Politik

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder: Was in der Diskussion richtig schief läuft

30.000 Spuren im Missbrauchskomplex von Bergisch-Gladbach zeigen, dass es nichts bringt, nur reflexartig härtere Strafen zu fordern. Aber es gibt Vorschläge, die helfen könnten.
Ein Messenger-Chat auf einem Handy, der Cybergrooming darstellt
Bild: imago images | Sven Ellger

Keiner hört das gern, aber: Deutschland hat ein riesiges Problem mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Die Fälle werden immer mehr und verlagern sich ins Netz, obwohl die Kriminalität allgemein zurückgeht. 2019 gab es in Deutschland knapp 12.300 registrierte Fälle der Verbreitung von Vergewaltigungs-Videos und Bildern. Das ist ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr von 65 Prozent – und die Dunkelziffer dürfte noch viel höher liegen.

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Nach Lügde und Bergisch-Gladbach ist in Münster der dritte große Missbrauchskomplex der vergangenen Monate in Nordrhein-Westfalen aufgedeckt worden. Die Täter fühlen sich sicher und vernetzen sich in riesigen Chatgruppen. Darin plaudern sie sorglos über brutalste Verbrechen an Kindern. "Es sind auch Leute krank geworden, die nur die Berichte gelesen haben", sagt der Ermittlungsleiter Michael Esser. Die Dimensionen in Bergisch-Gladbach-Fall sind gigantisch: Zuletzt sprachen die Ermittler von 30.000 Spuren. Jetzt gibt es ein erstes Urteil.

Zehn Jahre Knast und danach Sicherungsverwahrung in einer Psychiatrie: Das hat Signalwirkung – aber den vergewaltigten Kindern hilft es überhaupt nicht.

Klar: Wir sind uns alle einig, dass das Ausmaß dieser Gewalt schrecklich ist und etwas dagegen unternommen werden muss. Aber die Diskussion um eine Lösung nervt. Sie ist von alten Reflexen und autoritären Gelüsten geprägt.

Hört auf, die Taten zu exotisieren

Wenn selbst die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht von "monströsen Fällen" spricht, dann exotisiert sie Verbrechen, die ganz offensichtlich in der Gesellschaft viel verbreiteter sind als gedacht. Dass man sich davon distanzieren will, ist nur allzu verständlich. Aber trotzdem sind es leider keine Monster, sondern Nachbarn, Kolleginnen, Verwandte, die diese Taten mitten in Deutschland begehen. Und je schneller wir das kapieren, umso besser.

Öffentlichkeitswirksames Wegsperren kann keine Lösung sein. Man muss eher versuchen, Therapieangebote niedrigschwellig zu gestalten und von Tabus zu befreien, damit sich Pädophile Hilfe suchen, statt in Scham zu versinken – und vielleicht in Online-Communities aufgefangen werden, in denen Gewalt gegen Kinder als total OK empfunden wird.

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Es gibt zum Beispiel das Netzwerk "Kein Täter werden", an das sich bundesweit seit 2005 ungefähr 12.140 Personen gewendet haben. Das ist gut, aber noch zu wenig. Kein Mensch sucht sich die Neigung Pädophilie aus. Was man sich dagegen aussucht, ist, diese Neigung zu managen. Sich ihr zu stellen, ist unglaublich mutig. Es heißt, dass da jemand Verantwortung übernimmt, statt in irgendwelchen abgründigen Messenger-Gruppen zu versumpfen, in denen man sich – das zeigt Bergisch-Gladbach auch – gegenseitig bestärkt und darüber diskutiert, mit welchen Drogen man Kinder am besten betäuben kann, um sie gefügig zu machen.

Können wir bitte den netzpolitischen Zombie Vorratsdatenspeicherung im Schrank lassen?

Die Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung ist fast so alt wie das Internet selbst. Seit den 90er Jahren wird in schöner Regelmäßigkeit diskutiert, wie lange Internetanbieter in Deutschland alle Verkehrsdaten aufheben dürfen. Aus Ermittler-Perspektive kann man die Forderung schon nachvollziehen. Denn in den USA haben sich sämtliche Diensteanbieter, also zum Beispiel Yahoo! und Facebook verpflichtet, ihre Cloudspeicher nach bekanntem Missbrauchsmaterial zu scannen. Alle Verdachtsfälle gehen an eine Zentralstelle, die NCMEC, die die Hinweise dann an Polizeidienststellen auf der ganzen Welt weitergibt.

Auch beim BKA gehen jährlich tausende Hinweise auf solche Bilder ein. Nur: Ermitteln kann man die Täter dahinter meistens nicht mehr, beschwert sich BKA-Chef Holger Münch bei jeder sich bietenden Gelegenheit, weil unsere Provider in Deutschland die IP-Adressen von Internetnutzern nur ein paar Tage oder Wochen speichern. Seine und Horst Seehofers Patentlösung: Die Vorratsdatenspeicherung muss her. Aber gegen die laufen Netzaktivisten zu Recht seit Jahren Sturm, weil sie anlasslos alle Daten aller Internetnutzerinnen speichern würde. Das Potential zum Missbrauch dieser Daten – und hier passt der Begriff Missbrauch schon besser – kann man tatsächlich kaum abschätzen.

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Außerdem würde Vorratsdatenspeicherung oft gar nichts bringen. Es stimmt zwar, dass sich manche Täter so sicher fühlen, dass sie sich von ihrem Rechner zu Hause aus einloggen, um sich an Kinder ranzuwanzen. Doch im Fall von Bergisch-Gladbach und Münster haben die Täter auf Privatsphäre fokussierte Messengerdienste wie Telegram benutzt, um sich auszutauschen. Bei großen Darknet-Fällen wie bei der aus Deutschland betriebenen Plattform Elysium verschleiern die Täter ihren Standort über den Tor-Browser oder setzen Websites auf, deren Server irgendwo anders auf der Welt stehen.

Der Reflex nach härteren Strafen bringt uns keinen Meter weiter

Erst forderte NRWs Innenminister Reul härtere Strafen für sexualisierte Gewalt gegen Kinder, dann zog auch der Bundesinnenminister reflexhaft nach. "Wir müssen uns als Politiker dazu bekennen, die Mindeststrafe zu erhöhen", sagte Horst Seehofer und weiter: Hohe Strafen hätten eine "bewusstseinsbildende Wirkung". Welches Bewusstsein da genau gebildet werden soll, verschweigt Seehofer.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht war erst dagegen und dann dafür. Kürzlich hat sie ein Reformpaket vorgestellt, mit dem die Mindeststrafen von sechs Monaten auf ein Jahr angehoben werden würden. Die Frage ist nur: Wen soll das abschrecken? Glauben Politiker wirklich, dass irgendeiner der Täter die Finger von der Tastatur oder den Kindern gelassen hätte – weil sie sich erinnern, dass es ja jetzt längere Haftstrafen dafür gibt, Kinder zu erpressen, sie zu vergewaltigen und dann Videoclips davon zu verschicken?

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Man muss woanders ansetzen: Diese härteren Strafen bringen nichts, solange Täter nicht fürchten, verfolgt und erwischt zu werden. Kriminologen haben Recht, wenn sie sagen, dass man mehr Personal in den sozialen Netzwerken und auf Chatplattformen braucht, damit sich die Täter nicht mehr so sicher fühlen.

Eltern, setzt euch an die Konsolen!

In die richtige Richtung gehen technische Ansätze und Ideen wie das neue, verschärfte Gesetz zum Cybergrooming: Verdeckte Ermittler dürfen sich jetzt auch im Netz als Kinder und Jugendliche tarnen und mitchatten. Wer darauf anspringt, zum Beispiel Nacktbilder von ihnen verlangt oder versucht, sie zu einem Treffen zu überreden, macht sich strafbar.

Eine neue Elterngeneration, die mit dem Internet selbst groß geworden ist, kann Kindern auch leichter erklären, dass sich hinter "Jacqueline14" im Chat eben auch easy ein 57-jähriger Uwe verbergen kann. Bis dahin müssen sich Eltern aber auch selbst ein bisschen mehr mit Gaming, TikTok und Snapchat beschäftigen, statt das alles nur als komische neue Technik zu verbuchen. Der Cyberkriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger drückt es so aus: "Wenn eine Mutter bei Instagram unerwünscht ein strafbares Dick Pic erhält, kann sie über dieses Risiko viel glaubwürdiger mit ihrem Kinder reden, als wenn sie sagt, ich habe da mal gehört, dass es sowas geben soll".

Damit werden sie zum Ansprechpartner ihrer Kinder – statt umgekehrt.

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Wenn Kinder aber nicht mit ihren Eltern über irgendwas reden können, was ihnen gerade im Netz passiert ist, müssen externe Angebote besser ausgestattet werden. Schon seit Jahren beklagen Kinderschutzvereine, dass psychologische Beratungsangebote komplett unterbesetzt sind und dass Kinder oft gar nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen. Dabei gibt es zumindest eine ziemlich günstige Möglichkeit, um die Hilfsangebote besser zu koordinieren: Eine einheitliche und möglichst einfache bundesweite Hilfe-Telefonnummer, hinter der Leute sitzen, denen man nicht erst das Internet erklären muss. Die könnte man großflächig in Bussen und an Straßenecken plakatieren. Vielleicht könnten so die Infos über einen lokalen Brennpunkt für sexualisierte Gewalt nicht einfach versanden, sondern früher erkannt werden.

Apropos Psychologie-Ausbildung: Kinder- und Jugendrichter sollen in Lambrechts Reformpaket psychologische Grundkenntnisse beigebracht bekommen, um mit den Überlebenden von sexualisierter Gewalt sensibel umgehen zu können. Klingt gut, aber: Ist es nicht verrückt, dass das nicht sowieso zur Grundausbildung gehört?

Wir brauchen also eine Mischung aus technischer Expertise, Personal und psychologischer Betreuung, um Kinder wirklich zu schützen. Man kann sich bei den Ermittlungen eben nicht immer darauf verlassen, dass die Tatverdächtigen ein bisschen dumm sind: Im Missbrauchskomplex in Münster konnten die Ermittler den Laptop des Tatverdächtigen Adrian V. mit technischen Mitteln nämlich nicht knacken – bis sie das Passwort am Ende einfach errieten.

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