren Freundinnen und Freunden am Marktplatz, kauft im Supermarkt ein und schaut bei meiner Mutter vorbei. Diese Gewohnheit hilft ihr dabei, körperlich und mental gesund zu bleiben. Vor allem Letzteres war in vergangener Zeit schwierig, weil sie unter schweren depressiven Episoden litt.

Nach dem Inkrafttreten der Beschränkungen ging meine Großmutter immer noch aus dem Haus. Egal, was meine Eltern sagten. Am 11. März rief ich sie auf dem Festnetz an. Keine Antwort. Also probierte ich es auf ihrem Handy. Sie nahm ab: "Ich bin auf der Toilette!" Im Hintergrund konnte ich deutlich Verkehrslärm hören. Sie gab zu, dass sie gerade auf dem Weg in den Park sei. "Ich wollte ein paar Menschen sehen. Mit Sicherheitsabstand, keine Angst!"

Als die Regierung in der gleichen Nacht die Notstandsverordnung beschloss, willigte meine Großmutter schließlich ein, zu Hause zu bleiben und sich Lebensmittel liefern zu lassen. Sie versteht allerdings immer noch nicht, warum ich und meine Mutter sie nicht besuchen kommen. Inmitten der Coronakrise unnötig aus dem Haus zu gehen, mag irrational und unverantwortlich sein. Zu viel Zeit alleine in der eigenen Wohnung kann allerdings jeden in den Wahnsinn treiben.

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