Sex

Als Tom of Finland unser Bild von schwuler Sexualität revolutionierte

Als Stalin während des Zweiten Weltkriegs in Finnland einmarschierte, musste auch Touko Laaksonen zur Armee. Der junge Kunststudent, damals Anfang 20, nutzte die Kriegswirren jedoch, um in den dunklen Gassen Helsinkis heimlich erste sexuelle Erfahrungen mit Männern zu sammeln. Zuerst mit den sowjetischen Soldaten, später mit deutschen. Die Nazi-Ideologie verabscheute er zwar, aber die Uniformen der Wehrmacht zogen ihn an. Mit dem Ende des Krieges kam auch das Ende der sexuellen Abenteuer und Laaksonen ging zurück an die Uni. Abgesehen von gelegentlichen Cruising-Erfahrungen lebte er seine Sehnsüchte wieder weitestgehend an seinem Zeichenblock aus – nackt und mit einem Stift in jeder Hand.

Laaksonen kam 1920 im ländlichen Finnland zur Welt. Früh zeigte sich sein künstlerisches Talent und seine Eltern, ein Lehrerehepaar, unterstützten ihn bei seinen akademischen und kreativen Plänen. Der junge Laaksonen, der umgeben von Kunst und Kultur aufwuchs, soll fasziniert die muskulösen Jungs der benachbarten Bauernhöfe bei der Arbeit beobachtet haben. Als er 1939 zum Kunststudium nach Helsinki zog, kam er mit urbaneren und kosmopolitischeren Ausdrucksformen von Männlichkeit in Kontakt. Bauarbeiter, Matrosen und Biker tauchten immer wieder in seinen Zeichnungen auf.

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Links: Tom Of Finland, Untitled, 1947 || Rechts: Tom of Finland, Untitled (Aus Kake vol. 20 – Pleasure Park), 1977 | Mit freundlicher Genehmigung der Tom of Finland Foundation und David Kordansky Gallery, Los Angeles, Kalifornien

1956 sandte er schließlich das Bild eines muskulösen Holzfällers mit üppig ausstaffiertem Schritt an das US-Magazin Physique Pictorial – einer Zeitschrift, die sich als Sport- und Fitness-Publikation präsentierte, um die Zensur und die schwulenfeindliche Gesetzgebung der 50er Jahre zu umgehen. Um seine Identität zu schützen, signierte Laaksonen sein Werk lediglich mit “Tom”. Als die Zeichnung auf dem Cover der Frühlingsausgabe 1957 landete, änderten die Redakteure den Namen zu “Tom of Finland”. Eine Ikone war geboren.

Die sogenannte Beefcake-Kunst der 50er und 60er, wie sie auch in Physique Pictorial zu sehen war, konzentrierte sich auf die Darstellung durchtrainierter Männerkörper. Manchmal standen mehrere Models in unmittelbarer Nähe zueinander, sexuelle Handlungen sah man aber nie. “Tom hatte erkannt, dass viele Darstellungen in der queeren Kultur Beefcake waren, also Muskelprotze”, sagt S.R. Sharp, Vizepräsident der Tom of Finland Foundation, zu VICE.

“Wir waren lediglich Voyeure, die sich Models anguckten, über die wir nichts wussten. Waren sie einfach nur Models? Waren sie schwul? Waren sie hetero? Verdienten sie damit ihr Geld? Wir waren bloß Voyeure, die auf Muskelprotze starrten. Tom wollte das ändern und Beefcake in die Kunst bringen”, so Sharp weiter.

Links: Tom of Finland, Tom’s Finnish Tango, 1947 || Rechts: Tom of Finland, Untitled (Portrait of Pekka), 1975 | Mit freundlicher Genehmigung der Tom of Finland Foundation und David Kordansky Gallery, Los Angeles, Kalifornien

Obwohl viele von Toms frühen Arbeiten keinen Sex zeigen, interagieren seine Charaktere miteinander und schauen sich lüstern an. Gerade die lustvollen Blicke wurden zu einem Erkennungsmerkmal des Genres. “Wenn du Toms Figuren gesehen hast – selbst die, die Mitte der 50er noch vollbekleidet waren –, wusstest du, dass sie diesen ‘Blick’ hatten”, sagt Sharp. “Sie hatten diese bestimmte Art, auf die sie sich anschauten – wie ihre Blicke einander musterten –, dass du sofort wusstest: Die sind wirklich queer.”

Mit zunehmender Bekanntheit veröffentlichte Laaksonen Arbeiten, die subtil die Grenzen des Erlaubten ausloteten. Privat erschuf er für Auftraggeber auch explizitere Bilder. Erst Mitte der 70er wurde Tom of Finland berühmt für seine eindeutigen, beinahe fotorealistischen Darstellungen von muskulösen Männern beim Sex. Dieser Wechsel sollte dabei helfen, die Mainstream-Wahrnehmung von schwulem Sex fundamental zu verändern.


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Tom of Finland hatte ein einzigartiges Talent dafür, gleichgeschlechtliches Begehren und sexuelle Spannung zeichnerisch darzustellen. Aber es gab auch andere Künstler, die sich auf einem ähnlichen Terrain bewegten. Einer von ihnen war Roland Caillaux, ein französischer Schauspieler und Künstler, der zehn Jahre vor Tom of Finlands Erfolg ähnliche Werke erschaffen hatte. Seine Matrosen und halbnackten Männer sind zwar schlanker als Laaksonens Hünen, aber auch sie tauschen lüsterne Blicke aus, befummeln sich und haben Sex. Nicht zuletzt auch dank seiner amerikanischen Unterstützter gelangte Tom of Finland zu größerer Bekanntheit und erschuf bei seinen Betrachtern ein Verbundenheitsgefühl.

“Sie sind so gemacht, dass du eine Verbindung zu ihnen ziehen kannst. Selbst wenn du 15 warst, in einer Kleinstadt gelebt hast und nicht wusstest, als was du dich identifizieren sollst, wusstest du, dass da zwischen dir und den Typen auf dem Papier eine Gemeinsamkeit bestand”, erklärt Sharp. Dieser Wiedererkennungswert übertrug sich im echten Leben auf die zunehmend sichtbar werdende Queer-Community und half dabei, die Blaupause für die Leder- und Fetisch-Szenen zu liefern, die zu dieser Zeit entstanden.

Links: Tom Of Finland, Untitled, 1959 || Rechts: Tom of Finland, Untitled (aus der Serie “Motorcycle Thief”), 1964 | Mit freundlicher Genehmigung der Tom of Finland Foundation und David Kordansky Gallery, Los Angeles, Kalifornien

In den 1970ern verwendeten Männer seine Werke, um Situationen nachzustellen, die Laaksonen während der Kriegszeit erlebt hatte – man fand sich gegenseitig in verrufenen Bars, Gassen und an Cruisingorten auf der ganzen Welt. Manche zogen sich wie Figuren aus Tom-of-Finland-Bildern an und gründeten “Motorradclubs ohne Motorräder”. Das waren die Anfänge der schwulen Lederszene.

Neben Generationen homosexueller Männer beeinflusste Toms Werk auch Generationen von Künstlern. Laaksonen verbrachte ab 1978 immer mehr Zeit in den USA und freundete sich mit Künstlern wie Etienne und Robert Mapplethorpe an, die er auch gerne zu privaten Besichtigungen seiner Werke zu sich nach Hause einlud. Gelegenheiten, seine Kunst öffentlich auszustellen, waren dort immer noch rar. “Ich würde sagen, dass Tom ihnen in gewisser Weise die Genehmigung erteilte, erotische Darstellungen als Teil ihrer künstlerischen Praxis zu verwenden”, sagt Sharp. “Durch ihn bekamen sie den Eindruck, dass sie ihr Handeln beobachten konnten, dass sie Sexualität in ihre Arbeit einfließen lassen konnten.”

Ihre Kunst veränderte die visuelle Ästhetik queerer Kultur. Sie zeigten ihre Arbeiten nicht nur in Magazinen und später Galerien, sondern fertigten Grafiken und Illustrationen für einflussreiche Fetischclubs wie Mineshaft und The Lure an, für schwule Badehäuser und eine Reihe anderer queerer Institutionen. Und Toms Einfluss hält sich bis heute, wie man an Büchern wie Mein schwules Auge sieht, das zeitgenössische Arbeiten von Künstlern wie Gio Black Peter enthält. Dieser hat vor Kurzem erst dabei geholfen, die künstlerische Ausrichtung für die legendäre New Yorker Fetischveranstaltung The Black Party zu konzipieren.

Links: Laaksonen und sein Förderer Durk Dehner bei einem Fundraiser für die Foundation im Eagle in San Francisco, 1985 | Foto: Robert Pruzan || Rechts: Lederjacken im TOM House, Los Angeles | Foto: Martyn Thompson | Aus dem Buch TOM HOUSE, erschienen bei Rizzoli

Aktuell widmet sich eine Ausstellung am Museum of Contemporary Art Detroit (MOCAD) Tom of Finlands Lebenswerk und Erbe. Die Schau wird in Mike Kelley’s Mobile Homestead gezeigt, einem Nachbau des Elternhauses des 2012 verstorbenen Künstlers Mike Kelley. Das eingeschossige Ranch-Haus wurde so umgebaut, dass es wie das TOM House in Echo Park, Los Angeles, aussieht. Dort hatte Laaksonen in den letzten zehn Jahren seines Lebens jeweils sechs Monate verbracht und sich mit anderen queeren Künstlern getroffen.

Innenansicht des TOM House, Los Angeles | Foto: Martyn Thompson | Aus dem Buch TOM HOUSE, erschienen bei Rizzoli

Am MOCAD hängen Tom of Finlands Bilder neben Werken von Mapplethorpe, Raymond Pettibon, John Waters und anderen Zeitgenossen. Da Laaksonens Arbeiten oft eine Verschmelzung aus Fantasie und Männern waren, die er wirklich getroffen hatte, sind dort neben ausgearbeiteten Zeichnungen auch Skizzen und Vorlagen zu sehen. Ein Gang zeigt seine Pleasure Park-Serie, in der Kake, eine von Toms wiederkehrenden Figuren, einen Cruising-Ausflug in den Wald macht. Natürlich endet dieser in einer Orgie. In der Garage stehen vier Vitrinen mit Fundstücken wie einem Flyer von 1999 für die queere Punkband Limp Wrist, auf dem eine von Laaksonens Illustrationen prangt.

“Tom of Finlands Kunst kann Leben verändern. Sie kann Menschen das Gefühl geben, wichtig zu sein, wie sie sind”, sagt Elysia Borowy-Reeder, verantwortliche Direktorin des MOCAD. “Darin liegt eine wichtige politische Message, insbesondere heute.”

Tom Laaksonens Werk war zweifelsohne prägend – nicht nur für queere Künstler und die homosexuelle Gemeinschaft, sondern auch für Außenseiter verschiedenster Bereiche. Vor allem verhalf er queeren Männern zu einer Sichtbarkeit, wie sie es in der Kunst bis dahin nicht gegeben hatte. Viel mehr noch waren seine Bilder ein Plädoyer für queeren Sex in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen, das der herrschenden Politik total widersprach. Tom of Finland veränderte für immer, wie die Gesellschaft schwule Sexualität betrachtete.

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